Neue Denkansätze?
Inhalt
Vorbemerkungen
Am Beginn meiner privaten Expedition
in noch unerforschte Gebiete des Christentums entschied ich mich
für zwei Leitgedanken, die mich auf dieser Reise ins Ungewisse
begleiten sollten (s. hier). Der eine,
"Notwendige Abschiede – auf dem Weg zu einem
glaubwürdigen Christentum", verblasste unterwegs zusehends und
verlor schon bald die ihm zugedachte Leitfunktion.
Ich habe, wie sich leicht
feststellen lässt, intensiv in fremdem Gedankengut gewildert.
Es finden sich auf dieser Website aber auch eigene Gedanken. Der zweite
Leitgedanke, "Nein danke, ich denke selber!", hat seine Aufgabe also
erfüllt, und er wird mich auch weiterhin begleiten.
Während ich diese Zeilen niederschreibe, erinnere ich mich an
ein Wort des französischen Philosophen André
Comte-Sponville (*1952), das mir in diesem
Zusammenhang als sehr plausibel erscheint:
"Doch man besitzt immer nur, was
man erhalten und verarbeitet hat, was man durch andere und gegen sie
geworden ist."
Anfangs stellte ich mir vor, der
Kreis würde sich auf der letzten Etappe meiner Expedition
schließen und zwar durch neue Denkansätze,
die ich in der einschlägigen Literatur zu finden hoffte: Neue
Denkansätze, die geeignet wären, die
Zukunftsfähigkeit des Christentums zu verbessern und damit
sein Überleben zu sichern. Heute stelle ich fest, dass es
für mich nicht mehr nur um "Notwendige Abschiede" von Teilaspekten
des Christentums geht, sondern um den Abschied vom Christentum selbst.
Anders ausgedrückt: Daran mitzuwirken, wenn auch nur in sehr
bescheidenem Maße, den Niedergang des (organisierten)
Christentums durch geeignete Reformen zu stoppen, ist für mich
kein erstrebenswertes Ziel mehr.
Ich maße mir nicht an,
hier eigene neue Denkansätze zu
präsentieren. Wie in anderen Teilen dieser Website will ich
auch hier versuchen, in der einschlägigen Literatur
aufgespürtes Gedankengut skizzenhaft darzustellen. Dabei ist
mir bewusst, dass es nur für diejenigen, die sich bisher noch
nicht sehr intensiv mit dem Christentum – oder
möglichen weltanschaulichen Alternativen dazu –
befasst haben, um neue Denkansätze
handelt: Sie wurden meist schon vor Längerem erdacht und
lassen sich frei zugänglichen Quellen entnehmen. Und ich bin
mir auch der Tatsache bewusst, dass es sich hier lediglich um eine
begrenzte, subjektive Auswahl und Darstellung handelt.
Am Schluss der Vorbemerkungen
zum Hauptmenüpunkt Historisches
hatte ich einige Fragen aufgeworfen, auf die sich vielleicht, wie ich
hoffte, im Zuge meiner weiteren Recherchen Antworten ergeben
würden. Die Fragen (die richtigen Fragen?) zielten auf zu
schaffende Voraussetzungen für mögliche
Reformansätze, die geeignet wären, dem Christentum
eine Zukunft zu geben. Dass mir die Antworten auf diese Fragen nicht
mehr so wichtig sind, dürfte mittlerweile klar geworden sein.
Dennoch hätte ich nichts dagegen, wenn sich, für
interessierte Leserinnen und Leser, aus dem folgenden Abschnitt Neue
Denkansätze zur Reform des Christentums, zumindest
ansatzweise, brauchbare Antworten ableiten ließen.
Es mag sehr verwundern, dass ich
hier überhaupt noch das Christentum und seine Kirchen
betreffende Reformansätze anspreche. Ich tue dies aus zwei
Gründen:
- Die im
übernächsten Abschnitt kurz angerissenen Neuen
Denkansätze für "Ungläubige" werden
sich, aller Voraussicht nach, leider nur langsam durchsetzen. Daher
fände ich es begrüßenswert, wenn parallel
zu diesem säkularen Entwicklungsprozess christentums- und
kircheninterne Reformen vorangetrieben würden, z. B. durch
"notwendige Abschiede" von allzu archaischen Glaubensmeinungen.
- Darüber hinaus macht es
grundsätzlich Sinn zu wissen, was sich im Bereich des
organisierten Christentums tut. Dies ist eine wichtige Voraussetzung
für die Aufrechterhaltung der
Gesprächsfähigkeit zwischen gesellschaftlichen
Gruppen unterschiedlicher weltanschaulicher Prägungen.
Der Philosoph Joachim Kahl (*1941)
formulierte einmal ein ganz ähnliches Anliegen. Nach seiner
Auffassung gelte es
"…,
auf Zwischentöne zu
achten und Anknüpfungspunkte zu erkennen, damit die
Perspektiven der Koexistenz und der Kooperation nicht verspielt
werden."
Anmerkung
- Das Kahl-Zitat
stammt
aus einem Beitrag zu den EZW-TEXTEN
204/2009.
Neue
Denkansätze zur Reform des Christentums
Dass sich das Christentum und seine
Kirchen in einer ernsthaften Krise
befinden, ist
angesichts der Vielzahl kritischer Bücher und Kommentare aus
Theologie, Philosophie und Literatur der letzten Jahrzehnte nicht zu
übersehen. Erst kürzlich hörte ich ein Wort,
dass
schlaglichtartig die ganze Misere des organisierten Christentums
aufscheinen ließ. Es lautete sinngemäß:
Die
Kirchengebäude sind in Dörfern und Städten
oft zentral
gelegen, aber "im Leben der meisten Menschen sind sie
zur Kulisse ohne Inhalt geworden".
Der Altphilologe Wilhelm Nestle(1865-1959)
sah die Situation des Christentums und seiner Kirchen offenbar schon
ganz
ähnlich, als er in 1947 sein grundlegendes Werk Die
Krisis des Christentums veröffentlichte.
In der Einleitung schreibt er:
"Aber ist denn das Christentum
krank? Ja, es ist krank. Es leidet an einer
schleichenden Krankheit, die in dem sich immer mehr erweiternden
Zwiespalt zwischen seiner religiösen Vorstellungswelt und
seiner geistigen Umwelt besteht."
Und die letzten Sätze
seines Buches lauten:
"Ob und wann eine neue Religion
der Zukunft kommen und welcher Art sie sein wird, wir wissen es nicht.
Das aber wissen wir, dass das geschichtliche
»Christentum« in eine schwere Krisis eingetreten
ist, aus der wir nur herauskommen können, wenn die Christen
wieder ehrliche Menschen werden, alle Heuchelei
und alles Überlebte in der Religion abtun und allein das Wort
des johanneischen Christus erfüllen: »Die Wahrheit
wird euch frei machen«."
Anmerkungen
- Das im letzten Absatz von Nestle
zitierte Bibelwort steht in Jh 8,32.
- Auf das Titelblatt seines Werkes setzte Nestle zwei
Zitate älterer Zeitgenossen, die sich schon vor ihm
über die "Religionskrisis" geäußert hatten.
Das erste Zitat stammt vom Literaturwissenschaftler und Philosophen Friedrich Theodor
Vischer (1807-1887), das zweite vom Theologen und
Kulturphilosophen Ernst Troeltsch
(1865-1923):
"Fossil ist die mythisch
geübte, lebendig die rein ethische Religion."
"Die moderne Welt ist eine
schwere Religionskrisis."
Der Philosoph und (ehemalige)
Theologe Joachim
Kahl (*1941) charakterisierte die Krise des Christentums in
seinem 1968 erschienenen Buch Das
Elend des Christentums so:
"Zwar wäre es zurzeit
verfrüht und zu stark vereinfacht, wollte man formulieren: Das
Christentum ist heute ein Leichnam, der nur noch dank der
künstlichen Sauerstoffzufuhr seitens interessierter Politiker,
Theologen und Kirchenfunktionäre den Anschein von Lebendigkeit
zu erwecken vermag. Dennoch lässt sich der immer
größer werdende Substanz- und Funktionsverlust des
Christentums schwerlich übersehen."
Als Antwort auf die Krise des
Christentums, die sich, rein äußerlich betrachtet,
an leeren Kirchen und an stetig sinkenden Mitgliederzahlen, bei
gleichzeitigem Anwachsen der Zahl der Konfessionsfreien,
überdeutlich zeigt, gibt es entsprechende
Überlegungen und Vorschläge, die dringend notwendige
– strukturelle, vor allem aber inhaltliche –
Reformen zum Ziele haben.
Ich beabsichtige im Folgenden keine
systematische und umfassende Darstellung der vorhandenen
Reformvorschläge auszubreiten. Dazu wäre ich auf der
Basis der vergleichsweise bescheidenen Auswahl der mir vorliegenden
Quellen auch gar nicht in der Lage. Vielmehr werde ich –
weitestgehend unkommentiert – exemplarisch auf den
vergleichsweise aktuellen Reformansatz des Theologen Klaus-Peter Jörns
(*1939) hinweisen, der sich durch Vorschläge konkreter
Maßnahmen auszeichnet. Danach werde ich kurz auf die eher
religions-philosophischen Reformgedanken des Arztes und Theologen Albert Schweitzer
(1875-1965) und auf Denkansätze des Religionssoziologen Peter L. Berger
(*1929) eingehen.
Klaus-Peter
Jörns – "Notwendige Abschiede"
Das Buch Notwendige Abschiede – Auf
dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum
des evangelischen Theologen
Klaus-Peter Jörns
(*1939) gehörte zu den ersten christentums- bzw.
kirchenkritischen Büchern, mit denen ich mich intensiver
befasste. Es war in 2004 erschienen, und ich habe es wohl in 2005
gelesen. Jörns lehrte zuletzt an der Evangelisch-Theologischen
Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. Im Jahre
1999 erfolgte seine Emeritierung. Er gehört also zu jenen
Theologen, die erst im Ruhestand die Zeit fanden sich mit ihrer
Religion intensiver kritisch auseinanderzusetzen
und schließlich auch den Mut aufbrachten, ihre Kritik zu
veröffentlichen.
Wie oben schon festgestellt, ist
Jörns für mich derjenige, der die konkretesten
Vorschläge in den reformorientierten Diskurs innerhalb der
protestantischen Variante des Christentums einbrachte.
Der erste Teil seines Buches
trägt die Überschrift "Beschreibung der Lage". Dessen
letzter Abschnitt ist mit der programmatischen Aussage "Die Grundthese:
Lebendiger Glaube ist sich wandelnder Glaube" überschrieben,
und er endet mit den Sätzen:
"Es sieht so aus, dass auch vieles
vom gut gehüteten Bestand unserer dogmatisierten
Überlieferungen zurückgelassen werden muss, damit
sich der christliche Glaube heute entfalten kann. Unter diesem Aspekt
wird Theologie ganz entschieden konstruktive Arbeit sein
müssen."
"Notwendige Abschiede von
überlieferten Glaubensvorstellungen" lautet die
Überschrift des zweiten Teils seines Buches. Jörns
empfiehlt darin den christlichen Kirchen "Notwendige Abschiede" von Teilaspekten
der tradierten christlichen Lehre. Er kommt dabei auf acht "Abschiede",
denen er jeweils ein eigenes Kapitel widmet (zitiert sind die
Kapitelüberschriften):
"Abschied von der Vorstellung, das
Christentum sei keine Religion wie die anderen Religionen
Abschied von der Vorstellung, die
Bibel sei unabhängig von den Regeln menschlicher Wahrnehmung
entstanden
Abschied von der Vorstellung, ein
einzelner Kanon könne die universale Wahrnehmungsgeschichte
Gottes ersetzen
Abschied von Erwählungs-
und Verwerfungsvorstellungen
Abschied von der Vorstellung einer
wechselseitigen Ebenbildlichkeit von Gott und Menschen
Abschied von der
Herabwürdigung unserer Mitgeschöpfe
Abschied von der Vorstellung, der
Tod sei »der Sünde Sold«
Abschied vom Verständnis
der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen
sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier"
Unter der Überschrift "Auf
dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum" definiert
Jörns dann im dritten Teil seines Buches "Kriterien eines
glaubwürdigen Christentums". Von den insgesamt 19 Kriterien
seien hier exemplarisch folgende zitiert:
"7. Ein glaubwürdiges
Christentum holt Gott heraus aus den antiken Verwicklungen der
Götterwelt in das System von Gewalt und Gegengewalt, in dem
sich menschliches Machtstreben äußert. Gott paktiert
nicht mit tödlicher Gewalt gegen Menschen und Tiere. Deshalb
darf auch die Art, in der Gottes Gegenwart im Gottesdienst gefeiert
wird, nicht an die Hofhaltung antiker Herrscher erinnern. Tiefgreifende
Revisionen liturgischer Texte und der Gesangbücher sind
nötig, die die Herrschaftssprache und ein Menschenbild
entfernen, das ständig eine Sünde- und
Gehorsamskultur reproduziert.
10. Jedes Dogma kann in einem
glaubwürdigen Christentum prinzipiell hinterfragt und
widerrufen werden – trotz aller sinnvollen theologischen
Systematik, die auf Zusammenhänge achtet. Was für die
Dogmatik gilt, gilt für Religionen als Glaubenssysteme auch.
Sie sind »Modelle, an denen der Mensch versucht, sich selbst
und die Welt zu deuten Modelle sind nicht die Wirklichkeit«.
Wenn sich die Weltsicht ändert, können
»auch Religionen den Mut haben, neue Modelle zu kreieren oder
die alten neu zu interpretieren, weil sie sonst den Menschen mehr
verbauen als ihnen einen Weg zu öffnen«.
Entscheidendes Kriterium ist nicht eine absolut gesetzte Wahrheit,
sondern die Authentizität der Wahrnehmungen, auf denen eine
Religion aufbaut.
Anmerkung
Jörns zitiert im vorausgehenden Absatz aus
einem Buch des Benediktinermönchs Willigis Jäger (*1925).
12. Dass das Christentum
für Menschen glaubwürdig ist, hängt davon
ab, wie Kirchen mit Christen umgehen. Wie viel liegt ihnen an der
Mündigkeit und Mitverantwortung? Fragen sie nach heutigen
Gottes- und Glaubenserfahrungen? Wie helfen sie Gläubigen,
ihren Glauben mit Bezug auf ihre Lebenswirklichkeit angemessen
reflektieren zu können? Das schließt heute ein,
über die Grenzen der eigenen Konfession und Religion hinaus
fragen und denken zu lernen. Suchen Theologen das Gespräch mit
Nichttheologen? Räumen sie ihnen dasselbe Recht zu urteilen
ein, das sie für sich selbst in Anspruch nehmen? Ein
glaubwürdiges Christentum zeigt sich darin, dass
Laien-Christen in den Kirchen Mitverantwortung für die Gestalt
ihres Glaubens übernehmen können. Keiner muss sich
einen Glauben als fertiges Gebäude aufdrängen lassen,
als wäre er zeitunabhängig. […].
19. Ein glaubwürdiges
Christentum nimmt ernst, dass Krieg und Frieden in der Geschichte nicht
zuletzt vom Umgang mit religiösen Problemen abhängig
gewesen sind. Darum muss der Staat in Europa schulischen
Religionsunterricht erteilen und dabei vorrangig eine
religiöse Bildung vermitteln, die der pluralistischen
kulturellen Situation gerecht wird. Diese Art von Religionsunterricht
muss Pflichtfach sein, wobei die im Lande vertretenen Religionen sich
darin selbst darstellen können sollen. Die in Deutschland
übliche Bindung des ganzen Religionsunterrichtes an einzelne
Religionsgemeinschaften oder Konfessionen ist dem genannten Ziel eher
hinderlich, zumal sie die Grenzen zum kirchlichen Unterricht verwischt.
Dessen Aufgabe ist es, den zu einer Kirche gehörenden Kindern
die Umrisse und Wurzeln der eigenen Glaubensgemeinschaft zu vermitteln
und mit ihnen zu erarbeiten, was den eigenen Glauben mit anderen
Religionen und Konfessionen verbindet."
Eine "ernüchternde"
Tatsache, die Jörns schon in den einleitenden Kapiteln seines
Buches anspricht, sei abschließend besonders
erwähnt. Er stellt dort fest: "Religionsinterner Pluralismus
kennzeichnet Theologie, Gemeinden und Pfarrerschaft" und "Der von den
Kirchen abgewehrte Pluralismus ist in der Theologie längst
Alltag". Daraus kann man wohl schlussfolgern, dass innerchristlich bzw.
innerkirchlich, neben starken beharrenden Kräften, ganz
unterschiedliche reformwillige Kräfte am Werk sind, die auf
unterschiedlichen Bewusstseinsebenen und mit unterschiedlichen
Geschwindigkeiten unterwegs sind. Diese ziemlich
unübersichtliche Gemengelage macht eine rasche und
flächendeckende Veränderung sicher nicht einfacher.
Das wachsende Segment der
evangelikalen Gruppen ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Reformüberlegungen sind ihnen sicherlich fremd. Und eine sich
verändernde christliche Glaubenswelt um sie herum –
noch weiter weg von ihrer fundamentalistischen Haltung – wird
vermutlich ihr Beharrungsvermögen stärken und, im
schlimmsten Fall, zu ihrer Radikalisierung führen. –
Diese nicht sehr erfreuliche Perspektive wird aber vielleicht dazu
beitragen, dass in Zukunft alle
vernünftigen Kräfte, konfessionsfreie und
konfessionsgebundene, gemeinsam eine mögliche
Rückentwicklung unserer Zivilisation verhindern.
Während einer
Jörns-bezogenen Internet-Recherche, wahrscheinlich in 2005,
stieß ich u. a. auf eine protestantische Kirchengemeinde in
Genf, die auf ihrer Web Site über einen
Gesprächskreis berichtete, der sich mit den von Jörns
vorgeschlagenen "Abschieden" befasste. Ich persönlich besuchte
vor einigen Jahren einen Vortrags- und Diskussionsabend mit Klaus-Peter Jörns
in einer evangelischen Kirchengemeinde in Rüsselsheim. Nach meiner
Wahrnehmung stoßen die von Jörns vertretenen Thesen
und die daraus abgeleiteten Änderungsvorschläge "an
der Basis" durchaus auf Interesse, während die kirchlichen
Hierarchen sie wohl weitgehend ignorieren.
Albert
Schweitzer – "Weltanschauung/Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben" In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts spielte Albert Schweitzer
(1875-1965), nach meiner Erinnerung, im allgemeinen Bewusstsein eine
wichtige Rolle. Der "Arzt von Lambarene"
oder "Der Urwalddoktor" waren gängige Begriffe in den Medien
und in der Umgangssprache. Anfang der 1950er Jahre ging ein Lehrer mit
meiner damaligen Klasse ins Kino. Wir sahen einen Film über
das Leben Albert Schweitzers. Es muss der Spielfilm "Es ist
Mitternacht, Dr. Schweitzer" von 1952 gewesen sein. Ich erinnere mich
auch daran, dass uns einige Jahre später ein Lehrer die Frage
stellte, welche "Vorbilder" wir hätten. Die meisten Nennungen
entfielen auf Albert Schweitzer. Und unser damaliger Musiklehrer
erzählte einmal stolz, er habe als Student Albert Schweitzer
bei einem Orgelkonzert im Straßburger Münster die
Noten umblättern dürfen.
In meinem eigenen Bewusstsein
spielte Albert Schweitzer nach der Schulzeit für einige
Jahrzehnte keine herausgehobene Rolle. Erst durch meine Recherchen im
Zusammenhang mit der Frage nach der Geschichtlichkeit Jesu (s.
hier)
stieß ich – zwangsläufig – auf
das von ihm in 1906 veröffentlichte theologische Standard-Werk
Geschichte
der Leben-Jesu-Forschung. Ich wusste zwar schon
vorher, dass er bereits Theologe war, als er sein Medizinstudium
begann, in meinem Bewusstsein war er aber stets der in Lambarene
praktizierende Mediziner und die Symbolfigur
für aktiv geübte Mitmenschlichkeit. Heute
weiß ich, dass er nicht nur in den Fächern Theologie
und Medizin, sondern auch in Philosophie promoviert hat. Und mir ist
auch wieder bewusst geworden, dass ihm 1952 der Friedensnobelpreis
zuerkannt (und 1953 verliehen) worden war.
Um mehr über Leben und Werk
Schweitzers zu erfahren, las ich seine in 1931 erschienene
autobiografische Schrift Aus
meinem Leben und Denken und kam erstmals mit dem
in Berührung, was Schweitzer selbst die "Ethik der Ehrfurcht
vor dem Leben" oder die "Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben"
nannte. Ich war erstaunt, dass ich bis dahin weder etwas
darüber gelesen noch davon gehört hatte.
Offensichtlich wurde diese von ihm formulierte Idee in der
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, und auch in der mir
verfügbaren theologischen Literatur fand ich keinen Hinweis
darauf. Es mag daran liegen, dass es sich nicht um einen theologischen,
sondern um einen religions-philosophischen Denkansatz handelt.
Ich habe mich nicht intensiv genug
mit Schweitzers Überlegungen befasst, um ein umfassendes Bild
von ihnen vermitteln zu können. Dennoch halte ich sie
für wichtig genug, dass ich den reformorientierten
Kräften in den Kirchen nur empfehlen kann, sich mit ihnen
auseinanderzusetzen.
An dieser Stelle greife ich nochmals
zurück auf die beim Theologen Gerd Theißen (*1943)
gefundenen "drei Ausdrucksformen jeder Religion: Ethos, Ritus und
Mythos". Ich kann über die Intentionen Albert Schweitzers nur
spekulieren, mir scheint jedoch, dass er einen klaren Schwerpunkt beim Ethos
sieht, zu Lasten der beiden anderen Ausdrucksformen
Ritus und Mythos. Und ich habe auch den Eindruck, dass Schweitzer keine
neue Weltanschauung neben das Christentum
stellen, sondern seine "Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben" als
Antriebskraft für die Erneuerung des Christentums verstanden
wissen wollte.
Im Folgenden finden sich einige
Zitate aus dem "Epilog" zu seinen Aufzeichnungen Aus meinem Leben und Denken:
"Verzicht auf Denken ist geistige
Bankrotterklärung.
[…]
So stark wie der Wille zur Wahrheit muss der zur Wahrhaftigkeit sein.
Nur eine Zeit, die den Mut der Wahrhaftigkeit aufbringt, kann Wahrheit
besitzen, die als geistige Kraft in ihr wirkt.
Wahrhaftigkeit ist das Fundament
des geistigen Lebens.
Durch seine
Geringschätzung des Denkens hat unser Geschlecht den Sinn
für Wahrhaftigkeit und mit ihm den für
Wahrheit verloren. Darum ist ihm nur dadurch zu helfen, dass man es
wieder auf den Weg des Denkens bringt.
[…]
Das Christentum bedarf des Denkens, um zum Bewusstsein seiner selbst zu
gelangen (mehr s. hier).
[…]
Das Christentum kann das Denken nicht ersetzen, sondern muss es
voraussetzen."
Und er sagte auch (was ich
allerdings nur nachvollziehen könnte, wenn ich genau
wüsste, was er unter "religiös" und "christlich"
verstand):
"Von mir selber weiß
ich, dass ich durch Denken religiös und christlich blieb."
Die in den ersten Sätzen
mitschwingende Kritik am (organisierten) Christentum der Vergangenheit
und an jenem, das er zu seinen Lebzeiten vorfand, vertiefte er in
folgenden Äußerungen:
"Die organisierten staatlichen,
sozialen und religiösen Gemeinschaften unserer Zeit sind
darauf aus, den Einzelnen dahin zu bringen, dass er seine
Überzeugungen nicht aus eigenem Denken gewinnt, sondern sich
diejenigen zu eigen macht, die sie für ihn
bereithalten. Ein Mensch, der eigenes Denken hat und damit
geistig ein Freier ist, ist ihnen etwas Unbequemes und Unheimliches.
[…]
Heute ist es so, dass das Christentum sich ganz auf sich selber
zurückgezogen hat und nur noch mit der Geltendmachung seiner
Ideen als solcher beschäftigt ist. Es legt keinen Wert mehr
darauf, ihre Übereinstimmung mit dem Denken zu erweisen,
sondern will sie als etwas außerhalb des Denkens und
über ihm Stehendes angesehen haben. Damit verliert es aber den
Zusammenhang mit dem geistigen Leben der Zeit und die
Möglichkeit, es wirksam zu beeinflussen. […]
Darüber, dass es sich seinem geistigen und ethischen Wissen
nach so wenig durchzusetzen vermag, täuscht sich das
Christentum dadurch hinweg, dass es als Kirche seine
äußere Stellung in der Welt von Jahr zu Jahr
stärker ausbaut. […] In dem Maße, als es
äußere Macht erlangt, verliert es an
geistiger."
Wer sich eingehender mit den heute zu beobachtenden Handlungs- und Verhaltensweisen des organisierten Christentums befasst, wird m. E. fast zwangsläufig zu der Einsicht gelangen, dass diese Kritik Albert Schweitzers am Christentum bzw. an den Kirchen noch genauso zutreffend und aktuell ist wie
vor über 80 Jahren.
"In unmittelbarer und absolut
zwingender Weise führt das Denkendwerden über Leben
und Welt zur Ehrfurcht vor dem Leben. Es enthält keine
Schlussfolgerungen, die auch in anderer Richtung laufen
könnten.
Will der einmal denkend gewordene
Mensch in dem Dahinleben verharren, so kann er dies nur dadurch, dass
er sich, wenn er es über sich bringt, wieder der
Gedankenlosigkeit ergibt und sich in ihr betäubt. Verbleibt er
im Denken, so kann er zu keinem anderen Ergebnis als zur Ehrfurcht vor
dem Leben gelangen. […]
Die Ehrfurcht vor dem Leben enthält in sich Resignation, Welt-
und Lebensbejahung und Ethik, die drei Grundelemente einer
Weltanschauung, als untereinander zusammenhängende Ergebnisse
des Denkens.
Bisher gab es Weltanschauungen der
Resignation, Weltanschauungen der Welt- und Lebensbejahung und
Weltanschauungen, die dem Ethischen zu genügen suchten. Keine
aber vermochte die drei Elemente miteinander zu vereinigen.
Möglich wird dies erst daraufhin, dass alle drei ihrem Wesen
nach aus der Allgemeinüberzeugung der Ehrfurcht vor dem Leben
begriffen und als miteinander in ihr enthalten erkannt werden.
Resignation und Welt- und Lebensbejahung führen kein
Eigendasein neben der Ethik, sondern sind ihre unteren Oktaven.
[…]
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist die ins Universelle
erweiterte Ethik der Liebe. Sie ist die als denknotwendig erkannte
Ethik Jesu.
[…]
Besonders befremdlich findet man an der Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben, dass sie den Unterschied zwischen höherem und niederem,
wertvollerem und weniger wertvollem Leben nicht geltend mache. Sie hat
ihre Gründe, dies zu unterlassen.
[…]
Dass die universelle Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben das so vielfach
als Sentimentalität hingestellte Mitleid mit dem Tiere als
etwas, dem sich kein denkender Mensche entziehen könne,
erweist, bereitet mir, der ich von Jugend auf der Tierschutzbewegung
zugetan war, eine besondere Freude. Die bisherige Ethik stand dem
Problem Mensch und Tier entweder verständnislos oder ratlos
gegenüber. Auch wenn sie das Mitleid mit der Kreatur als
richtig empfand, konnte sie es nicht unterbringen, weil sie ja
eigentlich nur auf das Verhalten des Menschen zum Menschen eingestellt
war.
Wann wird es dahin kommen, dass
die öffentliche Meinung keine Volksbelustigung mehr duldet,
die in Misshandlung von Tieren besteht. […]
Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben hat also
religiösen Charakter. Der Mensch, der sich zu ihr bekennt und
sie betätigt, ist in elementarer Weise fromm.
Durch ihre religiös
geartete tätige Ethik der Liebe und durch ihre Innerlichkeit
ist die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben der des Christentums
wesensverwandt. Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass das
Christentum und das Denken in ein anderes, für das geistige
Leben ersprießlicheres Verhältnis zueinander kommen
als bisher.
[…]
Lässt sich das Christentum durch irgendwelche Traditionen und
Erwägungen davon abhalten, sich in ethisch-religiösem
Denken begreifen zu wollen, so ist dies ein Unglück
für es selber und für die Menschheit.
Was seit 19 Jahrhunderten als
Christentum in der Welt auftritt, ist erst ein Anfang vom Christentum,
voller Schwachheiten und Irrungen, nicht volles Christentum aus dem
Geiste Jesu.
Weil ich dem Christentum in tiefer
Liebe ergeben bin, suche ich ihm in Treue und Wahrhaftigkeit zu dienen.
In keiner Weise unternehme ich es, mit dem krummen und
brüchigen Denken christlicher Apologeten für es
einzutreten, sondern halte es dazu an, sich im Geiste der
Wahrhaftigkeit mit seiner Vergangenheit und dem Denken
auseinanderzusetzen, dass es sich dadurch seines wahren Wesens
bewusst werde.
Dass das Aufkommen des
elementaren, zur ethisch-religiösen Idee der Ehrfurcht vor dem
Leben gelangenden Denkens dazu beitrage, das Christentum und das Denken
einander näher zu bringen, ist meine Hoffnung."
Peter
L.
Berger – "Neue Wege der Theologie"
Der Religionssoziologe Peter L. Berger
(*1929) befasste sich in seinem 1969 erschienenen Buch Auf den Spuren der Engel
mit "der Wiederentdeckung der Transzendenz als einer
Möglichkeit für die Theologie heute". Im Folgenden
versuche ich, seine Ideen kurz zu skizzieren. Mehr als einige
Stichworte sind hier also nicht zu finden. Allen christlichen Reformern
empfehle ich, sich durch eingehende Lektüre ein eigenes Bild
zu machen.
Berger stellte seine
Überlegungen auf dem Hintergrund zweier sehr "verschiedener
geistiger Strömungen" in der Theologie seiner Zeit an. Die
eine ist die "einst von Schleiermacher eingeleitete
liberale Theologie", die andere die "neo-orthodoxe Reaktion" darauf.
Letztere hatte ihre Ursachen in den erschütternden Erfahrungen
aus dem Ersten Weltkrieg. Berger nennt Karl
Barth (1886-1968) als einen der Verfechter dieser neuen
Ausrichtung der (protestantischen) Theologie.
Im folgenden Zitat sind die
wesentlichen Merkmale der beiden unterschiedlichen "geistigen
Strömungen" von Berger prägnant herausgestellt:
"Einer der aufschlussreichsten
Züge der neo-orthodoxen Reaktion auf die liberale Theologie
ist die leidenschaftliche Ablehnung der historischen und
anthropologischen Ausgangsposition. Die Liberalen hatten den Nachdruck
auf den Weg des Menschen zu Gott gelegt. Die Neo-Orthodoxen legten ihn
auf Gottes Wirken am Menschen. Menschliche Erfahrung bot keinerlei
Ansatzpunkte für die neue Theologie. Für sie galt nur
die unbeugsame Majestät göttlicher Offenbarung, die
über den Menschen als Vernichtung, Gericht oder Gnade
hereinbricht."
Im Zusammenhang mit der von ihm
angestrebten "Wiederentdeckung der Transzendenz" empfiehlt Berger den
Theologen insbesondere zwei Handlungsfelder, die –
ansatzweise programmatisch – in den Überschriften
der Kapitel 3 und 4 seines Buches erscheinen:
"3. Neue Wege der
Theologie: Am Anfang war der Mensch
4. Neue Wege der
Theologie: Für und wider die Tradition"
In Kapitel 3, in dem er den
"anthropologischen Ansatz" skizziert, sagt er u. a.:
"Ich fordere die Theologen auf,
sich in der empirisch gegebenen Situation des Menschen nach etwas
umzusehen, das man Zeichen der Transzendenz
nennen könnte. Und ich behaupte, dass es prototypisch
menschliches Verhalten gibt, Gebaren, Gebärden, Gesten, die
als solche Zeichen anzusehen sind.
Zeichen der Transzendenz nenne ich
Phänomene der »natürlichen«
Wirklichkeit, die über diese hinauszuweisen scheinen.
[…]
Denn sowohl das tägliche Leben als auch das theoretische
Denken verdanken ihren Reichtum zum größten Teil der
Fähigkeit zur Ekstase. Ich wiederhole noch einmal, dass ich
damit nichts Mystisches, sondern jenes Heraustreten aus den
Gewissheitsstrukturen der Alltagswelt meine, jene Offenheit
für das Numinose, das uns von allen Seiten
umgibt."
In Kapitel 4 umreißt
Berger seine "empfohlene Methode" zum Umgang mit der Tradition. Er
denkt dabei nicht an ein "konservatives bzw. restauratives Programm":
"Die von mir empfohlene Methode
verlangt der Tradition gegenüber ein ziemliches Maß
an Selbständigkeit. Dabei bleibt jedoch das Problem bestehen,
sich ihr zu stellen. Wahrscheinlich kann Theologie nur produktiv sein,
wenn sie eben dieses Problem ganz ernst nimmt.
[…]
Sofern menschliche Erfahrung theologisch überhaupt relevant
ist, muss die Theologie auch ihre historische Dimension
berücksichtigen. […] … so muss auch jede
Epoche gewissenhaft daraufhin geprüft werden, welche
möglicherweise einzigartigen Spuren der Transzendenz in ihr zu
finden sind. […] Jeder Theologe muss die Geschichte schon
deshalb zu Rate ziehen, weil ihm in ihr plötzlich eine
einzigartige Wahrheit aufleuchten könnte, die das Geheimnis
eines spanischen Kabbalisten oder eines aztekischen Priesters war und
vielleicht, wer weiß, genau die richtige Lösung
seines eigenen Problems enthält.
Die logische Folge ist, dass man
sich als Theologe nicht mit der Geschichte der eigenen Religion
begnügen darf – mag man sich ihr auch noch so eng
verbunden fühlen. Heutzutage kann man Religionsgeschichte nur
in ökumenischem Bewusstsein treiben.
[…]
Ökumenisches Bewusstsein ist ein induktiver Zugang zur
Theologie. Dabei muss ich allerdings eins warnend betonen: Ich meine
alles andere als ein interkulturelles Kauderwelsch, eine Art frommes
Esperanto, in dem alle Einzeltraditionen aufgehen. Im Gegenteil, wir
brauchen eine Klärung zwischen entgegengesetzten Standpunkten,
um uns entscheiden zu können. Nur wenn man weiß, was
zur Wahl steht, kann man wählen und die getroffene Wahl als Entscheidungsmöglichkeit
gelten lassen. Mit anderen Worten: Entscheiden kann nur ein
ökumenisches Bewusstsein – sei es zwischen
historischen Überlieferungen bzw. deren Modifikationen und
Verschmelzungen oder gar in Opposition zu allem
Überlieferungsgut, um nach dessen gründlicher
Prüfung zu ganz neuen Ufern aufzubrechen.
[…]
Die Überlieferung, jede
Überlieferung, muss nach Spuren der Transzendenz durchforscht
werden, nach versteinerten Spuren vielleicht. Das bedeutet, dass man
sie mit empirischen Methoden (am wichtigsten sind natürlich
die historischen Wissenschaften) angeht und sich jedes dogmatische Apriori
(im Sinne der Neo-Orthodoxie) versagt."
Berger sieht "die besseren Chancen"
beim "induktiven Zugang zur Theologie". Damit schreibt er, bei aller
Kritik an deren "hohlen utopischen Zügen", eher der "liberalen
Theologie" die Fähigkeit zu, "neue Wege zur Wahrheit der
Religion zu öffnen".
Nach Berger lässt sich
"Religionsgeschichte nur in ökumenischem Bewusstsein treiben".
Diese Haltung, die Berger den Theologen seiner Zeit und zweifellos auch
allen zukünftigen empfahl, hat sich unter den Theologen, nach
meiner Wahrnehmung, bis heute noch nicht nachhaltig durchgesetzt. Wenn
nachweislich noch nicht einmal die interkonfessionelle Ökumene
Fortschritte gemacht hat, ist erst recht nicht zu erwarten, dass die
interreligiöse Ökumene funktioniert.
Abschließend sei hier, mit
dem Blick auf unausweichliche Reformen, die Haltung Bergers zu der
Tatsache hervorgehoben, dass in christlicher Theologie und Praxis "die
Figur Christi" zunehmend ins Zentrum christlicher Glaubensvorstellungen
gerückt wird. Er äußert sich dazu
unmissverständlich:
"In letzter Zeit legt man im
Protestantismus immer größeres Gewicht auf die Figur
Christi als den Mittelpunkt, von dem angeblich allein alle Theologie
ausgehen müsse. Im Extremfall führt das zur
systematischen Vergewaltigung des historischen Materials, wenn man etwa
christliche Glaubensinhalte in die Religionsgeschichte des alten Israel
hineinliest. Aber auch Theologen, die der Geschichte den
gebührenden Respekt nicht verweigern, interpretieren sie, als
wäre Christus ein unerschütterliches Apriori,
ein Brennpunkt, in dem sich alles historische Geschehen sammelt. Ich
halte ein solches Vorgehen für falsch."
Was Berger für Teile der
Theologie der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts diagnostizierte gilt
m. E. auch heute noch.
Ich
stieß in diesem Zusammenhang auf eine Parallelität
zwischen dem Denken Bergers und entsprechenden Überlegungen Albert
Schweitzers. Letzterer äußerte sich in
seinem Werk Geschichte
der Leben-Jesu-Forschung über die
»christozentrische« Sicht des "modernen
Christentums" – seinerzeit allerdings noch stärker
unter dem Eindruck der Frage nach der »Geschichtlichkeit
Jesu«:
"Das moderne Christentum muss von
vornherein und immer mit der Möglichkeit einer eventuellen
Preisgabe der Geschichtlichkeit Jesu rechnen. Es darf also seine
Bedeutung nicht künstlich dahin steigern, dass es alle
Erkenntnis auf ihn zurückführt und die Religion
»christozentrisch« ausbaut. Der Herr kann immer nur
ein Element der Religion sein; nie aber darf er als Fundament
ausgegeben werden.
Anders ausgedrückt: Die
Religion muss über eine Metaphysik, das heißt eine
Grundanschauung über das Wesen und die Bedeutung des Seins,
verfügen, die von Geschichte und überlieferten
Erkenntnissen vollständig unabhängig ist und in jedem
Augenblick und in jedem religiösen Subjekt neu geschaffen
werden kann. Besitzt sie dieses Unmittelbare und Unverlierbare nicht,
so ist sie Sklave der Geschichte und muss sich in knechtischem Geiste
fortwährend gefährdet und bedroht sehen." (mehr
s. hier)
Lesenswertes
von weiteren reformorientierten christlichen AutorInnen
Im Folgenden nenne ich
Bücher, über die in den vorausgehenden Abschnitten
schon
erwähnten hinaus, die vielfältige Anregungen
für
Reformer enthalten. Nicht alle gehen gleich weit in ihren Forderungen.
Ich gebe
keine Empfehlungen ab und überlasse es den interessierten
LeserInnen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Daher sind die
Bücher auch alphabetisch nach den AutorInnen sortiert und
nicht nach irgendeiner Priorität:
DREWERMANN,
Eugen: Nur die Liebe lehrt
uns glauben (Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 2011 in
Dresden)
GERHARDT, Walter: An ihren in alle Ewigkeit wahren und unveränderbaren 245 Dogmen krankt und stirbt die katholische Kirche
GRAF,
Friedrich Wilhelm: KIRCHENDÄMMERUNG
– Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen
HÄRING,
Hermann: Im Namen des Herrn
– Wohin der Papst die Kirche führt
HALBFAS,
Hubertus: GLAUBENSVERLUST
– Warum sich das Christentum neu erfinden muss
HASENHÜTTL,
Gotthold: Glaube ohne
Denkverbote – Für eine humane Religion
KOCH, Herbert: Die Kirchen und ihre Tabus –
Die Verweigerung der Moderne
KROEGER, Matthias: Im religiösen Umbruch der
Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche
RANKE-HEINEMANN,
Uta: Nein und Amen
– Mein Abschied vom traditionellen Christentum
ROBINSON,
Geoffrey: Macht,
Sexualität und die katholische Kirche – Eine
notwendige Konfrontation
SCHMIDT,
Uwe: Widerstand gegen die Zumutungen des
Glaubens
SPONG,
John Shelby: Was sich im
Christentum ändern muss – Ein Bischof nimmt Stellung
Besonders
lesenswert
Das Werk eines Theologen, der sich zwar vom Christentum verabschiedet
hat, sei den christlichen Reformern hier dennoch zur Lektüre
empfohlen. Es handelt sich um das 1987 erschienene Buch Christlicher Glaube und intellektuelles
Gewissen des Philosophen und protestantischen Theologen Helmut Groos (1900-1996). Im
Ersten Teil seines Buches befasst er sich mit der "Christentumskritik
seit der Jahrhundertmitte". Der zweite, sehr viel umfangreichere Teil,
trägt die Überschrift "Der christliche Glaube erneut
auf dem Prüfstand". Gerade der Zweite Teil wäre
für alle Reformer, die sich nicht scheuen, über ihren
eigenen Tellerrand zu schauen, ein Paradebeispiel für eine
ernsthafte, sachliche Auseinandersetzung mit christlichen
Glaubensinhalten und damit eine Fundgrube ernstzunehmender
Denkanstöße.
Wer sich die Mühe macht,
auch die anderen Menüpunkte dieser Web Site
durchzublättern, wird dort, aus den kritischen Anmerkungen zu
diversen Glaubensinhalten des Christentums, in denen ich mich auf eine
Vielzahl von AutorInnen beziehe, vielleicht weitere Anregungen
für mögliche Reformen finden. Darunter ist auch die
Forderung konkreter Maßnahmen, die geeignet wären,
die Glaubwürdigkeit kirchlicher Reformbemühungen zu
fördern (s. hier oder
auch hier).
Anmerkung
Die Kritik, die Helmut
Groos im Ersten Teil seines Buches an den Christentums-
und Kirchenkritikern Bertrand Russel und Karlheinz Deschner übt,
teile ich nicht.
Vorschlag nützlicher
Leitgedanken für christliche Reformer
In seinem Buch Die
Krisis des Christentums formulierte der
Altphilologe
Wilhelm Nestle (1865-1959) einen Satz, den ich für
wegweisend halte:
"Kurz,
an die Stelle der Christlichkeit in unserem Denken, Fühlen und
Wollen muss
wieder die Menschlichkeit treten,
die
wir in dem Bewusstsein, dem einseitigen und überspannten
ethischen Ideal des
Christentums nicht genügen zu können, und in der
trägen Gewohnheit, einem
vorgeschriebenen »Glauben«
zu folgen, anstatt selbst zu denken, ganz
aus den Augen verloren haben. Es ist eine schwere Schuld der Kirche,
dass sie
den Menschen das Selbstdenken abgewöhnt und sie dafür
auf eine angeblich
göttliche, in Wirklichkeit von ihr selbst zurechtgemachte, ein
für alle Mal
feststehende »Offenbarung« verwiesen hat."
Der
Religionsphilosoph, Theologe und Pädagoge Georg
Picht (1913-1982) äußerte
bemerkenswerte Gedanken über das Verhältnis zwischen
Religion und "säkularem Denken". Im Buch Mut zur Utopie, in
dem zwölf Vorträge zusammengefasst sind, die er in
einer Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks gehalten hatte,
sagt er u. a. Folgendes:
"Es ist dem modernen Bewusstsein
nicht geholfen, wenn man es auf Formen religiösen Denkens und
Lebens verweist, die der Vergangenheit angehören. Es ist uns
nicht möglich, in unsere Vorgeschichte
zurückzuflüchten und den Weg, den das
aufgeklärte Denken im Vollzug seiner Emanzipation hinter sich
gebracht hat, wieder zu vergessen."
In einem Beitrag unter dem Titel
"Der sich häutende Gott" in Publik-Forum 8 · 2008
bekennt der slowakische evangelische Theologe Karol Nandrásky
(1927-2016) einleitend:
"Schon seit langem ist mir klar,
dass wir heraussteigen müssen aus der Rumpelkammer des
kirchlichen Dogmatismus. Wir müssen hineinfinden in den
konkreten und mühseligen Weg der Evolution des Weltalls, zu
dem die Naturforscher die Landkarte zeichneten."
Im Buch Gottes Eifer. Vom Kampf der drei
Monotheismen des Philosophen Peter Sloterdijk
(*1947) fand ich folgende – satirisch/sarkastisch zugespitzte
–
Feststellung:
"Die Zivilisierung der
Monotheismen ist abgeschlossen, sobald die Menschen sich für
gewisse Äußerungen ihres Gottes, die
unglücklicherweise schriftlich festgehalten wurden,
schämen wie für die Auftritte eines im allgemeinen
sehr netten, doch jähzornigen Großvaters, den man
seit längerem nicht mehr ohne Begleitung in die
Öffentlichkeit lässt."
Anmerkung
Dieser Satz eignet sich als Leitgedanke
selbstverständlich auch für jüdische und
muslimische Reformer.
Im Buch Wenn Du es eilig
hast, gehe langsam des Zeitmanagementexperten Lothar J. Seiwert
(*1952) fand ich diesen Satz:
"Effizienz
heißt, die Dinge richtig tun.
Effektivität heißt, die
richtigen Dinge tun."
Anmerkung
Dieser Leitgedanke eignet sich zweifelsohne
für Reformer und Aktivisten jeder Couleur.
Wie
sind
die Aussichten?
Neue Denkansätze bzw.
Reformvorschläge wurden und werden von Angehörigen
beider großen Konfessionen entwickelt. Nach meiner
Einschätzung gibt es allerdings, wenn auch mit
Einschränkungen, eine reformorientierte Diskussion
inhaltlicher Fragen, in nennenswertem Umfang, nur im Bereich der
protestantischen Kirchen. Zudem sind die reformerischen Kräfte
in der römischen Sphäre genötigt, sich
hauptsächlich mit hausgemachten Problemen zu befassen:
insbesondere mit der bisher verweigerten Gleichstellung der Frauen, mit
der ebenso verweigerten Teilnahme Wiederverheirateter am Abendmahl, mit
der überfälligen Segnung homosexueller
Partnerschaften, mit dem Zwangszölibat – einem
wichtigen Grund für die soziale und moralische Verwahrlosung
jener Priester, die den ungeheuerlichen Missbrauchskandal verursachten
– und nicht zuletzt mit der Einführung
demokratischer Strukturen und Verhaltensweisen innerhalb der Kirche.
Die Reformer in der römischen Konfession können
angesichts dieses Konfliktpotenzials, wohl für lange Zeit,
kaum an inhaltliche Reformen denken.
Hinzu kommt, dass das diktatorisch
agierende vatikanische Führungspersonal derzeit nicht im
Entferntesten daran denkt, in seinem Herrschaftsbereich eine ernsthafte
oder gar offene Diskussion über notwendige Reformen
zuzulassen. Diese Feststellung ist nicht spekulativ getroffen, sondern
basiert auf einer Personalentscheidung Joseph Aloisius Ratzingers: Erst
kürzlich erhob er den ultrakonservativen Bischof Gerhard
Ludwig Müller aus Regensburg zum Chef der vatikanischen
"Glaubenskongregation", der Nachfolgebehörde der
blutbesudelten Inquisition. Er ist damit der »oberste
Glaubenshüter«, der die Aufgabe hat, »die
Glaubens- und Sittenlehre in der ganzen katholischen Kirche zu
fördern und zu schützen« (DIE
ZEIT vom 05. Juli 2012). Müller, der zuletzt auf
dem Katholikentag im Mai dieses Jahres allen Reformbestrebungen eine
rüde Absage erteilte (s. hier),
wird auch künftig alles verhindern, was die klerikale Macht
des Vatikans gefährden könnte.
Die eben aufgeführten
Fakten wecken große Zweifel an der Reformfähigkeit
der römischen Kirche. Dabei wurde ein wohl noch wichtigeres
Hindernis für mögliche Reformen noch gar nicht
erwähnt: Die nirgendwo sonst so ausgeprägte
Überzeugung der römischen Hierarchen, bis hinunter zu
den "geweihten" Priestern, die ("göttliche") Wahrheit immer
schon zu kennen. Wer die Wahrheit besitzt, braucht sie nicht
mehr zu suchen. Er besitzt ein festgefügtes, unwandelbares
Weltbild und verschwendet keinen Gedanken an Reformen.
Eine eindrucksvolle
Bestätigung dieser bizarren Haltung fand ich im neuen Buch Glaube ohne Denkverbote
des ehemaligen Priesters und kirchenkritischen Autors Gotthold Hasenhüttl
(*1933). Hasenhüttl, für den die römische
Kirche eine "starre und fundamentalistisch orientierte Institution"
ist, kommentiert in der "Einführung" seines Buches eine
Aussage des gegenwärtigen »Stellvertreters Gottes
auf Erden«:
"Also nicht der Ursprung einer
Religion, und sei es Gott selbst, bürgt für ihre
Wahrheit, sondern allein ihre Wirkung auf die Mitmenschen, wieweit sie
in Achtung und Liebe einander begegnen. Wenn Benedikt XVI. sagt:
»Die Wahrheit ist die Grenze des
Mitgefühls«, dann wird genau dieser Sachverhalt
umgekehrt, und der Mensch wird der vermeintlichen
»göttlichen Wahrheit« geopfert."
Der Kommentar Hasenhüttls
entlarvt die
Haltung Ratzingers nicht nur als zutiefst menschenverachtend, sondern
als das Ergebnis fortgeschrittener dogmatischer Verblendung.
Dem
ist nichts
hinzuzufügen.
Die Kirchen sollten ernst nehmen,
was der Literaturwissenschaftler
Hermann Kurzke
(*1943) über das Verhältnis der "allermeisten
Christen" zu den christlichen Glaubensinhalten sagte:
"Priester und sonstige Angestellte
des Kirchenapparates dürfen ja heutzutage nicht ehrlich sein.
Sie müssen so tun, als glaubten sie jedes Wort des
Glaubensbekenntnisses. Wenn ich unter Glauben etwas Lebenswichtiges,
Begeisterndes und Tragendes verstehe (nicht ein gleichgültiges
oder verlegenes Nicht-Bestreiten), dann sind die allermeisten Christen
Häretiker, denn sie »glauben« (im
emphatischen Sinn) allenfalls an wenige ausgewählte Segmente
des Christentums."
Anmerkung
Das Kurzke-Zitat fand ich bei Hubertus Halbfas (*1932) im
Kapitel "Wahrheit verlangt Wahrhaftigkeit" seines neuen Buches Glaubensverlust.
Tatsächlich
verschließen die christlichen (Groß-)Kirchen ihre
Augen vor einer Erkenntnis, wie Kurzke sie formulierte und befassen
sich in ihren Reformbemühungen viel intensiver mit der Analyse
ihrer internen Strukturen, um sie betriebswirtschaftlichen
Erfordernissen anzupassen, als mit der langfristig viel wichtigeren
Erneuerung der althergebrachten christlichen Glaubensinhalte.
Anmerkung
Bezogen auf das von der EKD in 2006
veröffentlichte Impulspapier "Kirche der Freiheit" und auf die
damit angestoßene Reformdiskussion las ich in zeitzeichen
3/2012 den Satz: "Theologisch ist peinlich, dass rein
ökonomisch, von Quantitäten her, argumentiert wird".
Die
»Auferstehung« gehört wohl nicht mehr zu
den "wenigen ausgewählten Segmenten des Christentums" (Hermann
Kurzke), an die die Christen noch mehrheitlich glauben. DIE ZEIT vom
04. April 2012 enthielt einen Beitrag von Klaus Harpprecht
(*1927) mit dem bezeichnenden Titel "Wer glaubt schon an Auferstehung?
– Viele Christen können mit der zentralen Botschaft
der Bibel nichts mehr anfangen. Die Kirchen ignorieren das Problem".
Unter Hinweis auf eine "Studie des Spiegels"
finden sich in dem Beitrag u. a. folgende statistische Daten:
"Lediglich 40 Prozent der deutschen Katholiken bejahen die
Auferstehung, wie sie das Neue Testament verheißt, bei den
Protestanten ist es jeder Zweite."
Und Harpprecht fährt fort:
"Im Korinther-Brief steht
geschrieben: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist
unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube
vergeblich.« Stellen sich die Kirchenoberen die Frage, wie
sie's mit den Christen halten, für die des Heilands
Auferstehung keine Wahrheit mehr ist? Wagt es einer der
Glaubenshüter, ihnen das Christsein abzusprechen? Aus dem
Vatikan kommt dazu seit Menschengedenken kein Wort. Keines der
Verdammnis, keines der Toleranz. Die Päpste, die
Kardinäle, die Bischöfe führen sich auf, als
gäbe es dieses dramatische Problem nicht: dass die
Majorität der europäischen Christen die Grundsubstanz
des Glaubens leugnet. Wenn es denn jemals eine Ketzerei gab, schlimmer
als die der Lutheraner, der Calvinisten, der Katharer – dann
ist es diese."
Anmerkung
Die von Harpprecht zitierte Bibelstelle steht im 1. Ko
15,14.
Harpprecht fragt dann: "Wie ertragen
die Kirchen diese amtliche Heuchelei, diese christliche
Lebenslüge, ohne Schaden zu nehmen?" – Ich denke,
dass sie längst Schaden genommen haben und mit dieser
"amtlichen Heuchelei" langfristig ihre Existenz aufs Spiel setzen, es
sei denn, sie hören auf, die Lebenswirklichkeit ihrer
Mitglieder zu ignorieren.
Diese "amtliche Heuchelei" war
sicher auch der Theologin Dorothee Sölle
(1929-2003) bekannt. Das lässt sich zumindest aus einer in
ihrem Buch
Atheistisch an Gott glauben festgehaltene
Erkenntnis schließen:
"Wer heute »honest to
God« sein will, wie John A. T. Robinson, der wird
notwendig auf Kirchenreform als konkreten Ausdruck moderner Theologie
kommen, derentwegen Biblizismus und Verwaltung, die Stillen im Lande
und der Apparat, ein von Angst diktiertes Bündnis eingehen."
Neben den von Angst und Ignoranz
geprägten Widerständen in den Kirchen gegen Reformen
spielt ein weiterer hemmender Aspekt eine Rolle: Die Christentums- und
Kirchenkritiker sind wohl meist ausgeprägte Individualisten.
Bisher ist mir, abgesehen von Podiumsdiskussionen auf Kirchentagen,
keine öffentliche Zusammenkunft dieser reformorientierten
Kräfte bekannt geworden, ein
konfessionsübergreifendes Treffen schon gar nicht. Dabei
wäre es sinnvoll, wenn sie sich verabredeten, über
ein Reformpaket einigten und über eine Vorgehensstrategie, aus
der dann ein Stufenplan für die mögliche Umsetzung
abgeleitet werden könnte.
Ich vermute allerdings, dass die
meisten Kritiker, da theologisch vorbelastet und politisch unbeleckt,
zwar vertraut sind mit dem "Heilsplan" für die Menschheit,
aber kaum in der Lage sind einen geeigneten Projektplan für
eine schrittweise Erneuerung der christlichen Glaubensinhalte und der
Kirchen zu entwickeln. Natürlich ist auch klar, dass es ganz
bestimmt nicht einfach sein wird aufgeschlossene Kirchenführer
für erste Experimente zu gewinnen.
Klaus-Peter
Jörns
– auf den neusten Stand gebracht ("updated")
Die Aussichten für eine mögliche Reform des
Christentums und seiner Kirchen habe ich im vorausgehenden Abschnitt
eher pessimistisch eingeschätzt. Ich sehe auch noch keinen
Anlass, diese Einschätzung grundlegend zu revidieren, aber ich
sehe weitere ernsthafte Anstrengungen christlicher Reformer: Der
protestantische Theologe Klaus-Peter Jörns
(*1939), dessen in 2004 erschienenes Buch Notwendige Abschiede mir
wichtige Erkenntnisse über theologische Lehrmeinungen
zu christlichen Glaubensinhalten vermittelte, hat Ende
November
2012 sein neuestes Buch mit dem Titel Update für den Glauben
veröffentlicht.
Was mir aber als noch wichtiger
erscheint: Jörns gründete, zusammen mit
Gleichgesinnten, am 26. Oktober 2012 die "bekenntnisoffene" Gesellschaft für eine
Glaubensreform e. V.. Zu den Gründungsmitgliedern
zählt der namhafte katholische Theologe und
Religionspädagoge Hubertus Halbfas
(*1932).
Zwei Leitmotive, sicher nicht die
einzigen, für das weitergehende reformerische Engagement
spiegeln sich in folgenden Sätzen, die ich in Update für den Glauben
fand:
"Unsere Zeit ist nicht besser oder
weiser als frühere Zeiten, aber sie ist kulturell eine andere.
Deshalb kann von uns ein Glaubenszeugnis verlangt werden, das heute
verstanden wird, weil es heutige Denk- und Lebensvoraussetzungen ernst
nimmt. Je länger kulturell und theologisch notwendige Reformen
verweigert werden, je rigoroser sich eine Religion als
reformunfähig erweist und zu einem Museumsbetrieb wird, desto
eher werden die irgendwann aufbrechenden Veränderungen mehr
als nur ein Update oder Upgrade nötig machen. […]
[…] […]
Keine Kirche hat das Recht, ihre
irgendwann einmal dogmatisierte Perspektive für ihre
Mitglieder zur Zentralperspektive zu machen."
Darüber hinaus plant
Jörns die Publikation einer Schriftenreihe unter der
Überschrift Schriften zur
Glaubensreform, in der
"unterschiedliche Autorinnen und Autoren schreiben und eigene Akzente
setzen" können.
"Ein neues
religiöses Paradigma?" –
Nicht "biblisch-christlich"
Der am 12. Januar 2011 verstorbene
Psychologe und Religionskritiker Franz
Buggle (1933-2011) ist mir durch sein Buch Denn sie wissen nicht, was
sie glauben bekannt geworden. Er nannte es eine
"Streitschrift". Schon der provozierende Titel lässt diese
Charakterisierung plausibel erscheinen, und der Untertitel Oder
warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann
verstärkt diesen Eindruck. Ich verdanke diesem Buch eine
Fülle hilfreicher Anregungen für den Fortgang meiner
eigenen Recherchen. Mehrere einschlägige Bücher
später halte ich es immer noch für eines der
überzeugendsten christentums- und theologiekritischen
Schriften, die mir bisher bekannt geworden sind.
Im Teil IV, dem kurzen letzten Teil
seines Buches mit der Überschrift "Ein neues
religiöses Paradigma?", äußert er sich
zunächst über "Sinn und Notwendigkeit eines neuen
religiösen Paradigmas und einer neuen Religionskritik". Er
schreibt dort u. a.:
"Angesichts der weitverbreiteten
Orientierungskrise und Hilflosigkeit im Umgang mit einer potentiellen
religiösen Dimension der Welt und des Menschen, aber auch im
Hinblick auf die von den Kirchen im Rahmen der (von ihnen fast
monopolistisch in Besitz genommenen) religiösen Erziehung
suggerierten […] falschen, weil hochsimplifizierten
Alternative »biblisch-christlicher Gottesglaube oder
verzweifelter Nihilismus« könnte sich vielleicht ein
neues »postmodernes« religiöses Paradigma
als hilfreich oder gar »notwendig« erweisen."
Er führt dann aus, dass
eine "neue offnere Religionskritik" die "neuesten Einsichten der
modernen (Natur-)Wissenschaft in ihre Argumentation einbeziehen"
müsste und stellt im übernächsten Absatz
fest:
"So wird moderne Religionskritik
die prinzipielle Möglichkeit und Legitimität einer
religiösen Dimension der Welt und der menschlichen Existenz
nicht von vornherein leugnen, sondern ihr prinzipiell als
Möglichkeit offen gegenüberstehen. Moderne
Religionskritik so verstanden richtet sich nicht gegen diese
mögliche religiöse Dimension als solche, als vielmehr
gegen ihre jeweils konkrete, historische
»Füllung« und Ausgestaltung durch
archaisch-inhumane und/oder absurd-widersprüchliche Inhalte."
Danach formuliert er "Vier
Kriterien, denen jedes wirklich neue
religiöse Paradigma genügen müsste, um auch
für heutige aufgeklärt-wissende Menschen akzeptierbar
zu sein". Diese Kriterien und ergänzende
Erläuterungen sind im Folgenden stark gekürzt
wiedergegeben:
"Ein wirklich neues hilfreiches,
weder Denkverzicht noch Verdrängung weiter Erfahrungsbereiche
erforderndes religiöses Paradigma müsste dagegen den
folgenden Kriterien, Mindestanforderungen genügen, d. h. aber,
könnte kein biblisch-christliches Paradigma mehr sein:
- Es müsste mit dem
Wissensstand und den aufgeklärt-kritisch reflektierten
Erfahrungen heutiger Menschen vereinbar sein, dürfte ihnen
nicht widersprechen. D. h., es dürfte keine Unredlichkeiten
implizieren, keine Verdrängungsprozesse, intellektuellen
Verbiegungen, kein Sacrificium intellectus, keinen
Denkverzicht erfordern, um akzeptiert werden zu können.
- Es müsste dem heute
zumindest als Postulat erreichten ethisch-moralischen Standard gerecht
werden, dürfte nicht dahinter zurückbleiben, ihn
nicht unterschreiten (z. B. Höllenstrafe, Kreuzesopfer u. a.).
- Zwar nicht für
Widersprüche zur Welterfahrung heutiger Menschen, für
Unterschreitungen von Vernunft und
heutigem Wissensstand, wohl aber für Überschreitungen
von menschlicher Ratio und heutigem Wissensstand müsste ein
neues religiöses Paradigma weiten Raum lassen.
[…]
- Ein solches wirklich neues
Paradigma müsste hilfreich für den Lebensvollzug
sein, eine Orientierungs-, »Sinngebungs«-,
Stützfunktion erfüllen: Sicher das
(religions)philosophisch problematischste – wir begeben uns
hier auf das Glatteis des religiösen Funktionalismus und
seiner Spannung zur Wahrheitsfrage –, lebenspraktisch
andererseits aber gerade aus dem Blickwinkel des Psychologen vielleicht
das wichtigste Kriterium.
Es kann an dieser Stelle nicht die
ein eigenes Buch erforderliche »Wahrheits«frage,
das Problem der Beziehung zwischen erforderlicher
»Wahrheit« religiöser Lehren und ihrer
Funktionalität für den Lebensvollzug en detail
diskutiert werden. […] Die jeweilige individuelle
Stellungnahme ist überdies nicht unabhängig von
persönlichen Prämissen, die man für sich als
verbindlich gesetzt hat: Etwa dass es der
Würde des Menschen widerspricht, illusionären
Absurditäten um ihrer Funktion willen bei sich oder bei
anderen zu akzeptieren, eine im übrigen leicht von
barmherziger Menschfreundlichkeit in den Zynismus abgleitende Position.
Dies bedeutet aber, dass der Wahrheitsfrage der Primat über
die Funktionalität zukomme.
[ …]
Ein neues religiöses Paradigma sollte das ohnehin schwer
belastete Leben so vieler Menschen nicht noch zusätzlich
erschweren, etwa durch die Drohung mit diesseitigen und jenseitigen
extremen Strafen, wie es den biblisch-christlichen Gott so genuin
auszeichnet, durch das nur konsequent erscheinende »Zittern
um einen gnädigen Gott« (Luther), durch Erzeugung
von destruktiven Versündigungs-, Schuldgefühlen und
eine entsprechende Eigenabwertung. […] Wobei hier, dies soll
nicht verschwiegen werden, schwierige, nicht leichtzunehmende Probleme
impliziert sind, u. a. die Frage, ob und bis zu welchem
Ausmaß ein offenes, hypothetisches religiöses
Paradigma, das auf letzte Gewissheiten bewusst verzichtet, diese
Funktion wie weit und bei wie vielen Menschen leisten kann.
Denn es ließe sich z. B.
allenfalls nur die Möglichkeit einer
(partiell) optimistischen Welt- und Lebensperspektive plausibel machen,
nicht aber deren Gewissheit: Es ist vielleicht denkbar, dass sich alles
oder zumindest das menschliche Existieren auf einen letztlich guten
Endzustand hin bewegt, das also unseren tiefsten lebenstragenden
Wünschen eine Realität entspricht, aber dies ist
keineswegs mit Sicherheit auszumachen. […]
[…]
Moderne Religionskritik bedeutet nicht notwendigerweise, das sollte
klargeworden sein, einen Weg in den »Nihilismus«,
in die »Verzweiflung« zu gehen. Ganz im Gegenteil,
sie kann den Raum freimachen für neue
Weltdeutungen, auch religiöse, die nicht weiterhin ein so
hohes Maß an Unredlichkeit, Verbiegungen und Heuchelei, auch
gegenüber sich selbst, erfordern und so der
»Würde des Menschen«, seiner notwendigen
Selbstachtung gerechter werden."
Die Überlegungen Franz
Buggles (1933-2011) können wohl als
religions-philosophischer und/oder religions-psychologischer Ansatz
betrachtet werden. Ich frage mich, ob dieser Ansatz notwendigerweise
als "neues religiöses Paradigma"
bezeichnet werden muss. Mir fehlen leider die Beurteilungskriterien zur
Beantwortung dieser Frage, ich könnte mir aber vorstellen,
dass auch hier, in Anlehnung an die vom Religionssoziologen Peter L. Berger (*1929)
angedachten "neuen Wege der Theologie" (s. hier), von der "Wiederentdeckung
der Transzendenz" gesprochen werden könnte. Berger hat seinen
Ansatz sicherlich als "religiös" verstanden. M. E.
gehört Transzendenz jedoch keineswegs ausschließlich
in den Zuständigkeitsbereich der Religionen.
Ich bin von der Notwendigkeit eines
"neuen religiösen Paradigmas" also nicht
überzeugt, kann mir jedoch vorstellen, dass der Bugglesche
Denkansatz als eine mögliche
"Brückentechnologie" bis zum Erreichen einer allgemein
anerkannten, menschenwürdigen Gesellschaft ohne
Religion dienen könnte.
Neue
Denkansätze für "Ungläubige"
Es
geht um neue Denkansätze für eine
Gesellschaft ohne Religion(en) oder
genauer: für eine Gesellschaft ohne
die von Religionen verbreiteten und sorgsam gepflegten
Illusionen.
Ausgangslage
Der Mensch hat sich seine Götter und
Religionen zu allen Zeiten selbst geschaffen. Dies geschah aufgrund von
(Schutz-)Bedürfnissen der frühzeitlichen Individuen, die sich einer für sie
undurchschaubaren, bedrohlichen Umwelt ausgesetzt sahen und zur Förderung ihres Zusammenhalts in Familien, Gruppen und
Stammesverbänden.
Darüber hinaus gab ihnen die Religion erste, angesichts ihres
archaischen Wissensstandes, befriedigende Antworten auf existenzielle
Grundfragen – Werden und Vergehen, Geburt und Sterben usw. –, die ihnen
zweifellos halfen, ihr Leben zu meistern.
Was anfangs einem
natürlichen Bedürfnis nach Schutz und nach
hilfreichen Antworten auf Grundfragen ihres Daseins entsprungen war,
mutierte, angesichts wachsender Populationen, zu einer
"gesellschaftlichen
Notwendigkeit": Religionen und ihre Götter wurden für
die herrschende(n) Klasse(n) mehr und mehr zu Instrumenten im Kampf um
Macht und Vorherrschaft.
Zugegeben, dies ist eine
äußerst komprimierte Darstellung der Geschichte der
Religionen. Um Missverständnissen vorzubeugen seien hier
ergänzend tiefer gehende Überlegungen des
Philosophen
(und Theologen) Joachim Kahl
(*1941) zur Frühgeschichte der Religionen zitiert:
"Entscheidend
ist nun die historische Einsicht, dass – nach einer
religionslosen Anfangsphase ohne
jeden Vorbildcharakter – sich kein Entwicklungspfad der
Menschheit ohne
Religion auftat.
Religion war eine universale, alternativlose Durchgangsstufe bei der
Selbstkonstitution der
Menschheit. Die Alltagsexistenz unserer Vorfahren war so hart, so karg,
so
bitter, dass sie nicht ohne eine Phantasiewelt mit göttlichen
Hilfen und
Helfern und vor allem nicht ohne den Traum einer jenseitigen
Kompensation für
irdische Entbehrungen lebbar war.
Dies
ist der genuine Sinn des berühmten Marxschen
Diktums, Religion sei das »Opium
des Volks«.
Religion war jahrtausendelang historisch unverzichtbar als
schmerzlinderndes
Betäubungsmittel, das in der Phantasie gewährte, was
die Wirklichkeit versagte.
Insofern hat sie
– wie alles Menschliche – ein Doppelgesicht."
Anmerkung
Das Zitat stammt aus der überarbeiteten
Fassung eines "mündlich
vorgetragenen Beitrages zu
dem Fürther Streitgespräch am 27.06.2006",
in dem sich Joachim
Kahl kritisch mit dem von Michael Schmidt-Salomon (*1967)
herausgegebenen Manifest des
evolutionären Humanismus
auseinandersetzte.
Es soll auch nicht verschwiegen
werden, was der Theologe Martin Werner
(1887-1964) in seinem Buch Die
Entstehung des christlichen Dogmas
über das Urchristentum äußerte. Er betonte
dort, dass es
"…
durch positives ethisches Wollen
im Sinne einer gehaltreichen Individualethik mit ganzem Einsatz
für eine Ordnung einer neuen Welt demonstrierte."
Zudem ist aus der Geschichte des
Christentums bekannt, dass es stets Menschen gab, die die von Werner dem
Urchristentum zugeschriebene Haltung lebten und weitergaben. Es ist
natürlich auch kein Geheimnis, dass sie damit häufig
in Widerspruch zu den Interessen der Machthaber in Kirche und
Gesellschaft gerieten und von diesen, über eine unendlich
lange Zeit – bis in die gar nicht so ferne Vergangenheit
hinein –, in großer Zahl, nicht nur ausgegrenzt und
verfolgt, sondern auf grausamste Weise zu Tode gebracht wurden.
Dennoch kann wohl nicht
ausgeschlossen werden,
dass auch heute noch ein wenig "Glut" der ersten Christen unter der
"Asche" glimmt, die sich seit dem 4.
Jahrhundert angehäuft hat. Damals wurde das
Christentum
Staatsreligion und die Kirche erlangte Macht und Einfluss. Und
damit begann, wie Gottfried
Arnold (1666-1714) in seinem Buch Unparteiische
Kirchen- und Ketzerhistorie aufzeigte, der
fortschreitende Verfall dieses Christentums und
seiner Kirche(n) …
Es fällt auf, dass kaum
einmal positive
Aspekte des Christentums genannt werden können, ohne dass sich
negative Begleiterscheinungen ins Bewusstsein drängen.
Ähnliches ließe sich auch über andere
Religionen
sagen. Und dass die negativen Aspekte häufig
überwiegen,
liegt nicht an den Kritikern, vielmehr daran, dass z. B. das
Christentum in seiner Wirkungsgeschichte eben keine ausgeglichene,
sondern eine ausgesprochen negative Bilanz aufweist.
Unabhängig von der
vorausgehenden Betrachtung gilt aber auch: Wer die diversen
religiösen Lehren als ureigenes Werk von Menschen durchschaut
hat und der Behauptung von echten oder vermeintlichen Religionsstiftern
und ihren Nachfolgern, die von ihnen verbreiteten Lehren und
moralischen Regelwerke gingen auf Offenbarungen ihrer Götter
zurück, keinen Glauben mehr schenken kann, wird nach
alternativen Welterklärungsmodellen und plausibleren ethischen
Leitlinien für seine Lebensführung suchen.
Die
"Ungläubigen"
Der Philosoph und Schriftsteller Gerhard Szczesny
(1918-2002) beschreibt in seinem 1958 erschienenen Buch Die Zukunft des Unglaubens
den möglichen, von bestimmten individuellen Voraussetzungen
abhängigen, Wandlungsprozess vom "Gläubigen" zum
"Ungläubigen":
"Die
Verwandlung des »Gläubigen« in den
»Ungläubigen« ist ein individuell
gebundener Vorgang, der das seelische Gleichgewicht des davon
Betroffenen nur dann nicht bedroht, wenn ihm eine organische, von innen
heraus erfolgende Ausweitung des Bewusstseins zugrunde liegt. Jene
Fakten, die den Zweifel erregen und zum Nach- und Neudenken zwingen,
erreichen heute die Bewohner noch des entlegensten Dorfes und treten
ohne besonderes Zutun in sein Blickfeld. Ob solche Fakten ansprechen
oder aber gleichgültig lassen, hängt von dem
geistig-seelischen Entwicklungsstand des Einzelnen ab. Der Geist weht
zwar, wohin er will, aber er wird nur dort fruchtbar, wo er einen
aufnahmefähigen Boden findet. Ist ein echtes
Bedürfnis nach Aufklärung vorhanden, braucht der
Zeitgenosse nur seine Hand auszustrecken, um es zu befriedigen. Ist es
nicht vorhanden, wird es nur gut sein, wenn er in der Geborgenheit
seines Glaubens verbleibt."
Szczesny zeigt auf,
wie die "Verwandlung" gelingen kann, lässt aber auch die
Risiken für das "seelische Gleichgewicht" der Betroffenen
anklingen und empfiehlt jedem, bei dem das "echte Bedürfnis
nach Aufklärung" noch nicht vorhanden ist, "in der
Geborgenheit seines Glaubens" zu bleiben.
Flüchtig
betrachtet könnte man zu der Auffassung gelangen, dass es
heutigen Zeitgenossen, dank der großen Zahl und Vielfalt
leicht zugänglicher Informationsquellen, erheblich leichter
fiele, ihr "Bedürfnis nach Aufklärung" zu befriedigen
als vor fünfzig Jahren. Andererseits muss man aber wohl in
Rechnung stellen, dass die stetig anwachsende Flut medialer
Unterhaltungsangebote eine ablenkende oder gar betäubende,
also eine gegenteilige, Wirkung haben kann.
Zählt
sich jemand zu den "Ungläubigen", so gibt er damit zu
erkennen, dass er seinen z. B. von christlichen Leitbildern –
Existenz eines persönlichen Gottes, unsterbliche Seele,
Auferstehung der Toten, ewiges Leben etc. –
geprägten "Glauben" aufgegeben hat oder noch nie einen
derartigen Glauben besaß. Er beschreibt also in erster
Näherung eine veränderte oder aber immer schon
vorhandene Teilstruktur seines Bewusstseins, gibt aber noch keine
weitergehende Auskunft über dessen innere Verfassung und die
möglichen Wirkungen auf die individuelle Lebensgestaltung.
In der
Sphäre der "Ungläubigen" gibt es, anders als im
Bereich der "Gläubigen", wenn überhaupt, nur eine
sehr schwache Neigung zu Einheitsdenken und Gemeinschaftsbildung.
Dennoch ordnen sich Betroffene selbst unterschiedlichen
weltanschaulichen Strömungen zu oder können von
Soziologen und Kulturwissenschaftlern näherungsweise
zugeordnet werden. Die bekanntesten Bezeichnungen für
"Ungläubige" sind wohl: Konfessionslose bzw. Konfessionsfreie,
Religionslose, Humanisten, Agnostiker, Atheisten. Die Grenzen zwischen
diesen Gruppierungen sind fließend.
Die
Bezeichnungen Konfessionslose und Religionslose werden häufig
synonym verwendet, was aber nur eingeschränkt richtig ist:
Nicht jede/r Konfessionslose ist religionslos und nicht jede/r
Religionslose ist konfessionslos. Tatsächlich werden unter dem
Sammelbegriff Konfessionslose häufig diejenigen
zusammengefasst, die keiner staatlich anerkannten kirchlichen
Konfession angehören. Betroffene bezeichnen sich lieber als
konfessionsfrei. Die Forschungsgruppe
Weltanschauungen in Deutschland (fowid) berücksichtigt
dies offenbar in ihrer Statistik.
Sehr
häufig wird in diesem Zusammenhang der Begriff Humanisten
gebraucht. Der Humanismus hat eine sehr lange
Tradition. Da eine humanistische Haltung auch unter
"Gläubigen" zu finden ist, grenzen sich die
"ungläubigen" Humanisten teilweise durch differenzierende
Attribute entsprechend ab. Sie nennen sich z.B. säkulare
Humanisten, evolutionäre Humanisten, gottlose
Humanisten.
Eine prägnante Kurzdefinition des Begriffs Agnostiker fand ich im Buch Woran glaubt ein Atheist?
des französischen Philosophen und "bekennenden" Atheisten André
Comte-Sponville (*1952):
"Im strengen,
wahren Sinne des Wortes weiß niemand, ob es Gott gibt oder
nicht. Der Gläubige bejaht seine Existenz (was man
Glaubensbekenntnis nennt); der Atheist verneint sie; der Agnostiker tut
weder das eine noch das andere. Er will sich nicht entscheiden oder
meint es nicht zu können."
Im vorausgehenden Zitat ist auch schon die klare Abgrenzung des Begriffs Agnostiker vom Begriff Atheist formuliert.
Zur Bezeichnung
Atheist bzw. zu der mit dem Begriff Atheismus umschriebenen
Geisteshaltung von "Ungläubigen" folgt unten eine
weitergehende Betrachtung. Vorher sei aber auf ein Phänomen
hingewiesen, das ich als so etwas wie eine (unvermeidliche?)
mediale Begriffsverwirrung bezeichnen möchte. Exemplarisch ist
sie mir in der Ausgabe 28/2012 des SPIEGELs
begegnet. Die Rubrik WELTANSCHAUUNGEN enthielt den Bericht
über eine internationale Konferenz in London, ausgerichtet vom
"Nonreligion and Secularity Research Network". Der Bericht trug die
Überschrift Erleuchtung der Gottlosen –
Woran glauben die Ungläubigen? – In London trafen
sich Gelehrte, um die Lebenswelten der Atheisten zu erkunden.
Schon hier tauchen, neben den "Ungläubigen", zwei offenkundig
synonym gebrauchte Begriffe auf: "Gottlose" und "Atheisten". Im Text
war dann u. a. Folgendes zu lesen:
"Atheismus war
früher überwiegend männlich, doch inzwischen
wächst der Anteil der Frauen stark. Auffallend viele
Ungläubige bezeichnen sich aber nicht ausdrücklich
als Atheisten – es klingt ihnen zu negativ. Sie bevorzugen
positiv besetzte Begriffe wie Freidenker, Agnostiker,
Nichtreligiöse oder Humanisten."
Darüber
hinaus wurde im Text der Vorsitzende des britischen
Humanistenverbandes, Andrew Copson, mit folgenden Worten
charakterisiert:
"Der
30-jährige Engländer gilt als eine Art
Häuptling der Atheisten, seit er vor gut zwei Jahren zum Chef
des Humanistenverbandes von Großbritannien gewählt
wurde."
In ganz
ähnlicher Weise wurde der Geschäftsführer
der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs),
der Philosoph Michael Schmidt-Salomon, in den Medien als "Deutschlands
Chefatheist" bezeichnet. Dabei vertritt die gbs einen "evolutionären
Humanismus". In einer älteren SPIEGEL-Ausgabe (22/2007) wird
der Humanistische Verband Deutschlands (HVD)
genauso selbstverständlich als "größte
Atheisten-Vereinigung" bezeichnet.
Die in den
Medien, nicht nur im SPIEGEL, in entsprechenden Beiträgen
gehäufte Verwendung der Begriffe Atheist oder Atheismus
kann zweierlei bedeuten: Ich denke, dass sie einerseits einen zunehmend
gelasseneren Umgang mit diesen Begriffen widerspiegelt. Das unterstelle
ich z. B. dem SPIEGEL. Andererseits schließe ich nicht aus,
dass Medien, die unter dem Einfluss gewisser interessierter Kreise
stehen, bewusst die bei den Lesern vorhandenen oder vermuteten
Vorurteile bedienen, jene Vorurteile, die aus dem Missbrauch dieser
Begriffe in den von einer pervertierten kommunistischen Ideologie
geprägten Herrschaftssystemen des 20. Jahrhunderts
herrühren. Dass der in diesen Systemen ausgerufene bzw.
staatlich verordnete "Atheismus" kein Atheismus, sondern purer Nihilismus
war, wird gerne unterschlagen.
Es gilt
darüber hinaus wohl auch, dass sehr viel Unklarheit
darüber besteht, wer oder was "Ungläubige" sind,
welchen Ideen sie in ihrer Lebensgestaltung folgen und was ihre
wachsende Zahl für die Entwicklung einer künftigen
Gesellschaft bedeuten könnte.
Daher finde ich
bemerkenswert, was der Historiker Callum Brown in seiner
Eröffnungsrede der oben erwähnten internationalen
Konferenz von Soziologen und Kulturwissenschaftlern in London
ausführte:
"Bisher wurde
die Atheismusforschung meist von christlicher Seite betrieben. Nun
kümmern sich endlich unvoreingenommene Wissenschaftler darum."
Wenn man unter
Atheismus nur das Fehlen eines Gottesglaubens versteht, dann sind z. B.
in Deutschland die Atheisten nicht nur unter den mehr als 37 %
Konfessionsfreien (s. fowid-Hochrechnung für
2011) zu finden – wobei
eingeräumt werden muss, dass nicht alle Konfessionsfreien
Atheisten sind –, sondern auch unter den
"Gläubigen". Im SPIEGEL-Beitrag war dazu Folgendes zu lesen:
"Ende Juni
beklagte beispielsweise der Münchner Erzbischof Kardinal
Reinhard Marx einen weitverbreiteten »verborgenen
Atheismus« innerhalb der Kirche, der viel schwerer in den
Griff zu bekommen sei als der öffentlich vorgetragene
Atheismus."
Marx
bekommt den "öffentlich vorgetragenen Atheismus" viel leichter
in den Griff? Er verriet nicht, wie er das anstellt …
Am
Ende des nun mehrfach zitierten
SPIEGEL-Artikels über die "Gottlosen" las ich etwas, was mich
sehr überraschte:
"Ausgerechnet die wohl
größte Gruppe der Ungläubigen bereitet
Forschern auch die größten methodischen Probleme:
die »apathischen Atheisten« oder
»religiös Indifferenten«. Ihnen sind
Götter ebenso egal wie Religionskritik. »Sobald man
diese Leute befragt, stört man ihre Apathie und ist versucht,
etwas in ihre Antworten hineinzuinterpretieren«, sagt
Historiker Brown. »Doch da ist einfach nichts da«."
Der Philosoph und Schriftsteller Gerhard Szczesny
(1918-2002) mag Zeitgenossen vor Augen gehabt haben, die sich
vielleicht nicht sehr von den eben beschriebenen "apathischen
Atheisten" unterschieden, als er in den letzten Zeilen seines 1958
erschienen Buches Die
Zukunft des Unglaubens ein düsteres
Zukunfts-Szenario beschrieb:
"Aber es geht um die viel
schwerwiegendere Tatsache, dass die unbesehen hingenommene
Gleichsetzung von »Christentum«,
»Religion« und »wahrer
Menschlichkeit« den nachchristlichen Menschen daran hindert,
seine metaphysischen und humanen Aufgaben zu erkennen.
Solange die öffentliche
Meinung des Westens darauf besteht, dass nur das Fürwahrhalten
der christlichen Glaubenspostulate die Welt retten kann, wird sie die
glaubenslose Zeit gewaltsam verlängern und immer neue
Generationen dem Zynismus, der Oberflächlichkeit und dem
Stumpfsinn in die Arme treiben."
Der von Szczesny vor
Jahrzehnten beschriebene gesellschaftliche Zustand hat sich leider bis
heute nicht geändert. Die Risiken der "glaubenslosen Zeit"
haben sich zweifellos weiter verschärft. Die aktuellen
statistischen Zahlen für Deutschland – mehr als 37%
sind konfessionsfrei (s. oben) und sogar 53%
glauben nicht mehr an einen Gott (EU-Umfrage Eurobarometer) –
zeigen, dass selbst unter den sog. "Gläubigen", die zudem in
ihrer übergroßen Mehrheit als "kirchenfern"
bezeichnet werden können, der traditionelle Glaube mehr und
mehr schwindet.
Was für Szczesny aber wohl
noch entscheidender war: Er sah schon zu seiner Zeit das Versagen der
"öffentlichen Meinung des Westens" oder besser: der sie
beherrschenden interessengeleiteten gesellschaftlichen Kräfte,
darin, dass sie alternativen Denkmodellen nicht denselben
Entfaltungsspielraum zubilligten, wie den längst
überholten "christlichen Glaubenspostulaten". Aber genau das
wäre erforderlich, um den Menschen, die ihren christlichen
Glauben verloren haben, eine neue Perspektive zu eröffnen.
Szczesny
sah nur eine, auch heute noch unverändert aktuelle, notwendige
Strategie zur Krisenbewältigung:
"Die bedrohlichen
Krisenerscheinungen dieser Zeit können nur aufgehalten werden,
wenn man allen Menschen, die sich dem Christentum für immer
entfremdet haben, zu der Erkenntnis verhilft, dass diese Entfremdung
sie weder der Möglichkeit noch der Verpflichtung enthebt, nach
einer Sinngebung ihres Daseins zu suchen."
Dieses klare, überzeugende
Wort Szczesnys
bedarf keines weiteren Kommentars.
Anmerkung
Den Hinweis auf die EU-Umfrage Eurobarometer fand ich
bei SPIEGEL ONLINE vom 05. Juni 2012.
Kampf gegen die Religion
– gegen das Christentum?
Für "Ungläubige" ist diese Frage nicht
völlig abwegig. Während meiner Beschäftigung
mit dem Christentum verspürte ich häufig Wut und
Empörung über das, was mir da begegnete –
historisch und aktuell. Es regte sich in mir eine gewisse Militanz.
Dies mag für Leserinnen und Leser, an der einen oder anderen
Stelle dieser Web Site, in polemischen Untertönen
spürbar sein. Dennoch habe ich während meiner
Recherchen nicht so sehr an "Kampf" gedacht, sondern primär an
Erkenntnisgewinn und Aufklärung.
Im Übrigen stellt sich die
Frage nach dem eigentlichen Gegner in etwaigen "Kampfhandlungen": Die
Religion bzw. das Christentum wären es heute m.
E. nicht mehr. Der verlustreiche "Kampf gegen die Religion" und gegen
deren "organisierte" bzw. "verfasste"
Ausprägung, wurde von unerschrockenen, intellektuell
redlichen,
Menschen früherer Generationen ausgefochten. In dessen Verlauf
wurden nicht nur die wahnhaften Züge religiöser
Weltanschauung aufgedeckt und hinlänglich beschrieben.
Spätestens seit der Aufklärung führte er, zwar nicht zur
vollständigen Beseitigung, aber immerhin zur Eindämmung
der überbordenden
Macht der etablierten Institutionen.
Ein erneuter "Kampf gegen die
Religion" würde ja nach wie vor auf den Versuch einer
intellektuellen Auseinandersetzung über deren Theologie bzw.
Ideologie hinauslaufen. Was eine mögliche Auseinandersetzung
dieser Art jedoch so nutzlos erscheinen lässt: In den meisten
Fällen wäre man wohl mit Gesprächspartnern
konfrontiert, die sich nicht an die Spielregeln intellektueller
Redlichkeit hielten. Der Philosoph Hans
Albert (*1921) hat sich in seinem Werk Traktat über kritische
Vernunft sehr treffend dazu
geäußert. Im Kapitel Glaube und Wissen,
dessen erster Abschnitt den Titel Die Theologie und die Idee
der doppelten Wahrheit trägt, diagnostiziert er
– nicht nur für die Theologie – eine
Tendenz, der Vernunft im Bereich der Wissenschaft "eine ganz andere
Funktion" zuzuschreiben "als im Bereich des sogenannten Glaubens". Er
nennt diese Verfahrensweise
"…
eine mit methodischen
Ansprüchen ausgestattete Zwei-Sphären-Metaphysik, die
in Verbindung mit der Idee der doppelten Wahrheit geeignet erscheint,
gewisse tradierte Anschauungen gegen bestimmte Arten der Kritik
abzuschirmen und dadurch einen inselhaften Bereich unantastbarer
Wahrheiten zu schaffen."
Für Albert ist dies
"ein ganz und gar dogmatisches Verfahren, ein Rückzug in den
vollkommenen Dogmatismus, und das heißt: in die vollkommene
Willkür", und er fährt fort:
"Das Motiv für die Wahl
einer solchen Strategie liegt im Allgemeinen auf der Hand: Man ist zwar
im sicheren Besitz der Wahrheit, hat dennoch eine gewisse Angst vor
kritischer Prüfung und opfert daher lieber die elementare
Moral des Denkens – nämlich die Logik –
als diesen angeblich sicheren Besitz."
Dass sich auch ein Kampf gegen "den
Monopolanspruch des Christentums auf die Wahrheit" erübrigt,
hat der Philosoph und Schriftsteller Gerhard Szczesny
(1918-2002) schon vor Jahrzehnten festgestellt:
"…, denn jener Anspruch
ist oft und überzeugend genug widerlegt worden."
Anmerkung
Das Szczesny-Zitate
stammt aus dem 1958 erschienenen Buch Die Zukunft des Unglaubens.
Wenn man dem Philosophen Herbert Schnädelbach
(*1936) folgt, gibt es noch einen anderen Grund, vom Kampf mit den
Vorreitern des Christentums abzusehen. In einem aufsehenerregenden
Beitrag mit dem Titel Der Fluch des Christentums,
in der ZEIT vom 11. Mai 2000, stellte er – sarkastisch(?)
– fest:
"Ich habe den Eindruck, dass das
verfasste Christentum in der modernen Welt sein tatsächliches
Ende längst hinter sich hat, aber ohne dies bemerkt zu haben."
Da drängt sich beinahe diese Frage auf:
Gliche ein Kampf gegen das "verfasste Christentum" dann nicht geradezu einer
Leichenschändung …?
Überzeugend finde ich, was
der französische Philosoph André Comte-Sponville
(*1952) in seinem Buch Woran
glaubt ein Atheist? kurzgefasst so formulierte:
"Gegen die Religion
kämpfen? Nein, das wäre der falsche Gegner. Besser
für die Toleranz, für die Trennung zwischen Kirche
und Staat, für die Freiheit des Glaubens und des Unglaubens.
Den Geist kann niemand für sich allein in Anspruch nehmen. Die
Freiheit auch nicht."
An anderer Stelle ergänzt
er seine Überlegungen zu der hier gestellten Frage
aus einem etwas anderen Blickwinkel:
"Ich
würde es mir nicht verzeihen, Menschen den Glauben zu nehmen,
die ihn brauchen
oder einfach besser mit ihm leben. Es sind unzählige. Einige
sind
bewundernswert […], die meisten respektabel. Ihr Glaube
stört mich nicht. Warum
sollte ich ihn bekämpfen? Ich bin ja kein atheistischer
Missionar. Ich versuche
nur, meine Position zu erläutern, zu begründen, und
das mehr aus Liebe zur
Philosophie denn aus Hass gegen die Religion. Es gibt freie Geister in
beiden
Lagern. An sie wende ich mich. Die anderen, ob gläubig oder
nicht, überlasse
ich ihren Gewissheiten."
Ein erneuter "Kampf gegen
die Religion" erscheint heute also als wenig sinnvoll. Hingegen bleibt
es eine
Daueraufgabe für "Ungläubige", u. a.
auf den Abbau der überholten und ungerechten finanziellen
und arbeitsrechtlichen Privilegien der Kirchen hinzuwirkenen oder sich
Versuchen der Kirchen, gesellschaftlich relevante Diskussionen
(Selbstbestimmtes Sterben, Schwangerschaftsverhütung, Homo-Ehe etc.) bevormundend zu
dominieren, entgegenzustellen. Darüber hinaus sehe ich
eine der Hauptaufgaben für "Ungläubige" darin,
alternative – säkular geprägte
– Konzepte zu erarbeiten, die den Menschen Orientierungshilfe
bieten für die
Entwicklung neuer eigener Positionen bzw. Überzeugungen. Das damit
verbundene Fernziel wäre: Individuen ein werteorientiertes, selbstverantwortlich
gestaltetes Leben und Handeln zu ermöglichen und, damit
einhergehend, die Voraussetzung für eine gerechtere
Gesellschaft bzw. für eine nachhaltig stabilisierte Demokratie zu
schaffen.
Wege zum Atheismus – ein kurzer Blick in die
Geschichte
Der
Begriff Atheismus bzw. die für
"Ungläubige" häufig gebrauchte Bezeichnung Atheisten
verbinden sich, in meinem Bewusstsein, sehr viel enger als
alle anderen mit (radikaler) Religionskritik.
Man
kann wohl davon ausgehen, dass es schon von Anfang an, seit den
frühesten
Entwicklungsstufen religiöser
Kulte und Denksysteme Individuen gab, die die zu ihrer Zeit
vorherrschende
Weltanschauung nur in Teilen oder gar nicht akzeptieren konnten. Unter
diesen
Andersdenkenden gab es sicher jene, die den Anstoß zur
Entstehung neuer
Religionen gaben, während andere unter ihnen alternative
philosophische
Denksysteme entwickelten. Letztere konnten dann kaum etwas anderes sein
als religionskritisch.
Wie weit sich, in der Kulturgeschichte der Menschheit, Spuren
religionskritischer
Denker zurückverfolgen lassen, ist mir nicht bekannt. Ich
vermute, dass sie in
alten Mythen der unterschiedlichsten Kulturen zu finden sind.
Die
im Folgenden
genannten Religionskritiker, Freidenker, Skeptiker,
Philosophen
und Naturwissenschaftler gehörten/gehören
unterschiedlichen
Geistesströmungen an und können in ihrer Mehrzahl nicht
als Atheisten bezeichnet werden. Im engeren Sinne gibt es letztere wohl
erst seit dem 17. Jahrhundert. M. E. gehören jedoch alle zu den
Wegbereitern des Atheismus.
Griechische und
römische Antike
Spätestens
aus der griechischen Antike kennen wir nicht nur die Namen von
Religionskritikern, sondern auch deren Ideen. Zu den frühesten
Wegbereitern des
Atheismus gehören: Xenophanes
von
Kolophon (um 570-um 480 v. Chr.), Demokrit
(460/459-371), Epikur
(342-271), Straton
(um 340-um 268). Etwa zweihundert Jahre nach Epikur bezog sich der
römische Dichter und Philosoph Lukrez
(um 97-um 55) in seinem Werk De
rerum natura auf dessen Philosophie. Mit
eigenen gesellschaftskritischen Überlegungen ging er jedoch
über die Religionskritik
Epikurs hinaus.
Bekannte
Worte von zwei der genannten griechischen Philosophen habe ich auf
dieser
Website schon an anderer Stelle zitiert: Xenophanes,
Epikur.
Neuzeit
– Renaissance
Im
15. und 16. Jahrhundert, in der Renaissance, mit der die
europäische
Neuzeit begann, wurden die griechischen und römischen
Philosophen wiederentdeckt,
und ihre Ideen beeinflussten die geistige Entwicklung dieser und aller
folgenden Epochen bis in unsere Gegenwart.
Von
der Renaissance bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts
gehörten Philosophen
und Naturwissenschaftler, die häufig beide
Geisteswelten in sich vereinigten,
zu den Wegbereitern des Atheismus, ohne
selbst Atheisten im engeren Sinne zu
sein. Teilweise waren sie auch mit der Theologie vertraut. Ihre
naturwissenschaftlichen
Erkenntnisse brachten das alte, vom organisierten Christentum vehement
verteidigte, Weltbild ins Wanken. Ihre philosophischen Ideen hatten
großen
Einfluss auf Denker der Folgezeit. Zu ihnen zählen Nikolaus Kopernikus
(1473-1543), Michel de Montaigne (1533-1592), Johannes Kepler (1571-1630), Giordano
Bruno (1548-1600), Galileo Galilei (1564-1642), Lucilio Vanini (1585-1619).
Exemplarisch
seien hier Worte von Giordano Bruno und Lucillio Vanini zitiert (gefunden bei Friedrich
Hagen):
"Das
unendliche All ist Gott, alles ist beseelt und ständig sich
wandelnd, man
verehrt das Göttliche, indem man die universalen Gesetze
erforscht, denn jede
Erkenntnis eines Naturgesetzes ist eine sittliche Tat." (Bruno)
"Die
Materie ist ewig … Gotteskraft und Naturgesetz sind
identisch …." (Vanini)
Beide
endeten für ihre Überzeugungen auf dem Scheiterhaufen.
Neuzeit
– Aufklärung
Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648)
begann
die Frühaufklärung
und im 18. Jahrhundert folgte das Zeitalter der
Aufklärung.
Aufgrund ihrer wichtigen Beiträge zur Religions-
und auch zur Gesellschaftskritik werden für diese
Epoche häufig folgende Skeptiker, Freidenker und
Atheisten aus Deutschland, England, Frankreich, Irland und den
Niederlanden genannt: François de La Mothe le Vayer
(1588-1672), Baruch de Spinoza (1632-1677),
John Locke
(1632-1704), Matthias
Knutzen (1646-nach 1674), Pierre
Bayle (1647-1706), Jean Meslier
(1664-1729), John
Toland (1670-1722), Voltaire
(1694-1778), Julien
Offray de La
Mettrie (1709-1751), David Hume (1711-1776), Jean
Jacques Rousseau (1712-1778),
Denis Diderot (1713-1784), Claude Adrien Helvétius
(1715-1771), Paul
Thiry d’Holbach (1723-1789).
Ein
bekanntes Wort des französischen Philosophen Paul
Thiry d’Holbach wurde
schon an anderer Stelle dieser Site zitiert (s. hier).
Für
den Philosophiehistoriker Winfried Schröder
(*1956), Herausgeber des Traktats über die drei
Betrüger, ist der
Deutsche Matthias
Knutzen der erste namentlich bekannte
Atheist der
europäischen Neuzeit.
Es
sei noch erwähnt, dass es in jener Epoche auch in Polen und
Russland
atheistische Denker gab. Z. B. veröffentlichte der polnische
Philosoph Kasmierz
Lyszczynski (1634-1689) eine atheistische
Schrift mit dem Titel Über die
Nichtexistenz Gottes. Er wurde
dafür geköpft und verbrannt.
Selbst
Voltaire,
der nicht Atheist war, sondern Deist,
war noch in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts Anfeindungen und Verfolgungen
durch kirchliche
Instanzen ausgesetzt.
Mit
ihren, über die Religionskritik hinausgehenden,
gesellschaftskritischen Ideen gaben
vor allem Denker Frankreichs wichtige Impulse für die
Entstehung eines
geistigen Klimas in der französischen Feudalgesellschaft des
18. Jahrhunderts,
in dem es schließlich zum Ausbruch der Französischen Revolution
von 1789 kam.
Jean Meslier –
"Atheist im Priesterrock"
Dem besonderen Menschen Jean Meslier
(1664-1729),
der in der abgelegenen französischen Provinz, unter widrigsten
Umständen, eine
bemerkenswert eigenständige Position zur Religion und zu den
gesellschaftlichen
Missständen seiner Zeit entwickelte, widme ich hier ein
eigenes Kapitel.
Meslier
beschrieb seine Position ausführlich in einem Werk, das nach
seinem Tode in
handschriftlicher Form vorgefunden wurde. Es wird heute meist als sein
"Testament"
bezeichnet. Diese Bezeichnung geht auf Voltaire
(1694-1778) zurück. Der ursprüngliche, von Meslier
persönlich formulierte, Titel seiner Schrift lautet (nach Hartmut
Krauss):
"Vermächtnis
der Gedanken und Ansichten von Jean Meslier, Priester, Pfarrer von
Etrépigny
und Balaives, über einen Teil der Irrtümer und
Missstände in der Lenkung und
Leitung der Menschen, worinnen sich klare und deutliche Beweise
für die
Eitelkeit und Falschheit aller Gottheiten und aller Religionen der Welt
finden,
das nach seinem Tode seinen Pfarrkindern zukommen soll, damit es ihnen
und
ihresgleichen als Zeugnis der Wahrheit diene"
Mesliers
"Vermächtnis" wurde nach seinem Tod, vollständig oder
in Teilen,
vielfach kopiert und heimlich verbreitet. Eine gedruckte Gesamtausgabe
erschien
erstmals in 1867(!) in Amsterdam. Der Herausgeber einer, in 2005
erschienenen,
gekürzten deutschen Ausgabe, der Sozial- und
Erziehungswissenschaftler Hartmut Krauss
(*1951), gab ihr den
Titel Das
Testament des Abbé Meslier,
und er fügte den Untertitel "Die Grundschrift der modernen
Religionskritik"
hinzu.
Meslier
gliederte seine Schrift in 97 Kapitel, in denen er sich in etwa mit
diesen drei
Hauptthemen befasst:
- Kritik
an den Religionen der Welt, insbesondere am Christentum sowie an dessen
überlieferten Schriften und verkündeten Lehren,
- Kritik
an den vielfältigen gesellschaftlichen Missständen
seiner Zeit und Vorschläge
zur Abhilfe,
- Kritik
am Gottes- bzw. Schöpferglauben und Entwicklung eines
materialistisch-atheistischen Weltbildes.
Im
Folgenden sind einige Kapitelüberschriften exemplarisch
zitiert (aus Das Testament des
Abbé Meslier):
4.
Erster Beweis
für die Eitelkeit und
Falschheit der Religionen, die allesamt nur menschliche Erfindungen sind
14.
Über die Unzuverlässigkeit der sogenannten Heiligen
Schrift, die gefälscht und
immer wieder verändert wurde
31.
Zweiter Irrtum, die Fleischwerdung Gottes zum Menschen betreffend
41.
Sechster Beweis
für die Eitelkeit und
Falschheit der christlichen Religion, hergeleitet aus den
Missbräuchen, den
rechtswidrigen Drangsalierungen und der Tyrannei der großen
Herren, die sie
duldet oder gar rechtfertigt
42.
Erster Missstand: das große und ungeheure
Missverhältnis der Rangordnungen und
Stände der Menschen, die von Natur aus alle gleich sind
51.
Über den großen Nutzen und die großen
Vorteile, die alle Menschen hätten, wenn
sie friedlich zusammenlebten und alle gemeinsam die Annehmlichkeiten
und Gaben
des Lebens nutzten
64.
Weder die Schönheit, noch die Ordnung, noch die Vollkommenheit
der Werke der
Natur sind auch nur der geringste Beweis für die Existenz
Gottes, der sie
geschaffen haben soll
71.
Das Sein oder, was dasselbe ist, die Materie kann nur aus sich selbst
Existenz
und Bewegung erhalten haben
Schon
bevor ich begann, mich mit dem Atheismus zu befassen, war ich auf ein
in 1977
veröffentlichtes Büchlein des Schriftstellers Friedrich
Hagen
(1903-1979)
gestoßen. Es trägt den Titel Jean Meslier
oder ein Atheist im Priesterrock und es enthält die
überarbeitete Fassung
eines Vortrags, den er in 1975, auf Einladung des Bundes für Geistesfreiheit,
in Nürnberg gehalten hatte. Hagen stellt darin den Atheisten und
Frühaufklärer Jean Meslier
(1664-1729) in eine Reihe mit seinen geistigen
Vorläufern in Antike und Renaissance und mit seinen
gleichgesinnten Nachfolgern
im Europa des 18. Jahrhunderts. Es enthält wichtige Worte
großer Denker aus dem
Zeitraum von der griechischen Antike bis zum Zeitalter der
Aufklärung und ist
daher ein wahrer Zitatenschatz.
U.
a. zeichnet Friedrich Hagen Verbindungslinien zwischen dem
Gottesbegriff Mesliers
und dem eines antiken Denkers:
"Er
sieht im Gottesbegriff noch nicht einmal – wie
später Nietzsche und Sartre
–
ein projiziertes Idealbild der menschlichen Selbstverwirklichung. Nein
er
verwirft kurzweg jede Religion und mit ihr jeden Gott. Da er
überzeugt ist,
dass kein Gott existiert, greift er nicht einen Gott, sondern seine
Nutznießer
an. Er zerpflückt die Gottesidee und widerlegt sie durch die
Vorstellung der
Materie als unendliche Ausdehnung in Raum und Zeit.
Das
ist nicht neu. Ein gewisser Straton, der im Jahr 270 vor
unserer Zeitrechnung
starb, hatte erklärt, das Göttliche sei die Natur,
eine Natur ohne Bewusstsein
und ohne Zweck und Ziel. Für Straton wurde die Welt nicht von
Göttern
erschaffen, die in Wahrheit nichts anderes sind als personifizierte
Naturerscheinungen."
Und
einige Zeilen weiter ergänzt Hagen:
"Mit
acht Beweisen der Nichtexistenz eines Gottes entkräftet er
logisch, aufrichtig
und gewissenhaft die acht herkömmlichen Gottesbeweise.
Später kommen kluge
Leute und schreiben den Gegenbeweisen eine »erschreckende
Logik« zu."
Nach
Hagen entwirft Meslier
"das Gedankengebäude eines atheistischen
Materialismus", ohne den Begriff "Materialismus" zu verwenden,
der erst Jahrzehnte nach seinem Tod gebräuchlich wurde:
»Gott
und die Materie sind ein und dieselbe Sache. … Die Natur
braucht, um sich zu
bewegen, keinen göttlichen Nasenstüber. …
Die angebliche Einmischung Gottes
wäre unnütz und grundsätzlich
unverständlich.«
Mit
einem Voltaire-Zitat zeigt Friedrich Hagen gegen Ende seiner
Würdigung des
"Atheisten im Priesterrock", welche Wertschätzung Meslier und sein
"Testament" im Aufklärungszeitalter genossen:
"1762
schreibt Voltaire in einem Brief: »Ich habe den christlichen
Wunsch, dass sich
das Testament des Pfarrers Meslier
multiplizieren möge wie die fünf Brote und
dass es die Seelen von Fünftausend speise, denn mehr als je
verabscheue ich die
Infame«."
Anmerkung
Das
Wort "die Infame" im vorausgehenden Voltaire-Zitat lautet im
Französischen "l'infâme". Voltaire beendete viele
seiner Briefe mit
dem Aufruf "Ecrasez l'infâme!". Es gibt verschiedene
Übersetzungen
bzw. Deutungen. Gebräuchliche Übersetzungen sind
"Vernichtet die
Schändliche!" oder "Zermalmt die Niederträchtige!"
Gemeint ist
die katholische Kirche.
Im
Folgenden zitiere ich einen vergleichsweise umfangreichen Text aus der
deutschen Ausgabe von Mesliers
"Testament", und zwar
aus dem ersten Kapitel,
das die Überschrift Vorrede
– die Absicht
des Werkes trägt. Einerseits ist er
charakteristisch für die ungeschminkte,
radikale Christentums- und Gesellschaftskritik Mesliers,
andererseits hat der
zweite Teil des Textes, in dem Meslier
den "Wunsch" eines
Gesprächspartners wiedergibt, eine ganz eigene
Wirkungsgeschichte:
"Ach,
meine lieben Freunde, wenn Ihr die Hohlheit und die Unsinnigkeit jener
Irrlehren,
die man Euch unter dem Deckmantel der Religion beigebracht hat, richtig
kenntet, wenn Ihr wüsstet, wie ungerecht, wie
unwürdig man die Macht über Euch,
die man sich erschlichen hat, unter dem Vorwand, Euch zu regieren,
missbraucht:
Ihr empfändet sicher nur Verachtung für all das, was
man Euch anbeten und
verehren lässt, und nichts als Hass und Empörung
gegenüber all denen, die Euch
betrügen, Euch so schlecht regieren und so schändlich
behandeln. Dies erinnert
mich an den Wunsch, den ein Mann einmal äußerte, der
weder die Wissenschaft
kannte noch Bildung besaß, dem es aber offensichtlich nicht
an Urteilskraft
mangelte, um all die ekelerregenden Missstände und
verabscheuungswerten
Willkürherrschaften, die ich hier anklage, richtig
einzuschätzen; sein Wunsch
und die Art, seinen Gedanken auszudrücken, zeigen, dass er
recht scharfsinnig
war und tief genug in dieses abscheuliche Mysterium der Bosheit, von
dem ich
gerade rede, eingedrungen war, da er so gut dessen Urheber und
Förderer
erkannte. Er
wünschte, dass all die Großen der Erde und alle
Adligen mit den
Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt
werden sollten. Dieser Ausdruck wird
nicht verfehlen, roh, ungehobelt und empörend zu wirken, aber
man wird zugeben
müssen, dass er freimütig und naiv ist; er ist kurz,
aber ausdrucksvoll, da er
mit wenig Worten genug darüber aussagt, was solche Leute
verdienten."
Anmerkung
Hervorhebung
im vorausgehenden Zitat stammt vom Autor der Site.
Der
Schriftsteller Friedrich Hagen (1903-1979) zeigt
in seiner Schrift über den
"Atheisten im Priesterrock", dass der "Wunsch" des
unbekannten Gesprächspartners Mesliers in leicht
abgewandelter Form später in
einem Brief von Voltaire (1694-1778) an Helvétius
(1715-1771) sowie in einem Gedicht von Denis Diderot (1713-1784)
auftauchte.
Bis heute begegnet man immer wieder der Auffassung, Diderot sei der
Urheber
gewesen. Dabei hatte dieser bei Meslier abgeschrieben. Hagen
erwähnt darüber
hinaus, dass der russische Dichter Puschkin (1799-1837) die von Meslier
dokumentierten Gedanken eines Unbekannten ebenfalls aufgriff und,
entsprechend
angepasst, auf die Herrschaftsstrukturen des zaristischen Russland
bezog und
dass sehr viel später, im
Mai
1968, während
der
Studentenunruhen in Paris, ein analog auf die Situation an den
Lehranstalten bezogener
Text die
Wand einer Universität zierte.
Anmerkungen
Bevor Mesliers Testament von Hand zu Hand
ging, waren schon einige Jahrzehnte lang zwei atheistische Schriften
anonymer
Autoren im Umlauf:
-
Als frühestes religionskritisches Dokument der Neuzeit mit
atheistisch
geprägtem Inhalt gilt die Arbeit eines unbekannten
französischen Autors, die
unter dem Titel Theophrastus
redivivus um das Jahr 1659
veröffentlicht wurde.
Der Autor kritisiert darin die "gängigen Gottesbeweise"
– für ihn
existiert kein Gott.
-
Wenig später, wahrscheinlich im letzten Viertel des 17.
Jahrhunderts, erschien
dann ein Werk, dessen anonymer Autor radikale Religionskritik
übte bzw. einen
"konsequenten Atheismus" vertrat. Es trägt den Titel Traktat
über die drei Betrüger. Mit den
"drei Betrügern" sind Moses, Jesus und Mohammed gemeint, die
Protagonisten der drei "Offenbarungsreligionen". Der Traktat war
während der Aufklärung weit verbreitet.
Neuzeit – nach dem
Aufklärungszeitalter
Auf
die Frage nach herausragenden atheistischen Denkern seit dem Ende des
Aufklärungszeitalters werden meist der Philosoph, Anthropologe
und
Religionskritiker Ludwig
Feuerbach (1804-1872), der Philosoph und
Gesellschaftskritiker Karl Marx
(1818-1883), der Philologe und Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900)
und der Tiefenpsychologe und Religionskritiker Sigmund
Freud (1856-1939) genannt.
Ich denke, dass auch noch
diese Denker genannt werden sollten: der brit. Philosoph und
Mathematiker Bertrand Russell (1872-1970), der
brit. Biologe und Philosoph Julian Huxley (1887-1975), der
deutsch-amerik. Sozialpsychologe und Philosoph Erich
Fromm (1900-1980), der österr. Philosoph und
Schriftsteller Günther Anders
(1902-1992), der deutsche Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich
(1908-1982), der franz. Schriftsteller Albert
Camus (1913-1960). Die Aufzählung ließe
sich fortsetzen.
Im
Buch Warum ich kein Christ sein will
von Uwe Lehnert (*1935) fand ich
dieses Wort des österreichischen Philosophen und
Schriftstellers Günther
Anders:
"Nach
Auschwitz besteht mein Atheismus nicht mehr einfach in der Bestreitung
›seines‹
Daseins, sondern in meiner Empörung über die
Würdelosigkeit derer, die einem,
der dies zugelassen hat, im Gebet
nahen."
Ludwig Feuerbach
Auf
den besonderen »Atheismus« Ludwig Feuerbachs sei
hier kurz eingegangen. Die mir
vorliegende Ausgabe seines bekannten Werkes Das
Wesen des Christentums enthält ein
Nachwort von Karl Löwith (1897-1973),
der
ebenfalls Philosoph und Religionskritiker (und wohl auch Atheist) war.
Unter
Einbeziehung von Feuerbach-Zitaten
schreibt Löwith:
"Indem
Feuerbach die Philosophie als solche zur Religion erklärt, ist
sein »Atheismus«
– wie ihm Stirner vorhielt
– selbst
noch ein »frommer«. Durch diesen Vorwurf
fühlte er sich aber nicht getroffen.
Denn er wollte ja nur das »Subjekt« der
religiösen Prädikate, Gott beseitigen,
aber keineswegs die Prädikate selbst in ihrer menschlichen
Eigenbedeutung.
»Ein
wahrer Atheist, d. h. ein Atheist im gewöhnlichen Sinne, ist
daher auch nur
der, welchem die Prädikate des göttlichen Wesens, wie
z. B. die Liebe, die
Weisheit, die Gerechtigkeit nichts sind, aber nicht der, welchem nur
das
Subjekt dieser Prädikate nichts ist. […] Die
Prädikate haben eine eigene,
selbständige Bedeutung; sie dringen durch ihren Inhalt dem
Menschen ihre
Anerkennung auf: Sie erweisen sich unmittelbar durch sich selbst als
wahr; sie
bestätigen, bezeugen sich selbst. Güte,
Gerechtigkeit, Weisheit sind dadurch
keine Chimären, dass die Existenz Gottes eine
Chimäre, noch dadurch Wahrheiten,
dass diese eine Wahrheit ist […]«.
Feuerbach
war also kein »gewöhnlicher« Atheist, bzw.
er war es, nämlich sofern der
Atheismus für gewöhnlich gerade das ist, als was ihn
Feuerbach angibt: ein
Bestehenlassen der christlichen Prädikate unter Abstraktion
von ihrem
Subjekt!"
Löwith
schließt sein Nachwort mit einem Feuerbach-Zitat, mit
dem er, wie ich meine,
die in seiner Selbstrelativierung erkennbare menschliche
Größe dieses
außergewöhnlichen Denkers würdigt:
"Feuerbachs
Religionskritik konnte und wollte nicht etwas Abschließendes,
sondern nur etwas
Vorläufiges sein, dessen Konsequenzen jedoch nicht ausbleiben
würden. Ihre
Grundgedanken, meinte er, würden bestehen bleiben, aber
»nicht in der Weise, in
welcher sie hier ausgesprochen sind und unter den
gegenwärtigen
Zeitverhältnissen ausgesprochen werden konnten«."
Mir
scheint, dass der von Feuerbach
als »wahrer« bzw. als »Atheist im
gewöhnlichen
Sinne« bezeichnete Atheist kein Atheist, sondern ein Nihilist ist, der nicht nur den
Glauben an einen Gott ablehnt,
sondern auch die Gültigkeit von Werten bestreitet. Klar wird,
dass Feuerbach
sich
nicht als »wahrer« Atheist sieht. Er fügt
seiner eigenen atheistischen Haltung
im vorausgehenden Zitat jedoch kein abgrenzendes Attribut hinzu. Kann
man davon
ausgehen, dass Feuerbach
die mit dem "Subjekt" verknüpften
"Prädikate" gedanklich mit den
griechisch-jüdisch-christlichen
Werten verband? Ich vermute es.
Wichtige naturwissenschaftliche
Fortschritte
Wichtige
Impulse für die weitere Erschütterung des immer noch
von religiösen
Vorstellungen, z. B. vom Schöpfungsglauben, dominierten
Weltbildes gingen im
19. Jahrhundert von wesentlichen Fortschritten in den
Naturwissenschaften aus. Einen
kaum zu überschätzenden Beitrag zur Festigung eines
materialistisch-atheistischen Weltbildes leistete der britische
Naturforscher Charles
Darwin (1809-1882): Mit seinem 1859
veröffentlichten Werk Über
die Entstehung der Arten schuf er
die Grundlage der Evolutionstheorie bzw. der
modernen Evolutionsbiologie. Kurz
gesagt: Darwin
erklärt die Entstehung der Artenvielfalt durch natürliche
Selektion und durch, ebenfalls natürliche, das
Erbgut verändernde Mutationen.
In
Deutschland machte der Mediziner, Zoologe und Freidenker Ernst Haeckel (1834-1919) die
Darwinsche Theorie bekannt und leitete aus ihr seine Abstammungslehre
ab.
Weitere,
vielleicht entscheidende Impulse, sind aus den Forschungen zu erwarten,
die
sich mit der Entstehung von organischen aus anorganischen
Molekülen
beschäftigen. Die zugrunde liegende wissenschaftliche
Hypothese wird auch chemische Evolution genannt. Ziel
dieser Forschungen ist die Antwort auf die
Frage nach der Entstehung des Lebens. Heute gehen wir davon aus, dass
das Leben
vor rund 4 Milliarden Jahren entstand. Und dieses Ereignis war der
Startschuss
für die oben angedeutete biologische Evolution.
Erste
Versuche in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
erbrachten schon
erstaunliche Ergebnisse. Auf Anregung des Chemikers Harold
C. Urey (1883-1981)
führte der damalige Student Stanley
L. Miller (1930-2007) in 1953 einen
chemischen Versuch durch, der seitdem "Miller-Urey-Experiment" genannt
wird: Miller löste in einem Gasgemisch aus
anorganischen Molekülen, das die angenommene
Uratmosphäre der Erde
repräsentierte, elektrische Entladungen aus, mit denen er
Blitze in der
Erdatmosphäre simulierte. Nach einiger Zeit ließen
sich in der
Versuchsanordnung verschiedene organische Moleküle nachweisen,
u. a. Aminosäuren, die zu den
Bausteinen von Proteinen gehören.
Trotz
weiterer Fortschritte gibt es noch viele offene Frage, u. a.
mögliche Einflüsse
aus dem Weltall betreffend. Daher gibt es derzeit keine
schlüssige Theorie, die die
Entstehung des Lebens erklären könnte. Es ist jedoch
anzunehmen, dass auch
dieses Geheimnis eines Tages gelüftet wird. Da der Gegenstand
der
Untersuchungen außerordentlich komplex ist, kann heute
niemand sagen, wann
mit einem Ergebnis zu rechnen ist.
Einige
namhafte Atheisten der jüngeren Vergangenheit und der
Gegenwart sind im Kapitel "Alte" und
"Neue"
Atheisten
erwähnt.
Atheismus
–
ein Annäherungsversuch
In
den
vorausgehenden Kapiteln war viel von Atheismus die Rede, ohne dass eine
Erläuterung dieses Begriffes erfolgt wäre. Klar ist
bisher nur, dass es sich um
eine mögliche Geisteshaltung oder "Lebensform" für
"Ungläubige" handelt. Und klar ist auch, das zeigte der kurze
Blick
in seine Entwicklungsgeschichte, dass er sehr eng mit Religions- und Gesellschaftskritik
verknüpft ist.
Da
ich
einerseits mit dem Thema noch zu wenig vertraut bin, andererseits nicht
einfach
nur auf WIKIPEDIA verweisen will, verwende ich für die
folgenden Betrachtungen
Informationen, die ich den folgenden zwei Fundstellen entnahm: dem Lexikon
der
EZW und den "Stichwörtern" der u. a. vom Bund für Geistesfreiheit
initiierten Seite Arbeitskreis Ethikunterricht in Bayern
(aeb).
Erscheinungsformen
Im Lexikon
der EZW fand ich unter dem
Stichwort Atheismus u. a. die folgenden einleitenden
Sätze:
"Der
neuzeitliche Atheismus entstand in Ländern und Gesellschaften,
die durch das
Christentum geprägt wurden. Er ist insofern ein
Phänomen mit geographischen
Begrenzungen, obgleich nichttheistische Überzeugungen auch in
anderen Kulturen
und im Zusammenhang nichtchristlicher Religionen verbreitet sind.
[…]
Im
europäischen Kontext haben sich unterschiedliche
Ausprägungen atheistischer
Bestreitungen Gottes herausgebildet."
Es
folgt eine Beschreibung von "Grundtypen des Atheismus":
"Folgende inhaltliche Grundtypen des Atheismus
lassen sich unterscheiden: die Ablehnung Gottes im Namen der leidenden
Kreatur
(akkusarischer Atheismus mit Bezug auf die Theodizeefrage), die
Ablehnung
Gottes im Namen von Vernunft und Wissenschaft (Szientismus), im Namen
der Natur
(Naturalismus), im Namen des Menschen (Humanismus), im Namen des Lebens
(Vitalismus), im Namen der Mündigkeit (psychologischer
Atheismus), im Namen der
Freiheit (Existentialismus). Hinzuweisen ist darüber hinaus
auf den praktischen
Atheismus und die Haltung der Gleichgültigkeit
gegenüber religiösen
Wahrheitsgewissheiten und einen methodischen Atheismus, der das
wissenschaftliche
Arbeiten bestimmt."
Anmerkung
Die
im
Zitat eher beiläufig angesprochene "Haltung
der
Gleichgültigkeit gegenüber religiösen
Wahrheitsgewissheiten" entspricht
wohl weitgehend jener der sog. "apathischen Atheisten" oder
"religiös Indifferenten". Letztere wurden schon an anderer
Stelle auf
dieser Seite erwähnt, dort aber als die "wohl
größte Gruppe der
Ungläubigen" (hier).
Sieht man vom "praktischen Atheismus"
(Haltung der meisten Kirchenmitglieder, die ihr Leben gestalten, als
gäbe es
keinen Gott), von der "Haltung der Gleichgültigkeit
gegenüber religiösen
Wahrheitsgewissheiten" und vom "methodischen Atheismus"
(Wissenschaftler
wenden Methoden an, die ohne jeden Bezug auf eine Gottheit
funktionieren) ab, so
haben die sieben anderen, vom EZW genannten "Grundtypen des
Atheismus", ein charakteristisches
Merkmal gemeinsam: "die Ablehnung Gottes". Ihre Unterschiede zeigen
sich in den zugrunde liegenden Motiven.
Beim
aeb fand ich unter dem Stichwort Atheismus
u. a. einen Beitrag des Juristen und Autors Gerhard Czermak (*1942). Er
verwendet eine andere
Typisierung von
Erscheinungsformen des Atheismus:
"Es gibt grundverschiedene Arten von
Atheismus,
etwa theoretischen und praktischen, toleranten und militanten,
humanistischen
und marxistischen, […]."
Mit
einigen dieser Attribute des Atheismus assoziiere ich, neben
unterschiedlichen Denkweisen, charakteristische
Verhaltensweisen seiner jeweiligen Anhänger, und
diese
Verhaltensweisen, insbesondere "tolerant" oder "militant"
etwa, sind ebenso bei den "grundverschiedenen Arten" von
religiös
geprägten Haltungen bzw. bei deren jeweiligen
Gruppenmitgliedern zu finden. Berücksichtigt
man zudem die Tatsache, dass auch im Christentum verschiedene
"inhaltliche
Grundtypen" bzw. Konfessionen existieren, dann wird deutlich, dass das,
was insbesondere dem Atheismus nachgesagt wird, er sei pluralistisch,
nicht nur
für ihn gilt. Das wiederum hat offenbar etwas damit zu tun,
dass der
Gottesglaube und der Atheismus eine
Gemeinsamkeit aufweisen: Nach Czermaks Diagnose ist es die "Leerformelhaftigkeit" der beiden
Begriffe "Gott" und "Atheismus". Und er gibt, wie ich
meine, eine einleuchtende Begründung für seine
Auffassung:
"Im
Allgemeinen versteht man heute unter Atheisten –
schärfer – Menschen, die nicht
nur nicht an die Existenz eines »Gottes« oder von
Göttern »glauben«, sondern
darüber hinaus von der Nichtexistenz Gottes überzeugt
sind. Der Sprachgebrauch
ist jedoch unklar. Auch im engeren Wortsinn ist Atheismus
unscharf, weil
mit dem Gegenbegriff »Gott« die unterschiedlichsten
Auffassungen bis in
unmittelbare Nähe des »Atheismus« (s. die
mittelalterliche Mystik) benannt
werden. Die bloße Rede von Gott ist genau genommen, wie schon
gesagt, eine
sprachliche Leerformel. Selbst Martin Luther hat einmal gesagt:
»Gott ist eine
leere Tafel, auf der nichts weiter steht, als was du selbst darauf
geschrieben«".
Czermak
spricht darüber hinaus nachteilige Aspekte des
Atheismus-Begriffs an, u. a. das
"Negativ-Image", die dazu führen, dass Menschen mit
atheistischer
Haltung in einer Selbstauskunft eher auf positiv
besetzte Bezeichnungen zurückgreifen, die darüber
hinaus ihre "philosophisch-ethischen
Grundüberzeugungen" für Außenstehende
besser erkennbar machen:
"Dem
(negativ besetzten) Begriff Atheismus haftet etwas
Kämpferisch-Altmodisches an, dem der große Gegner
abhandengekommen ist.
Vielfach wird daher als Bezeichnung der positive Begriff
(säkularer) Humanismus
bevorzugt.
[…]
Ein Nachteil
des Atheismus-Begriffs ist – über die sich
aus der sprachlichen Ableitung
vom Begriff Theismus ergebende Unklarheit und sein Negativimage hinaus
– seine geringe
Aussage- und Strahlkraft. Nicht an »Gott«
zu glauben bedarf heute
hierzulande keiner besonderen intellektuellen oder ethischen Leistung
und
besagt nichts über die jedem ernsthaften Atheisten eigenen
philosophisch-ethischen Grundüberzeugungen und
Verhaltensweisen."
Weitergehende
Klärung durch Abgrenzung
Auf der Seite des aeb
ist unter dem Stichwort Atheismus auch ein Beitrag des Philosophen Joachim
Kahl (*1941)
enthalten. Darin bietet er eine hilfreiche weitergehende
Klärung durch
"Abgrenzungen" gegenüber Begriffen, die häufig mit
dem Atheismus in
Verbindung gebracht werden. Zunächst postuliert er:
"Atheismus ist Gottesleugnung und klar zu
unterscheiden von
Gotteslästerung, Antitheismus, Neuheidentum und Agnostizismus."
Anschließend arbeitet er die
Gegensätzlichkeit bzw. inhaltliche
Unvereinbarkeit dieser Begriffe mit dem Atheismus heraus:
"Gotteslästerung oder Blasphemie, fast
so alt wie der Gottesglaube
selbst, ist eine unreflektierte, emotionale Form der Religionskritik.
Ein
Gotteslästerer bleibt religiös fixiert. Statt Gott zu
lieben, verflucht er ihn,
weil er sich in seinen Hoffnungen enttäuscht sieht."
Und er hebt hervor, dass die von Atheisten
geübte Religionskritik,
verglichen mit der "Gotteslästerung", eine fortgeschrittene
Entwicklungsstufe darstellt. Es folgt eine Charakterisierung des
"Antitheismus":
"Psychologisch und inhaltlich verwandt mit der
eifernden Art der Gotteslästerung ist der Antitheismus, eine
militante Art der
Gottesbekämpfung. Während der Atheist lediglich Gott
leugnet – ihn in seiner
Existenz argumentativ bestreitet und als Phantom, als Phantasiegebilde
entlarvt –, meint der Antitheist,
»Gott« aktiv bekämpfen zu müssen.
Antitheismus ist
daher verbunden mit verbiestertem Religionshass, mit hämischer
Pfaffenfresserei."
Ebenso
einleuchtend beschreibt Kahl
die inhaltliche Unvereinbarkeit der Begriffe
"Neuheidentum" und "Agnostizismus" mit dem Atheismus:
"Der
hier vorgestellte Atheismus grenzt sich weiterhin ab gegen jede Form
von
Neuheidentum. Neuheidentum wärmt ältere Stufen der
Religionsgeschichte
künstlich wieder auf, die durch die Entwicklung zum
Monotheismus geistig-kulturell
überholt sind.
[…]
Eine
letzte begriffliche Klärung sei durch die Abgrenzung des
Atheismus gegen den
Agnostizismus herbeigeführt. Ein Agnostiker lässt die
Frage nach Gott in der
Schwebe, erklärt sie theoretisch für nicht
lösbar, für rational unentscheidbar.
Zwar steht er in der Regel inhaltlich der Religion ablehnend
gegenüber, aber er
vermeidet es, sich auf eine atheistische Aussage eindeutig festzulegen.
So ist
der Agnostizismus – nicht zu verwechseln mit Skepsis, die der
Wahrheitssuche
verpflichtet ist – eine heute weit verbreitete Haltung
weltanschaulicher
Laxheit."
Nach meiner persönlichen
Einschätzung ist noch eine
weitere Abgrenzung erforderlich: gegenüber dem Nihilismus.
Dies erscheint mir
insbesondere deshalb als notwendig, weil es interessengeleitete
Kräfte in
unserer Gesellschaft gibt, die den Atheismus bewusst in die
Nähe des Nihilismus
rücken. Im schon mehrfach zitierten EZW-Lexikon
fand ich eine Feststellung, in
der zunächst richtig dargestellt wird, dass der Nihilismus
"eine
allgemeingültige Wertordnung und jeden religiösen
Glauben" ablehne. Dann
folgt jedoch die These, er könne "als die Konsequenz des
Atheismus gesehen
werden".
Ich
teile diese Auffassung nicht, weil ich bei Kirchenoberen,
ihren Verbündeten in Politik und Medien und bei sog.
"Gläubigen" immer
wieder feststellen konnte, dass sie, offen oder versteckt,
Religionslosigkeit
gleichsetzten mit der Abwesenheit von Werten (s. auch eine
Einschätzung des Philosophen Hans
Albert –
hier) .
Begründet wird diese (Fehl-)Haltung
immer wieder mit dem Verweis
auf die im 20. Jahrhundert von totalitären
Gesellschaftssystemen ausgelösten
Katastrophen. Häufig werden nur die kommunistischen Systeme Stalins,
Mao Zedongs
oder Pol Pots
genannt, in denen Religionslosigkeit zum Programm erhoben worden war.
Das
finde ich schlicht heuchlerisch, denn die faschistischen Systeme Hitlers, Mussolinis oder Francos haben
zum Teil noch weit verabscheuungswürdigere Unmenschlichkeiten faktisch genauso
"religionslos" begangen, nur pflegten diese
stets gute Beziehungen zu den kirchlichen Hierarchien.
Die genannten verbrecherischen Systeme, deren
Handlungsweisen sich aus dogmatisch fixierten Ideologien ableiteten,
missachteten elementare Werte wie Menschenwürde und
Menschenrechte oder anders
ausgedrückt: Sie praktizierten puren Nihilismus!
Demgegenüber
zeigt sich im wahren Atheismus, historisch nachprüfbar, seit
seinen frühesten
Anfängen eine Geisteshaltung,
in der sich Religionslosigkeit bzw. das Fehlen eines Gottesglaubens mit
einem
klaren Bekenntnis zu ethischen Werten verbinden. Die zwei
Hauptbestandteile
dieses Atheismus sind Rationalismus
und Humanismus.
Nur Ignoranten setzen ihn
mit Nihilismus gleich!
"Die zwei Säulen des
Atheismus"
Joachim
Kahl (*1941) betont in seinem oben erwähnten
Beitrag,
dass der von ihm dargelegte "undogmatische Atheismus" beanspruche,
"den Gottesglauben von innen heraus aufzulösen". Er sieht
darin
dessen "religionskritische Schlüsselaufgabe". Als
Ausgangsbasis für
seine weiteren Überlegungen definiert er "zwei Säulen
des
Atheismus":
"1. Es gibt keinen Gott, der die Welt
erschaffen hat.
Die Welt ist keine Schöpfung, sondern unerschaffen,
unerschaffbar, unzerstörbar.
Die ewige und unendliche Welt entwickelt sich unaufhörlich
gemäß den ihr
innewohnenden Gesetzmäßigkeiten, in denen sich
Notwendiges und Zufälliges
verschränken.
2. Es gibt keinen Gott, der Tiere und Menschen
aus ihrem
Leiden erlöst. Die Welt ist unerlöst und
unerlösbar, voller Webfehler und struktureller
Unstimmigkeiten, die aus der Bewusstlosigkeit und Blindheit ihrer
Gesetzmäßigkeiten herrühren."
Kahl
leitet "aus diesen Einsichten" Wegweisendes
"für eine atheistische Weltweisheit und Lebenskunst" ab:
"Der Mensch ist nicht das Ebenbild einer
überweltlichen
und übernatürlichen Gottheit, sondern ein
vorbildloses Geschöpf der Natur, all
ihren Gesetzen unterworfen. In einer Welt, die nicht für ihn
gemacht wurde, muss
er sich seinen Weg selbst bahnen und lernen, allem verderblichen
Allmachts- und
Unsterblichkeitswahn zu entsagen. Atheismus ist der Abschied von
jeglicher
Heilslehre und Heilshoffnung, freilich auch von jeglicher Unheilslehre
und
Untergangsprophetie, mögen sie sich auf ein
illusionäres Jenseits oder auf das
Diesseits beziehen."
Und hier noch ein kurzer, unkommentierter,
Blick auf seine
Folgerungen für "menschliches Leben" und für
mögliche Veränderungen
der "gesellschaftlichen Verhältnisse":
"Menschliches
Leben
heißt: sich für eine kurze Zeitspanne
erträglich einrichten auf einem Staubkorn
im Weltall – mit Würde und Anstand und Humor.
Vielleicht gelingt es doch noch
den Erdball bewohnbar zu gestalten!? Die gesellschaftlichen
Verhältnisse lassen
sich jedenfalls schrittweise verbessern. Universale Gerechtigkeit und
die
Versöhnung von Mensch und Natur bleiben allerdings
unerreichbar. Himmel und
Hölle, Paradies und Verdammnis sind religiöse
Trugbilder, keine atheistischen
Leitideen."
Anmerkung
Der
Text der oben zitierten "zwei Säulen des
Atheismus" stammt aus einer anderen Quelle: aus den EZW-TEXTEN
204/2009. Er ist gegenüber dem aeb-Beitrag
teilweise umformuliert und ergänzt. Die
anderen zitierten Textteile wurden unverändert aus dem
aeb-Beitrag übernommen.
Ausblick
Am Ende des, zur begrifflichen Klärung
unternommenen, Annäherungsversuchs symbolisiert der Atheismus für mich, historisch betrachtet, mit
seinem
bewusstseinsverändernden Potenzial einen wichtigen Meilenstein
in der
Weiterentwicklung der Menschheit. Abschließend sei hier noch
einmal Joachim
Kahl (*1941) zitiert:
"Der
Atheismus ist eine historisch reflektierte, nach-religiöse
Bewusstseinsform,
die gedanklich und emotional über den Monotheismus
hinausführt, indem sie seine
ursprüngliche Logik der Entgötterung, Entweihung,
Entzauberung und
Verweltlichung der Welt konsequent zu Ende führt und gegen ihn
selbst kehrt."
Eine
ähnliche Überlegung fand ich, zumindest was
die historische Perspektive angeht, im Lexikon
der EZW. Dort heißt es
zunächst richtig, dass "der Weg der Menschheit […]
unumkehrbar" sei.
Dann versteigt sich der kirchlich-christliche Verfasser aber zu der
kuriosen Feststellung,
der Atheismus sei "nachgeborener Stiefbruder des Gottesglaubens". Hier
zeigt sich einmal mehr, wie theologische Weltfremdheit und einseitige ideologische
Fixierung zwangsläufig zu
einer krassen Fehleinschätzung führen:
Dem
Atheismus wird, in abwertender und/oder verharmlosender Weise, ein
verwandtschaftliches
Verhältnis zum "Gottesglauben" angedichtet, und damit
verstellen die
Vertreter der Religion sich selbst und ihren Anhängern den
Blick dafür, dass diese
"nach-religiöse
Bewusstseinsform" das Potenzial zur Ablösung der, heute von
ihnen immer
noch unbeirrt geförderten, religiösen
Bewusstseinsform besitzt.
Es ist kaum zu erwarten, dass diese
Ablösung schnell
erfolgen wird, viel eher ist mit einem langwierigen
evolutionären Prozess zu
rechnen. Dass diese Ablösung
stattfinden wird, ist jedoch sehr wahrscheinlich. Das ergibt sich,
langfristig
gesehen, aus der historischen Unumkehrbarkeit: Wie Franz
Buggle (1933-2011) überzeugend
darstellte, sind die heute noch weit verbreiteten Religionen,
"entwicklungs- und moralgeschichtlich" gesehen,
"…, Übergangsphänomene zwischen
sehr alten, archaischen und deshalb wissensmäßig,
aber auch humanitär und ethisch defizitären
Vorstellungen und ersten
Entwicklungsschritten zu humanitäreren Einstellungen und
Normen".
Wenn
sich die Menschheit nicht vorher selbst
auslöscht, wird das Zeitalter der religiösen
"Übergangsphänomene"
demnach, einschließlich möglicher Fehl- und
Rückschläge für den Atheismus,
irgendwann in der Zukunft, lediglich einige Kapitel in den
Geschichtsbüchern
füllen.
"Alte" und "Neue" Atheisten
Seit
einigen Jahren wird in Publikationen
und entsprechenden Diskussionen häufig zwischen "alten" und
"neuen Atheisten" unterschieden. In dem schon an anderer Stelle
dieser Site erwähnten DISKURS
über Atheismus, der am 20. November 2007 im 3.
Hörfunkprogramm des WDR gesendet wurde, war über die
sogenannten "neuen
Atheisten" etwa Folgendes zu hören (Richard
Dawkins wird dabei als einer der prominentesten
Vertreter dieser
Richtung namentlich genannt):
"Die
Neuen Atheisten behaupten, dass es Gott nicht gibt.
[…]
Die
Neuen Atheisten wollen Vordenker sein. Sie vertrauen nicht auf die
Kraft des
eigenen Denkens – obwohl es gegen jede Bevormundung und gegen
jeden
Fundamentalismus kein besseres Mittel gibt.
[…]
Dabei
handelt es sich um angesehene Naturwissenschaftler und Philosophen, die
sich aufmachen,
die Welt vom Glauben zu befreien. Ihre Waffen sind Darwin, das Internet
und das
wachsende Unbehagen über die Einmischungen von
Bischöfen und Islampredigern,
Polit–Frömmlern und Kirchen.
[…]
Richard
Dawkins, der britische Evolutionsbiologe, Verfasser des Buches Der Gotteswahn, diagnostiziert den
Glauben als Krankheit des Geistes. Dawkins fordert ein Ende des
Respekts vor
dem Glauben.
[…]
Selbstbewusst
nennen sie sich »Brights« – die
Aufgeweckten, die hellen Köpfe, die nur
an die Wissenschaft glauben.
[…]
Ob
den Neuen Atheisten der negative Gottesbeweis gelungen ist,
darüber ließe sich unter
Unglaubensbrüdern streiten, unangenehm jedenfalls
fällt an dieser Propaganda der
penetrante Weihrauch der Wissenschaftsanbetung auf, und erst recht der
missionarische Habitus – vorbei die Toleranz
gegenüber dem Glauben.
[…]
Die
Neuen Atheisten vergessen, was für den guten Atheismus
entscheidend ist: Der Ungläubige
will nicht bevormundet werden. Er will selbständig denken."
Der
im letzten der aufgeführten Zitate,
ohne nähere Erläuterung, gebrauchte Begriff des "guten
Atheismus" scheint synonym für den "alten
Atheismus" zu stehen. Träfe dies zu, dann wäre das
eine weitere Zuspitzung
der Kritik an den "neuen Atheisten". Ich weiß nicht, ob die
in einigen
Zitaten geübte Kritik in vollem Umfang gerechtfertigt ist.
Tatsache ist jedoch,
dass Kritik wohl nicht nur von außen, sondern auch aus dem
eigenen Lager kommt.
Im Lexikon
der EZW stieß ich auf die Feststellung:
"Der sogenannte neue Atheismus wird
allerdings auch von großen Teilen des atheistischen Spektrums
mit Skepsis und
Ablehnung betrachtet."
Die EZW
ist eine kirchliche Einrichtung. Daher nahm ich die zitierte
Feststellung
zunächst mit Skepsis auf. Mittlerweile finde ich sie
zutreffend. Insbesondere der
Beitrag des Philosophen Joachim Kahl
(*1941), "eines Vertreters des »alten
Atheismus«", zu den EZW-Texten
204/2009 hat mich in dieser Einschätzung
bestärkt. Die Überschrift des Beitrags
lautet "Weder Gotteswahn noch Atheismuswahn", und er beginnt mit dem
Satz:
"Richard
Dawkins' Buch »Der
Gotteswahn«, das ich hier als Hauptbeispiel des
»neuen
Atheismus« heranziehe, Richard Dawkins'
»Gotteswahn«
ist ein charakteristisches Dokument intellektuellen
Cäsarenwahns."
Kahl
verbindet mit der Dawkins
zugeschriebenen Geisteshaltung
"triumphalistische Selbstüberschätzung und
abgründige
Realitätsblindheit" als "zwei sich ergänzende
Merkmale". Darüber
hinaus kritisiert Kahl,
dass Dawkins
"auf 570 Seiten weder die Namen noch
die Denkfiguren eines Epikur, eines Feuerbach, eines Sigmund Freud kennt",
und er ergänzt:
"Schlechterdings
unbekannt ist bei […] Richard Dawkins die keineswegs
zimperliche, aber doch filigrane
Religionskritik der deutschen Aufklärung, auf die ich mich
hier im Wesentlichen
berufen möchte."
Ich
kann nicht abschließend beurteilen, ob das,
was Kahl
hier anklingen lässt, für "alte Atheisten" typisch
ist. Ich erinnere mich jedoch, auch
bei anderen Vertretern dieser Richtung den engen Bezug zur
Aufklärung wahrgenommen
zu haben.
Die
folgenden Sätze Kahls
verstehe ich als programmatische Aussage
eines "alten Atheisten", mit der er eine klare Abgrenzung zu den "neuen
Atheisten" formuliert:
"Der
Weg der Menschheit führt –
idealtypisch vereinfacht, aber nicht entstellt – vom
Polytheismus über den
Monotheismus zum Atheismus. Jede Etappe hat ihr Recht, ihre Aufgabe,
ihr
Wahrheitsmoment. Insofern gilt es, nicht hinter die geistigen
Errungenschaften
des Monotheismus zurückzufallen – das wäre
Neuheidentum –, sondern zur Synthese
eines Humanismus fortzuschreiten, der ohne
Berührungsängste auch das kulturelle
Erbe der Religion in sich aufgenommen hat. Ein solcher
säkularer Humanismus ist
nicht länger antireligiös fixiert, daher auch zu
einem konstruktiven Dialog im
Rahmen einer fairen Streitkultur fähig."
Ich könnte eine Fülle
weiterer Zitate
hinzufügen, aber das würde den Rahmen sprengen. Ich
empfehle jeder Leserin,
jedem Leser, sich mit dem gesamten Beitrag Kahls im Original zu
befassen. Es
sei noch darauf hingewiesen, dass er sich ähnlich
kritisch
mit dem vom "neuen Atheisten" Michael
Schmidt-Salomon (*1967), im
Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs),
verfassten und in 2005 veröffentlichten Manifest des
evolutionären Humanismus
auseinandergesetzt hat.
Anmerkung
Joachim
Kahls (*1941)
Kritik am Manifest des
evolutionären
Humanismus befindet sich auf seiner Homepage,
unter dem Menüpunkt Texte,
in der
Rubrik Skeptische
Weltdeutung.
Über die bisher zitierten Kritikpunkte
hinaus lässt sich zusammenfassend etwa sagen: Das Verhalten
der "neuen
Atheisten" ist (erscheint?) respektloser, weniger tolerant
gegenüber den
sogenannten "Gläubigen", kämpferischer und radikaler
in ihrer Kritik an
religiösen Inhalten und an den Repräsentanten jener
Institutionen, die diese
verbreiten. Die "Neuen Atheisten" scheinen (geben vor?) zu wissen,
dass es Gott nicht gibt.
Die
Haltung der "alten Atheisten"
hebt sich davon ab. Dies zeigt sich in den nachfolgend zitierten
Aussagen
einiger ihrer Vertreter. Joachim Kahl
(*1941) sagt in seinem oben schon
erwähnten Beitrag zu den EZW-Texten
204/2009 über den von ihm vertretenen Atheismus:
"Der
hier skizzierte Atheismus ist
skeptisch und undogmatisch, insofern er sich seiner Unbeweisbarkeit
bewusst
ist. Es spricht zwar alles für ihn, aber ein
schlüssiger Beweis für seine
Richtigkeit ist – der Natur der Sache nach – nicht
zu führen."
Der
Philosoph Herbert
Schnädelbach (*1936)
hat in seinem Buch Religion in der
modernen Welt Texte zu verschiedenen Aspekten
seines Themas
zusammengefasst. Ein Aufsatz trägt die Überschrift Der fromme Atheist.
Er schreibt darin u. a.:
"So
unterscheidet sich der fromme
Atheist auch von den Bekennenden seiner Art, mit denen man ihn gern in
einen
Topf wirft. Da wird ihm vorgehalten, sein Unglaube sei doch auch ein
Glaube,
also ein Gegen-Glaube und auch nicht besser als das, was er ablehnt.
Tatsächlich sagt der konfessionelle Atheist: »Ich
glaube, dass Gott nicht
existiert« und bekennt sich so zu einer negativen Tatsache.
Der fromme Atheist
hingegen sagt nur: »Ich glaube nicht, dass Gott
existiert« und bekennt damit
nur seinen Unglauben – nichts weiter."
Und
der französische Philosoph André
Comte-Sponville
(*1952), der von seinem Kollegen Michel
Onfray (*1959), also von einem
"neuen Atheisten", als "christlicher Atheist" gesehen wird,
sich selbst aber als "bekennender Atheist" versteht, schreibt in
seinem Buch Woran glaubt ein Atheist?:
"Deshalb
verstehe ich mich gern als bekennender
Atheist: Atheist, weil ich nicht an Gott oder eine
übernatürliche Macht glaube;
bekennend, weil ich mich zu einer bestimmten Geschichte, einer
bestimmten
Tradition, einer bestimmten Gemeinschaft bekenne, vor allem zu unseren
jüdisch-christlichen
(oder griechisch-jüdisch-christlichen) Werten."
An
anderer Stelle betont er:
"Wenn
sie jemand treffen, der
behauptet: »Ich weiß, dass Gott nicht
existiert«, ist das kein Atheist, sondern
ein Idiot. Und genauso verhält es sich meiner Ansicht nach,
wenn Ihnen einer
sagt: »Ich weiß, dass Gott existiert«.
Das ist ein Idiot, der seinen Glauben
für Wissen hält."
Beispielhaft
seien im Folgenden einige "neue" und "alte Atheisten"
genannt. Ich gehe davon aus, dass die Zuordnung, zumindest in erster
Näherung,
zutrifft:
"Alte Atheisten"
Walter
Kaufmann
(1921-1980), deutsch-amerikanischer Philosoph,
Hans
Albert (*1921),
Philosoph,
Herbert
Schnädelbach
(*1936), Philosoph,
Joachim
Kahl (*1941),
(ehemaliger) Theologe, Philosoph,
André
Comte-Sponville
(*1952), französischer Philosoph und Schriftsteller.
"Neue Atheisten"
Richard
Dawkins (*1941),
britischer Zoologe und Evolutionsbiologe,
Christopher Hitchens (1949-2011),
brit.-amerik. Journalist und Autor,
Piergiorgio Odifreddi (*1950),
ital. Mathematiker und Wissenschaftshistoriker,
Michel
Onfray (*1959),
französischer Philosoph und Schriftsteller,
Sam
Harris (*1967),
amerikanischer Philosoph und Schriftsteller,
Michael
Schmidt-Salomon
(*1967), Philosoph und Autor, Geschäftsführer der
Giordano-Bruno-Stiftung (gbs).
Ich
räume ein, dass die Betroffenen mit dieser Ein- bzw. Zuordnung
vielleicht nicht
einverstanden sein könnten, wenn man sie fragte
(was bei Walter Kaufmann
und Christopher Hitchens natürlich nicht mehr möglich
wäre). In
diesem Zusammenhang denke ich an ein Wort von Friedrich
Hagen (1903-1979), das
ich in seiner kleinen Schrift Jean
Meslier oder ein Atheist im Priesterrock fand.
Es lässt die Zuordnung von Atheisten zu einer
spezifischen Gruppierung
innerhalb des atheistischen Spektrums als fragwürdig
erscheinen:
"Der
Atheismus ist seit alters pluralistisch. Er muss es sein, wenn er nicht
selber
zu einer uniformierenden Kirche werden will. Der Gläubige
steckt seelisch stets
in irgendeiner Uniform. Der freie Denker ist der zivile Mensch."
Hat das Leben ohne Gott einen
Sinn?
Jemand,
der den Lehren seiner Religion, z. B. dem Christentum, Glauben schenkt,
betrachtet sein Leben im Diesseits als Durchgangsstation, weil er davon
überzeugt ist, dass es eine Fortsetzung "im Jenseits", "bei
Gott", "im Paradies", "in der ewigen Seligkeit",
"mit Jesus Christus", … haben wird. "Gläubige"
sehen sich
einbezogen in den "Heilsplan Gottes", und viele von ihnen,
insbesondere jene, die unter armseligen Lebensumständen
leiden, beziehen daraus
die Hoffnung auf eine "bessere Zukunft". "Gläubige"
hinterfragen ihren Glauben nicht. Gar eine Begründung
für ihren Glauben zu
suchen, liegt außerhalb ihres Gesichtskreises. Tatsache ist,
dass die meisten
von ihnen wohl schlicht einer alten Gewohnheit folgen: Von Kind auf
wurde ihnen
beigebracht an «Gott», an die "Auferstehung" etc.
zu glauben. Manche
sprechen von den Folgen einer frühkindlichen Infektion mit dem
"religiösen
Virus".
Das
erklärt u. a. auch, warum "Gläubige" kaum in der Lage
sind über ihren
Glauben zu sprechen. In meiner früheren ehrenamtlichen
Tätigkeit für die Kirche
hatte ich gelegentlich mit Personen aus der Kirchenleitung zu tun. Ich
erinnere
mich, dass die Stellvertreterin des Kirchenpräsidenten am
Rande einer
Besprechung beklagte, viele Kirchenmitglieder seien nicht in der Lage,
ihren
Glauben zu artikulieren. Sie dachte dann laut über
Bildungsangebote nach, die
den Betroffenen helfen könnten, auf Glaubensfragen bezogen,
ihre
"Sprachfähigkeit" zu entwickeln. Ich erinnere mich auch an
einen Gemeindepfarrer,
der mir von seinen ernüchternden Erfahrungen mit Mitgliedern
des
Kirchenvorstandes, also mit sehr aktiven Gliedern seiner Gemeinde,
erzählte: Es
bestand große Unklarheit bei ihnen über die
Geschehnisse, die dazu führten,
dass das Osterfest als eines der zentralen Feste der Kirche begangen
wird.
Aber
unabhängig vom Informationsstand über die Grundlagen
ihres Glaubens und ebenso
unabhängig von der Qualität ihrer
Lebensumstände unterwerfen sich
"Gläubige" freiwillig der
Willkür
eines Gottes, dem sie, neben Allmacht, auch unendliche Güte
und Barmherzigkeit
zuschreiben. Z.
B. steht in dem
als echt geltenden Brief des Paulus
an die Philipper, unter der Überschrift »Sorge um das Heil« (Phl 2,13):
»Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides,
das Wollen und
das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.«
Anmerkung
Hervorhebung im vorausgehenden Zitat stammt vom Autor der Site.
Und
die Kirche, insbesondere die der römischen Konfession, hat
alles
dafür getan, diese Haltung ihrer "Gläubigen"
zu
verfestigen. Sie machte sie
glauben, dass das "Heil" nur innerhalb der Kirche zu haben sei (s. hier). Ein
wichtiger Grund, weshalb "Gläubige",
bewusst oder unbewusst, davon ausgehen, dass ihr Leben ohne Kirche,
ohne Gott
und ohne Auferstehung, mit der Aussicht auf ein Leben nach dem
Tode,
sinnlos wäre.
In
diesem Zusammenhang stieß ich in den
von Norbert Hoerster (*1937)
herausgegebenen Arbeitstexten zur Religionskritik
auf
einen Text des
Philosophen Hans
Albert
(*1921).
Unter dem Titel Der Sinn des Lebens ohne Gott
beschreibt
er u. a.
"…,
dass der Sinn, der dem menschlichen Leben nach christlicher Lehre
zugesprochen
wird, darin besteht, dass ihm eine Rolle im göttlichen
Heilsplan zugeteilt, das
menschliche Handeln also der göttlichen Planung unterstellt
wird. Die irdischen
Aktivitäten des Menschen werden einer von Gott bestimmten
kosmischen
Zwecksetzung unterworfen, […]."
Da
"Gläubige" unbeirrt daran festhalten, dass nur ihre Bindung an
Gott,
dessen Existenz für sie außer Frage steht, ein
sinnerfülltes Leben garantiert,
sind sie weitestgehend immun gegen einen möglichen
Bewusstseinswandel. Eine
ernsthafte Prüfung alternativer Vorstellungen kommt
für sie nicht in Betracht. In
seinem oben erwähnten Text analysierte Hans Albert die aus
dieser Haltung
resultierende Meinung von "Gläubigen" zum Atheismus:
"Sie
können es daher kaum verstehen, wie man eine atheistische
Auffassung vertreten
kann, ohne der Verzweiflung anheimzufallen. Überdies sind sie
oft geneigt
anzunehmen, dass der Atheismus auch unter moralischen Gesichtspunkten
fragwürdig ist; denn jemandem, der nicht an Gott glaubt,
müsse, so meinen sie, jedes
Verhalten – und daher auch jedes Verbrechen –
erlaubt erscheinen. Ein Atheist
müsse somit, wenn er konsequent ist, in moralischer Hinsicht
ein Nihilist sein.
Für ihn könne es weder einen Sinn des Lebens geben,
noch Werte oder Normen mit
Anspruch auf Anerkennung. Ein moralischer Atheist sei also eigentlich
ein
inkonsequenter Atheist."
Dass
die bewusste Hinwendung zu einer atheistischen Haltung durchaus nicht in den Nihilismus
führt, wird hier
nicht eingehender betrachtet. Dieser Aspekt wird im folgenden Abschnitt
Ist
ohne Gott alles erlaubt?
thematisiert.
Zwischen
"Gläubigen" und "Ungläubigen" bzw. Atheisten gibt es
mindestens zwei fundamentale Unterschiede:
- "Gläubige"
unterwerfen sich freiwillig
den Weisungen einer übergeordneten Macht. Sie leben
also fremdbestimmt, sind aber, mehr oder weniger unausgesprochen, davon
überzeugt, dass nur so ein sinnvolles Leben möglich,
ja garantiert sei.
Demgegenüber empfinden Atheisten eine derartige Haltung als
illusionär, und
können sie nicht akzeptieren. Sie wollen ihrem Leben selbstbestimmt einen Sinn geben, wobei
sie sich der Tatsache
bewusst sind, dass es keine Garantie auf ein sinnvolles Leben gibt.
- "Gläubige"
leben in der Hoffnung, dass ihr Dasein mit dem Tode nicht zu Ende ist,
sondern
eine Fortsetzung haben werde. Sie vertrauen den Verheißungen
ihrer Religion.
Demgegenüber gehen Atheisten davon aus, dass sie nur dieses
eine Leben haben,
das mit dem Tode sein endgültiges
Ende
findet.
Die
Tatsache, dass es diese gegensätzlichen Überzeugungen
gibt und dass beide
jeweils viele Anhänger haben, legt die Schlussfolgerung nahe:
Religion ist nicht alternativlos!
"Gläubige" finden diese Haltung anmaßend und werten
sie als
Auflehnung gegen Gott. Sie verdächtigen Atheisten
häufig der Hybris. – Ich habe
einmal ein Wort gehört oder gelesen – wahrscheinlich
stammt es von einem
Atheisten –, das vor möglicher Hybris bewahrt: "Der
Mensch braucht die
Welt; die Welt braucht den Menschen nicht!"
Abschließend
möchte ich, unkommentiert, nochmals Hans Albert
(*1921) und den
deutsch-amerikanischen Philosophen Walter
Kaufmann (1921-1980) zu Wort kommen
lassen. Letzterer ist ebenfalls mit einem Beitrag in den von Norbert Hoerster
(*1937) herausgegebenen Arbeitstexten zur
Religionskritik vertreten:
"Eine
Garantie dafür, dass unser endliches Leben auf dieser Erde
sinnvoll ist, kann
es nicht geben. Sinnvoll kann ein solches Leben jedenfalls nur insoweit
sein,
wie wir selbst es mit Sinn versehen, indem wir uns Aufgaben stellen,
deren
Erfüllung wir als wertvoll ansehen können, und uns
Tätigkeiten widmen, die
entweder in sich befriedigend sind oder zur Erfüllung solcher
Aufgaben
beitragen.
[…]
Jeder
muss selbst darüber entscheiden, ob er imstande ist, sein
Leben mit Sinn zu
erfüllen, dass es ihm lebenswert erscheint. Wer sich das
Angebot einer der
großen Religionen – zum Beispiel des Christentums
– zu eigen macht, mag es
mitunter leichter haben, dieses Problem zu lösen. Aber viele
moderne Menschen
können sich mit der christlichen Lösung nicht mehr
zufriedengeben, weil sie
nicht in der Lage sind, sich die Überzeugungen anzueignen, die
ihnen dabei
zugemutet werden. Für sie ist es wichtig zu erkennen, dass ein
sinnvolles Leben
auch ohne den Glauben an einen persönlichen Gott
möglich ist." (Hans Albert)
"Der
Mensch scheint im Universum eine sehr geringfügige Rolle zu
spielen, und meine
Rolle ist mit Sicherheit ohne Bedeutung. Die Frage, mit der ich mich
konfrontiert sehe, ist nicht (außer vielleicht in
müßigen Augenblicken) die
Frage, welche Rolle mir vielleicht besser gefallen würde,
sondern was ich aus meiner Rolle
machen will. Und wozu ich
mich entschlossen habe und was ich auch anderen raten möchte,
ist, das Beste daraus zu machen:
alles
hineinzulegen, wessen man fähig ist, und mit einem gewissen
Maß an Würde zu
leben und, wenn möglich, auch zu sterben." (Walter
Kaufmann)
Anmerkungen
-
Beide zitierten Philosophen sind der philosophischen Richtung des Kritischen
Rationalismus zuzurechnen.
-
Wer sich intensiver mit dem hier betrachteten Thema befassen
möchte, dem sei
auch das Buch Weltlicher
Humanismus
des Philosophen Joachim
Kahl (*1941) empfohlen. Das 7. Kapitel trägt die
Überschrift Vom Sinn des
menschlichen
Lebens.
Ist ohne Gott alles erlaubt?
In
einem Brief formulierte der berühmte russische Schriftsteller Dostojewski
(1821-1881) folgenden Satz:
"Wenn
es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt."
Mir
ist leider der Kontext nicht bekannt. Daher kann ich nicht
nachvollziehen, wie
Dostojewski den Satz gemeint haben könnte. Ich habe jedoch den
Eindruck, dass dieser
sich längst verselbständigt hat, und ich gehe davon
aus, dass nicht jeder, der
ihn ins Gespräch bringt, weiß, dass er von
Dostojewski stammt. Gleichgültig, ob
er im Bewusstsein seines Ursprungs gebraucht wird oder nicht, mir
scheint, dass
er in entsprechenden Zusammenhängen meist völlig
unkritisch, ja naiv, nicht nur
als ein bedeutendes, sondern geradezu als ein unwiderlegbares Argument
betrachtet
wird.
Zweierlei
geht mir durch den Kopf (um
meine Sicht vorwegzunehmen): Auch große
Geister produzieren nicht nur Großartiges, Richtiges oder
Wegweisendes. Hätte sich
Dostojewski, als er den Satz niederschrieb, nur flüchtig an
die unfassbar blutige Unrechtsgeschichte
des
Christentums und seiner Kirchen erinnert, hätte er unmittelbar
zu der
Ansicht gelangen können, dass das genaue Gegenteil zutrifft: Mit Gott ist alles erlaubt!
Im
Folgenden lasse ich Menschen zu Wort kommen, die sich intensiver und
gründlicher mit Fragen auseinandergesetzt haben, wie sie sich
im Zusammenhang
mit der zitierten Aussage Dostojewskis aufdrängen, als mir das
jemals möglich
wäre.
Die
von Norbert Hoerster (*1937)
herausgegebenen Arbeitstexte zur Religionskritik
enthalten auch einen Beitrag des deutsch-amerikanischen Philosophen Walter
Kaufmann (1921-1980). Darin diagnostiziert dieser eine weit
verbreitete Auffassung,
die ziemlich genau jener entspricht, wie sie im oben zitierten Wort
Dostojewskis
schlagwortartig zum Ausdruck kommt:
"Merkwürdigerweise
sind Millionen Menschen der Auffassung, dass das Fehlen eines Glaubens
an Gott,
Christus und Hölle zu Unmenschlichkeit und Grausamkeit
führt – wohingegen jene,
die diesen Glauben haben, ein Monopol auf Nächstenliebe
besitzen – und dass
Leute wie ich für ihren Unglauben mit immerwährenden
Leiden bezahlen müssen.
Ich glaube nicht, dass irgendjemand nach dem Tod leiden wird, und ich
wünsche
es auch nicht."
Gegen
Ende seines Buches Das Wunder des Theismus
befasst sich der australische
Philosoph John Leslie Mackie (1917-1981) mit
den "moralischen Konsequenzen
des Atheismus". In seinen Ausführungen über "Wesen
und Status der
Moral" stellt er "vier verschiedene Grundauffassungen" vor. Zwei
dieser Auffassungen basieren auf der Annahme, "die Moral hänge
wesentlich
von der Existenz Gottes ab". Wenn sich jemand einer dieser Auffassungen
verpflichtet fühle, so Mackie, "dann ist es allerdings
möglich, dass seine Treue
zur Moral untergraben wird,
wenn er den Glauben an Gott aufgibt". Und er fährt fort:
"Die
unmittelbaren Folgen seines Atheismus können bedauerlich sein.
Hierin liegt ein
guter Grund dafür, die Moral in einer Zeit, in der der Glaube
selbst fragwürdig
wird, nicht mehr an religiöse Lehren zu binden. Das kommt treffend in einer
Geschichte Richard Robinsons von einem Priester zum Ausdruck, der zwei
moralisch untadeligen Atheisten entgegenhält: »Ich
verstehe euch Burschen
nicht; wenn ich nicht an Gott glaubte, würde ich mir ein
tolles Leben
machen«."
Anmerkung
Mackie
zitiert aus dem Buch An Atheist's Values
des englischen Philosophen Richard
Robinson (1902-1996) und er merkt dazu an: "Diese Geschichte
ist
zweifellos gut erfunden."
Die
beiden anderen "Grundauffassungen" über "Wesen und Status der
Moral" sind nach Mackie: "eine autonome, objektive Ethik", die
auf Kant zurückgeht, und eine von Hume vertretene
"naturalistische oder
emotive Auffassung". Letztere ist das Ergebnis der biologischen und
soziokulturellen Entwicklung des Menschen. Wenn eine dieser
Auffassungen
richtig sei, stellt Mackie
fest,
"…,
dann spricht nichts für die Annahme, das Schwinden des
religiösen Glaubens
untergrabe allgemein oder auf Dauer die Moral. Ja es ist nicht einmal
notwendig,
dass eine dieser beiden Auffassungen richtig
ist: Es würde schon genügen, dass der Atheist von ihr
überzeugt ist."
Ähnliche
Gedanken fand ich im Buch Woran glaubt ein Atheist?
Des französischen
Philosophen André Comte-Sponville
(*1952). Er bezieht sich explizit auf
Dostojewski und stellt klar:
"Wenn
Sie den Glauben verloren haben, werden Sie deshalb nicht
plötzlich Ihre Freunde
verraten, stehlen oder vergewaltigen, morden oder quälen!
»Wenn es keinen Gott
gibt«, schrieb Dostojewski, »dann ist alles
erlaubt.« Wieso denn? Ich erlaube
mir doch nicht alles! Die Moral ist autonom, zeigt Kant,
oder sie ist nicht.
Wenn einer sich das Morden nur aus Furcht vor einer göttlichen
Strafe versagt,
ist sein Verhalten moralisch wertlos: Es wäre nur Vorsicht,
Angst vor der
Gottespolizei, Egoismus. Und wer nur zu seinem eigenen Heil Gutes tut,
tut
nichts Gutes (weil er aus Eigeninteresse handelt statt aus
Verpflichtung oder
Liebe) […]."
Etwas
später äußert er sich zur
überschätzten Rolle
des
Gottesglaubens in bezug auf moralische Fragen, sowohl im
persönlichen Verhalten, als auch in gesellschaftlichen
Zusammenhängen:
"Ob
man an Gott glaubt oder nicht, spielt in allen großen
moralischen Fragen –
außer für Fundamentalisten – keine
besondere Rolle. Es ändert nichts an der
Pflicht, den Anderen, sein Leben, seine Freiheit und Würde zu
respektieren,
noch daran, dass Liebe über dem Hass steht,
Großzügigkeit über dem Egoismus,
Gerechtigkeit über der Ungerechtigkeit. Die Religionen haben
uns geholfen, das
zu begreifen, und damit einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte
geleistet. Das
heißt aber nicht, dass sie ein Monopol darauf haben oder dass
es ausreicht,
ihnen anzugehören. Bayle hat das schon Ende des 17.
Jahrhunderts erkannt: »Wenn
ein Atheist tugendhaft lebt, ist das nicht seltsamer, als wenn ein
Christ sich
zu allerhand Verbrechen hinreißen lässt.«"
Einige
Sätze weiter findet sich bei André Compte-Sponville
eine treffende Zusammenfassung seiner Überlegungen:
"Es
ist nicht wahr, dass alles erlaubt ist, besser gesagt, es
hängt von jedem
Einzelnen ab, dass es nicht so ist. Menschlichkeit und Verpflichtung
zur
Menschlichkeit, das nenne ich praktischen Humanismus, der keine
Religion ist,
aber eine Moral. […] Es
geht darum, sich dessen, was die Menschheit aus sich und die
Zivilisation aus
uns gemacht hat, würdig zu erweisen. Die erste Pflicht und das
Prinzip aller
anderen Pflichten ist es daher, menschlich
zu leben und zu handeln.
Religion
genügt nicht, und
sie enthebt niemanden dieser Pflicht. Atheismus auch nicht."
Im
dritten Hörfunkprogramm des Westdeutschen Rundfunks gab es am
20. November 2007
einen DISKURS zum Thema Kein
Gott nirgends – oder zurück zur Vernunft.
Es ging
um Atheismus. Die Sendung wurde von zwei Sprecherinnen, einem Zitator
und
mehreren Studiogästen gestaltet. In der Einführung
sagte eine Sprecherin:
"Atheismus
ist eine Lebensform; eine Haltung oder Einstellung zum Leben."
Im
Verlaufe der Sendung wurde u. a. der Gegensatz zwischen dem Atheismus
der
"Neuen Atheisten" und dem "guten
Atheismus" aufgezeigt. – Mir
ist dort der Begriff "guter
Atheismus" das erste Mal begegnet.
– Der Studiogast Johannes Rohbeck (*1947),
Professor für Philosophie an der Technischen
Universität Dresden, sagte dazu:
"Also
der gute
Atheismus ist ja nicht nur eine Frage des Individuums, sondern vor
allem auch
eine Frage der Gesellschaft. Und
Pierre
Bayle
stellte die Frage nach dem Staat der Atheisten. Und er stellte die
Frage, ob so
etwas funktionieren kann: Ob die Menschen sich an moralische, an
rechtliche, an
politische Regeln halten – auch ohne Aussicht auf das
Paradies und ohne die
Befürchtung der Höllenqualen."
Im
weiteren Verlauf stellte eine der Sprecherinnen fest:
"Die
Frage nach dem guten Atheismus, und zwar "gut"
– nicht nur für das angenehme Leben des einzelnen,
sondern auch für das Wohl
der Allgemeinheit. Kurz – die Frage nach der Moral des
Atheismus:
selbstverständlich ist sie berechtigt."
Hierauf
reagierte der Studiogast Herbert Schnädelbach
(*1936),
bis
zu seiner Emeritierung
Professor für Philosophie an der Berliner
Humboldt–Universität, mit dem Hinweis
auf Dostojewski:
"Also
dieser Satz von Dostojewski: »Wenn
Gott tot
ist, ist alles erlaubt«
– ist philosophisch überhaupt nicht zu halten! Wir
wissen seit – mindestens seit Aristoteles, dass die
praktische Philosophie,
also die Philosophie, die sich über Fragen der Gerechtigkeit
und des guten
Lebens Gedanken macht – dass die auf eigenen
Füßen steht."
Danach
stellte eine Sprecherin fest:
"Den
Philosophen macht sie allerdings bis heute zu
schaffen. Man könnte auch sagen: Sie arbeiten sich daran ab,
eine so genannte »autonome
Moral«
zu begründen. Also eine Moral ohne Gott, ohne Metaphysik, ohne
alles, was jenseits vom Diesseits ist."
Einige
Gedankengänge später folgten wichtige Sätze
vom
Zitator und erneut vom Studiogast Johannes
Rohbeck, die für den hier
betrachteten Zusammenhang Wichtiges zum
Ausdruck bringen. Zunächst der Zitator:
"Wir
müssen das vor Jahrtausenden begonnene Projekt
fortsetzen. Das einzige Werkzeug, das uns dabei zur Verfügung
steht, ist unsere
Fähigkeit, die Folgen unseres Handelns für andere
Menschen möglichst genau und
umfassend abzuschätzen, ihnen mit Einfühlung zu
begegnen und die Situation von
unterschiedlichen Standpunkten aus zu betrachten."
Und
unmittelbar danach die Reaktion von Johannes
Rohbeck:
"Das
hat auch etwas mit Humanismus zu tun: Dass der
Mensch soziale Verantwortung anerkennt und auch auf sich nimmt. Aber
nicht
wegen einer höheren Macht und auch nicht wegen einer
transzendenten
Perspektive, sondern weil er sich selbst verpflichtet. Und das ist aus
meiner
Sicht ein Stück Selbstbestimmung, so gesehen auch ein
Stück Freiheit, nämlich
keine Abhängigkeit von äußeren
Mächten, von irgendeiner Transzendenz, von
irgendeiner Lohn–und–Strafe–Instanz,
sondern selbstverpflichtet. Das ist der
Inbegriff von Freiheit und Autonomie."
Wie
die weiter oben zitierten Äußerungen des
französischen Philosophen André Comte-Sponville
(*1952), geben auch diese
Sätze die angemessene Antwort auf die in der
Abschnittsüberschrift gestellte Frage: Ohne Gott ist eben nicht alles erlaubt! Zudem steht die
darin
zum Ausdruck
kommende Haltung in wohltuendem Gegensatz zu jener, die bei sog.
"Gläubigen"
anzutreffen ist, deren Moral von egoistischem Heilsstreben bestimmt
wird. Und
verantwortliche Theologen und Kirchenführer machen bis heute
nicht den Eindruck,
als könnten sie das jemals begreifen.
Diesen
Eindruck fand ich bestätigt durch Worte eines prominenten
Kirchenführers im Talk
mit Günther Jauch (*1956), am 10. Februar 2013. Das
Thema der Sendung lautete Die
Glaubensfrage: Wie lebensnah ist die Kirche? Einer der
Teilnehmer war der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus
Schneider
(*1947). Ich denke, dass Schneider so etwas, wie ein
persönliches Credo
öffentlich machte, als er sagte:
"Wir
müssen die Gottesfurcht – weil …
wir brauchen
Maßstäbe – mit der Menschenliebe
zusammenbringen."
Er
gibt mit dieser theologischen Denkfigur deutlich zu erkennen, dass er,
bewusst
oder unbewusst, Anhänger der von Dostojewski formulierten
Auffassung ist. Er
bestätigt die oben zitierte,
von Richard Robinson stammende,
Geschichte von dem
Priester und den "zwei moralisch untadeligen Atheisten": Es sind wohl
im Wesentlichen Kirchenfunktionäre und die von ihnen noch
abhängigen "Gläubigen",
die genau jene von Dostojewski zum Ausdruck gebrachte Haltung
für der Weisheit
letzten Schluss halten. Mit
seinem dogmatisch begrenzten geistigen Rüstzeug aus dem
Denkgetto der Theologie kann
Schneider nicht zu der Erkenntnis gelangen, dass "Gottesfurcht"
völlig entbehrlich ist: Die Fähigkeit zur
"Menschenliebe" und die
Sensibilität für geeignete ethische
"Maßstäbe" hat der Mensch in
seiner langen biologischen und soziokulturellen Entwicklung erworben.
Diese
Erkenntnis ist nicht neu. An anderer Stelle dieser Site findet sich
eine
beispielhafte Beschreibung dieser Tatsache vom (ehemaligen) Theologen Helmut
Groos (s. hier).
Der
Schriftsteller Friedrich
Hagen (1903-1979) zeigt in seiner Schrift
über den
Frühaufklärer Jean
Meslier, dass große Denker diese Position schon in
der
griechischen Antike vertraten. Er bezieht sich auf Sokrates
(469-399):
"Für
Sokrates entspringt rechte Sittlichkeit aus begrifflicher Klarheit und
aus
Selbsterkenntnis. In sich selber findet ein jeder jenes
»göttliche Daimonion«,
das ihm rät, was zu tun und zu meiden sei, so wie 2200 Jahre
später Kants
»moralisches
Gesetz in mir«.
[…]
Die
Kirche setzt das »Daimonion« den heidnischen
Dämonen gleich und verurteilte
mitsamt der inneren Stimme auch den kritischen Geist."
Erst
kürzlich fiel mir das Gedicht Vermächtnis
von Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) in die Hand.
In der dritten Strophe äußert er Gedanken, die denen
des Sokrates
(469-399) ähneln:
"Sofort
nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag."
"Gläubige"
finden es anmaßend, wenn Andersdenkende ihrer "inneren
Stimme" mehr
vertrauen als den – nach ihrem Glauben – "von Gott"
erlassenen Ge-
und Verboten. Könnte es sein, dass sie ihre eigene "innere
Stimme"
nicht mehr so gut vernehmen, weil diese schon während ihrer
Sozialisation von
sehr viel lauteren religiös-ideologisch geprägten
Stimmen von außen übertönt
worden ist und in der Folge zunehmend leiser wurde? Liegt in dem,
bewusst oder
unbewusst ablaufenden, Widerstreit zwischen der "inneren Stimme" und
den von außen einwirkenden Stimmen nicht die eigentliche
Ursache für Glaubenszweifel,
von denen "Gläubige" heimgesucht werden? Zweifellos zeigt die
von Friedrich
Hagen beschriebene Umdeutung des "Daimonions"
durch das
organisierte Christentum auch heute noch Wirkung. Besonders
krass zeigt sie sich im Exorzismus,
in einem von der römischen Konfession noch heute zur
sogenannten
Dämonen- bzw. Teufelsaustreibung praktizierten archaischen
Ritual.
Im Übrigen drängt sich der Verdacht auf, dass es
viele
Probleme,
zu deren Lösung Exorzisten tätig werden –
u. a. gehen letztere dabei von diversen Formen sogenannter
"Besessenheit" aus
–,
ohne den negativen Einfluss von Religion bzw. Kirche gar nicht
gäbe.
Ergänzend
seien hier ein paar einleuchtende Gedanken aus dem Buch Die Zukunft
des Unglaubens des Philosophen, Publizisten und
Journalisten Gerhard
Szczesny
(1918-2002) zitiert:
"Das
Verhältnis von Religion und Ethik ist ein ideologisches
Verhältnis, nach dessen
Auflösung die Einsicht fällig wird, dass das
Moralische ein immanentes Element
der menschlichen Natur ist.
[…]
Wir
befinden uns in der Übergangsphase zwischen dem Zusammenbruch
einer religiös
begründeten und der Entstehung einer aus der Natur des
Menschen abgeleiteten
Ethik, die deshalb so kritisch ist, weil sich, wie wir gesehen haben,
der
Zusammenbruch der religiösen Moral zunächst als
Zusammenbruch jeder Moral
überhaupt darstellt und gerade von den Verteidigern der
Religion aus
begreiflichen Gründen als solcher interpretiert wird."
Zusammenfassend
lässt sich sagen: Die in diesem Abschnitt skizzierten
Auffassungen rechtfertigen
die Überzeugung, dass alle
Voraussetzungen für ein ethisch akzeptables Verhalten schon in
der Natur des
Menschen gegeben sind. Eine angemessene Ethik bedarf daher keiner
"Krücken" in Form der mit dem Gottesglauben verbundenen
Verheißungen
und Strafandrohungen. Es darf aber wohl auch nicht übersehen
werden, dass die
Aufgabe des Gottesglaubens für "Gläubige" mit Risiken
behaftet sein
kann. Wie gut der Übergang zu einer anderen Auffassung vom
"Wesen und Status
der Moral" (John
Leslie Mackie) gelingt, hängt von der
Persönlichkeits-
und Bewusstseinsstruktur der Betroffenen ab.
Die
Antwort auf die Frage Ist ohne Gott alles
erlaubt?
in der
Überschrift dieses Abschnitts kann schließlich nur
lauten: NEIN, denn von sozialer Verantwortung geprägte
ethische Handlungsmaximen gibt es auch ohne
jede Religion und jeden Gottesglauben und nochmals
NEIN,
denn selbstbestimmt und "selbstverpflichtet" lebende Menschen
müssen nicht erst durch "Gottesfurcht" motiviert werden,
diesen
Maximen gemäß
zu
handeln!
Wer gibt
den "Ungläubigen" Gewicht und Stimme?
(in Vorbereitung)
Ermutigende
Leitgedanken für "Ungläubige"
Analog
zu den oben vorgeschlagenen Leitgedanken
für christliche Reformer folgen hier
ein paar Merksätze und Leitgedanken für
"Ungläubige". Ich fand sie in
der einschlägigen Literatur und halte sie für
geeignet, das Weiterdenken
anzuregen.
Zunächst
ein paar Sätze des Philosophen und
Sozialpsychologen Erich Fromm
(1900-1980), die aus dem von seinem Nachlassverwalter,
dem Psychoanalytiker Rainer
Funk (*1943), unter dem Titel Wege zur
Befreiung – Über die Kunst des Lebens
herausgegebenen Sammelband
stammen. Fromm
schrieb sie um die Mitte des letzten Jahrhunderts:
"Ist
es nicht an der Zeit, dass wir endlich aufhören, über
Gott zu streiten, und
dass wir uns stattdessen gemeinsam darum bemühen, die heutigen
Formen des
Götzendienstes zu entlarven? Heute sind es nicht Baal und Astarte,
sondern die
Vergötzung des Staates und der Macht in den
autoritären Ländern und die
Vergötzung der Maschine und des Erfolges in unserer eigenen
Kultur. Es ist die
alles durchdringende Entfremdung, welche die geistigen
Qualitäten des Menschen
bedroht. […]
In
einer menschlich gewordenen Gesellschaft wird die Gesellschaft
selbst zur bedeutendsten Angelegenheit des Menschen neben seinem
eigenen Leben
– und beide haben das gleiche Ziel."
Es
folgt ein weiterer Satz aus den Schriften Erich
Fromms, und zwar aus seinem Buch Jenseits
der Illusionen, das 1962 in der amerikanischen
Buchreihe
"Credo-Perspektiven" erschien. Das zwölfte Kapitel ist mit dem
Titel
"Credo" überschrieben und umfasst 26 "Glaubens-Artikel"
bzw. kurze Abschnitte, die alle mit "Ich glaube …" beginnen.
Diese
Formulierung ist wohl dem Motto der Buchreihe geschuldet. Mir gefiele
besser:
Ich bin überzeugt …. Jeder dieser Artikel ist
dennoch lesens- und
beherzigenswert. Einer davon, der fünfundzwanzigste, lautet:
"Ich
glaube, dass der Mensch seine Illusionen
aufgeben muss, die ihn versklaven und lähmen; dass er sich der
Wirklichkeit in
sich und außerhalb seiner selbst bewusst werden muss, um eine
Welt aufzubauen,
die der Illusionen nicht mehr bedarf. Freiheit und
Unabhängigkeit kann man nur
erlangen, wenn man die Ketten der Illusion sprengt."
Eine ähnliche, auf einen konkreten
Aspekt bezogene,
Überlegung fand ich im Buch Die
Zukunft
des Unglaubens des
Philosophen Gerhard
Szczesny (1918-2002):
"Es
gibt Illusionen, deren Zerstörung mehr
Schaden als Nutzen stiftet. Der Mythos vom vorhandenen oder zu
bewahrenden
christlichen Charakter der westlichen Welt
gehört […] nicht zu dieser Art
von Illusionen.
Der
katholische Theologe, ehemalige Priester und
Kirchenkritiker Horst Herrmann (1940-2017)
benennt, in seinem Beitrag zu dem von Karheinz Deschner (1924-2014)
herausgegebenen
Buch Woran
ich glaube, jene
Hoffnungen, die er mit der Weiterentwicklung der Menschheit verbindet.
Am Ende
des erhofften Entwicklungsprozesses sieht er das Christentum, aus
historischer Perspektive,
auf "eine bloße Episode" reduziert:
"Ich
hoffe, dass das Begriffspaar Gott-Mensch
sich endgültig auflösen lässt und Mensch
Mensch wird und nichts anderes. Ich
hoffe, dass es immer mehr Menschen gelingen wird, sich von ihren
archaischen
Ängsten und deren Göttern zu befreien und sich selbst
als Hoffnung für andere
und künftige Menschen zu engagieren.
Dann
wird auch Geschichte nach menschlichem Maß
gerechnet. Dann gelten die zweitausend Jahre Christentum im Vergleich
zu den
Millionen Jahren Menschheit ohne Christentum als eine bloße
Episode, und als
eine nicht sonderlich geglückte. Dann werden die
geschichtlichen Tage der
Religion, die manchem Ängstlichen noch wichtig erscheinen, als
das verstanden
werden, was sie, aufs Ganze der Weltzeit gesehen, stets gewesen sind:
Augenblicke, Durchgangsphasen."
In
einem Abschnitt seines Buches Warum ich
kein Christ sein will skizziert der Autor Uwe Lehnert
(*1935) seine
Vorstellung vom "mündigen und nachdenkenden" Menschen. Und
während er
gleichzeitig die Grenzen menschlicher Vernunft einräumt, macht
er klar, dass
diese Begrenzung "keine willkürlichen Behauptungen" (wie z. B.
von Religionen
dogmatisch fixiert) rechtfertige:
"Ich
meine, dass eine Denkweise, die mit Offenbarungen, Opfermythen und
Dogmen operiert, zu einem mündigen und nachdenkenden, um
Wahrhaftigkeit und
Widerspruchsfreiheit bemühten Menschen einfach nicht passt,
auch wenn
gleichzeitig einzuräumen ist, dass unserer Vernunft
temporäre und vielleicht
auch prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Aber eine mögliche
Begrenzung der
Vernunft rechtfertigt keine willkürlichen Behauptungen und
keine bloßen
Versprechungen aus überkommener Zeit."
Der
französische Philosoph André
Comte-Sponville
(*1952), den ich zu den "alten" Atheisten zähle, hat in seinem
Buch Woran
glaubt ein Atheist? eine Vielzahl plausibler
(Leit-)Gedanken formuliert, aus denen ich diese herausgriff:
"Nicht
die Hoffnung veranlasst zum Handeln (wie
viele Menschen hoffen auf Gerechtigkeit und tun nichts
dafür?), sondern der
Wille. Nicht die Hoffnung befreit, sondern die Wahrheit. Nicht die
Hoffnung
gibt Leben, sondern die Liebe.
Verzweiflung
kann […] belebend, heilsam, fröhlich
sein. Verzweiflung ist das Gegenteil des Nihilismus oder das Gegengift.
Nihilisten sind nicht verzweifelt, sondern enttäuscht (und man
kann nur
enttäuscht werden, wenn man sich Hoffnungen gemacht hat),
empört, verbittert,
voll Rachsucht und Groll.
[…]
Dass
wir nur ein einziges Leben haben – ist das ein
Grund, es zu vergeuden? Dass es keinen sicheren Sieg, ja nicht einmal
einen
unwiderruflichen Fortschritt für Frieden und Gerechtigkeit
gibt – ist das ein
Grund, nicht mehr für sie zu kämpfen?
Natürlich nicht! […] Und ganz allein mit
seinem Mut und seiner Liebe ist der Mensch erst richtig fähig,
Veränderungen zu
bewirken. […]
Jenseits
aller Moden und Meinungswandel deutet alles
darauf hin, dass Glaube und Unglaube auf lange Sicht miteinander
auskommen
müssen. Na und? Das stört doch keinen außer
Sektierer oder Fanatiker. Viele
unserer größten Intellektuellen sind Atheisten,
selbst in Amerika, und viele
sind gläubig, selbst in Europa. Das bestätigt nur,
dass – heute genauso wie
einst – kein Wissen einer von beiden Seiten recht gibt. Das
spricht sehr für
Toleranz und Offenheit, weniger für den Agnostizismus."
In
der modernen (säkularen) Musikkultur gibt es ebenfalls
beeindruckende Denkansätze. Einer findet sich z. B. in dem
Song Imagine des
britischen Musikers, Komponisten und Autors John Lennon
(1940-1980). In der
zweiten, von drei Strophen, heißt es:
"Stell
dir vor es gibt keine Länder,
Es ist
nicht schwer es zu tun.
Nichts
wofür man morden oder sterben müsste,
Und
auch keine Religion.
Stell
dir vor alle Menschen
Leben
in Frieden.
Du magst
mich für einen Träumer halten,
Aber
ich bin nicht der einzige.
Ich
hoffe, du wirst dich uns eines Tages anschließen,
Und
die Welt wird eins sein."
Zu
den Denkern, die mich während meiner Recherchen am
stärksten
beeindruckt haben, gehört der deutsch-amerikanische Philosoph Walter
Kaufmann
(1921-1980). Sein Buch Der
Glaube eines
Ketzers gehörte zu den ersten
religionskritischen Büchern, auf die ich
aufmerksam wurde. Aus ihm stammt dieser Leitgedanke:
"Der
einzige Faktor, der zählt, ist die nie erlahmende
Bereitschaft, stichhaltige
Einwände gelten zu lassen."
Schlussbemerkungen
Der
erste Beitrag unter Aktuelles,
Nachgetragenes, Satirisches, vom 16. August 2007,
war eine "Zwischenbilanz". Am Ende dieses Beitrags stellte ich damals,
sehr voreilig, diese Frage:
"Wie könnte die
nachhaltige Ablösung des religiös
begründeten und immer noch einflussreichen
Ideengebäudes durch eine, von einem ethisch
überzeugenden
Wertekanon begleitete, neue Weltsicht
gelingen?"
Heute
erscheint mir die Fragestellung als zu wenig differenziert. Ich sehe
die
Notwendigkeit mindestens zwei Dimensionen zu unterscheiden, die zwar
nicht ohne
gegenseitige Abhängigkeiten existieren, aber eine getrennte
Betrachtung erfordern:
eine individuelle und eine gesellschaftliche Dimension. D. h. es sind zwei
Fragen zu stellen:
- Welche
alternative Weltsicht bietet sich jenen Menschen
an, die sich von der Religion verabschiedet haben oder verabschieden
wollen?
- Wie
könnte in der Gesellschaft
die
nachhaltige Ablösung des religiös
begründeten und immer noch einflussreichen
Ideengebäudes durch eine überzeugende alternative
Weltsicht gelingen?
Die
zweite
Frage, mit der sich nicht nur Philosophen, Sozialpsychologen,
Soziologen etc.
befassen, sondern insbesondere auch diverse säkulare
Organisationen, Verbände,
Stiftungen etc., lasse ich hier unbeantwortet stehen.
Ein
Versuch, mögliche Antworten auf die erste
Frage zu suchen, spiegelt sich in
den vorausgehenden Abschnitten, in denen verschiedene Aspekte
alternativer
Denkansätze für "Ungläubige" angerissen
wurden. Ergänzend dazu folgt,
eher stichwortartig, ein vorläufiges
persönliches Resümee:
Am
Ende meiner Recherchen stelle ich fest, dass mir
die atheistische Weltsicht und Lebensperspektive, wie sie von einigen
"alten Atheisten" vorgeschlagen wird, am plausibelsten erscheint.
Diese Form des Atheismus ist undogmatisch, nicht-militant, begleitet
von
gesunder Skepsis, und sie umfasst soziale Verantwortung sowie ein
klares
Bekenntnis zu ethischen Werten. Ihre hervorstechenden Merkmale sind
Humanismus
und Rationalismus.
Daneben
gibt es natürlich auch andere alternative
Denkweisen. Es wäre also abwegig anzunehmen, dass es die, oder gar die
einzige
alternative Weltsicht gibt. Liefen Verfechter einer derartigen Annahme nicht Gefahr,
dieselben kardinalen
Fehler erneut zu begehen, die von den Religionen begangen wurden:
Absolutheitsansprüche
zu erheben, Dogmen zu beschließen und diesen, unter
Gewaltanwendung, rücksichtslos
Geltung zu verschaffen? Demgegenüber habe ich bisher den
Eindruck, dass sich "Ungläubige"
unterschiedlicher Positionen insgesamt toleranter und respektvoller
verhalten und,
in ihrer undogmatischen Haltung, offener sind für die besseren
Argumente.
Während
meiner Suche nach einer alternativen Weltsicht
bzw. Lebensweise stellte ich fest, dass die mögliche neue
Sicht, ohne einen
Blick über den eigenen "Tellerrand" hinaus, eingeengt bliebe.
Ich
denke, dass die Vision von einer
Gesellschaft ohne Religion(en) das Fernziel ihrer universalen
Anerkennung und Verbreitung einschließt, dessen Realisierung
u. a. voraussetzt, dass alle
Individuen auf diesem Globus möglichst unter den gleichen
sozialen und
wirtschaftlichen Bedingungen leben. Aus heutiger Sicht zweifellos eher
eine
Fata Morgana. Dennoch
wäre Resignation die falsche Reaktion. Eine langfristige Sicht
einerseits und
andererseits die Überzeugung, dass wir uns in einem "nicht
umkehrbaren
Aufklärungsprozess" befinden, wie Gerhard Szczesny dies
sah, sind m. E.
geeignet, der drohenden Resignation vorzubeugen.
Der
eben
erwähnte Philosoph und Schriftsteller Gerhard
Szczesny (1918-2002) hat, in den
Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts, in seinem Buch Die Zukunft
des Unglaubens die Vision von einer alternativen,
künftig in allen Teilen der Menschheit anerkannten,
Weltanschauung mutig so
formuliert:
"Wir
erst stehen am zaghaften Beginn einer
solchen Entwicklung, die in ihrem Verlauf den Typus der Weltreligion
zum
Erlöschen bringen wird. Denn dieser im mythischen und
magischen Denken verhaftete
Typus der Weltdeutung ist von der Bindung an eine bestimmte Kultur
nicht zu
trennen. Wie diese ist er Äußerung eines
umweltbedingten Seelentums. So wird
auch dem Zeitalter der Hochreligionen kein Zeitalter der (einen)
Welt-Religion,
sondern ein Zeitalter der (einen) Welt-Weltanschauung folgen."
Ganz
ähnliche Gedanken fand ich beim deutsch-amerikanischen
Psychoanalytiker, Philosophen und Sozialpsychologen Erich Fromm
(1900-1980). In
seinem, 1962 erschienenen, Buch Jenseits der Illusionen
schrieb er:
"Ich
glaube, dass die Eine Welt, die im Entstehen
begriffen ist, nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn ein Neuer Mensch
entsteht – ein Mensch, der sich von den archaischen Bindungen
an Blut und Boden
freigemacht hat, der sich als Menschensohn, als Weltbürger
fühlt und dessen
Loyalität der ganzen Menschheit und dem Leben und nicht einem
exklusiven Teil
derselben gehört; ein Mensch, der sein Vaterland liebt, weil
er die Menschheit
liebt, und dessen Urteilsfähigkeit nicht durch seine
stammesmäßige
Zugehörigkeit getrübt wird."
Mit
diesen Worten zweier visionärer Denker, denen ich nichts
hinzuzufügen habe,
beende ich meine collagenartige Darstellung der, während
meiner privaten Expedition, gesammelten Fakten und Erkenntnisse.
Artur
Lechelt
August
2013
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