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Schriftzug: Den Opfern christlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz
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 A r c h i v

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Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.

Der Physiker
Max Planck (1858-1947)
(gefunden bei Uwe Lehnert)

Intellektuelle Aufrichtigkeit ist die erste Voraussetzung menschlicher Würde.

Der brit. Autor und kath. Theologe
Peter de Rosa (*1932)

Eine Überzeugung, zu der man nicht durch Argumente gefunden hat, lässt sich durch Argumente auch nicht so schnell erschüttern.

Die Schriftstellerin
Karen Duve (*1961)
(DER SPIEGEL 14/2009)

 
 
 

Aktuelles, Nachgetragenes, Satirisches

    2012 - 2014

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07. Mai 2014
Der Sühnetod Christi  war Gott persönlich das Opfer?
(Nachtrag zum Sühnetod Christi  Versöhnung mit Gott, Erlösung der Gläubigen?)

Ein pensionierter evangelischer Pfarrer rief mich kürzlich an – wir haben vor Jahren, für einige Zeit, in einem kirchlichen Gremium zusammengearbeitet. Er war zufällig auf diese Website gestoßen und teilte mir u. a. mit, dass er nicht mit allem, was er schon gelesen hätte, einverstanden sei, meiner Haltung zum Absolutheitsanspruch des Christentums und zum Opfer- bzw. Sühnetod Christi jedoch zustimmen könne. Im Laufe unseres Gesprächs erfuhr ich auch etwas über seinen aktuellen Interessensschwerpunkt: Er widmet sich, wie ich feststellen konnte, mit großem Engagement der Arbeit für Frieden und Gewaltverzicht. Dazu beteiligt er sich an den Aktivitäten entsprechender innerkirchlicher Gruppen und ist darüber hinaus aktives Mitglied des Internationalen Versöhnungsbundes. Am Ende unseres Telefonats stellte er dann in Aussicht, mir einige Papiere zukommen zu lassen, die mich interessieren könnten, u. a. die Kopie eines SPIEGEL-Interviews mit dem Theologen Rudolf Bultmann (1884-1976) aus dem Jahre 1966.


Das SPIEGEL-Gespräch mit Bultmann erregte mein besonderes Interesse. Es beginnt mit dem Hinweis auf eine "Anti-Bultmann-Kundgebung" in der Dortmunder Westfalenhalle im März 1966. 22 000 Teilnehmer, Angehörige einer "Bekenntnisbewegung", protestierten dort gegen die "Irrlehre" Bultmanns, wie sie seine, von der traditionellen Theologie abweichende, Position etikettierten. Bultmann war durch eine kritische Analyse der im Neuen Testament (NT) überlieferten Schriften zu der Auffassung gelangt, "dass viele Worte Jesu ihm erst nach seinem Tode zugeschrieben worden seien und dass viele Wunderberichte Legenden seien". Das war zwar nicht neu, andere Theologen waren schon vor ihm zu dieser Erkenntnis gelangt. Bultmann zog immerhin Konsequenzen daraus, bedauerlicherweise jedoch nur in sehr bescheidenem Umfang: Er strebte eine Neuinterpretation der Schriften und der daraus abgeleiteten Glaubensinhalte des Christentums an. Im Jahr 1941 löste er "mit einem einzigen Artikel die Debatte über die Entmythologisierung aus". Diese betraf vor allem jene mythischen Vorstellungen, die sich um den vermeintlichen Gottessohn Jesus alias Christus rankten.

In einigen ergänzenden Informationen zum Interview, aus denen schon im vorausgehenden Abschnitt zitiert wurde, verdeutlicht DER SPIEGEL, welche Rolle Bultmann seinerzeit im öffentlichen Bewusstsein spielte, und was konservative christliche Kreise ihm vorwarfen:

"Rudolf Bultmann ist neben Karl Barth der bedeutendste und zugleich der umstrittenste Theologe der Gegenwart.
[…]
Vorgeworfen wird Bultmann vor allem, dass er die Gottessohnschaft Jesu, die Jungfrauengeburt und die Auferstehung Jesu leugne."

Wer die Gottessohnschaft Jesu leugnet stellt insbesondere, gewollt oder ungewollt, die gesamte christliche "Opfertheologie" in Frage. Natürlich ließen sich hier verschiedene Teilaspekte dieser Theologie und deren Folgen für Individuen und Gesellschaft thematisieren. Es gibt Theologinnen und Theologen, und mein o. g. Gesprächspartner gehört wahrscheinlich dazu, die u. a. sehr ernsthaft den unübersehbaren "Zusammenhang zwischen Opfertheologie und christlicher Gewalt" diskutieren (s. auch hier) und daraus ihre Ablehnung der altchristlichen Vorstellung vom "Sühnopfer Christi" ableiten. Mich interessiert hier jedoch nur ein einziger, m. E. aber bedeutender, Teilaspekt, der in der folgenden Passage des wiedergegebenen Interviews nicht zu übersehen ist:

"SPIEGEL: Über die Bedeutung des Kreuzes, des Todes Jesu am Kreuz, haben Sie so Eindringliches geschrieben wie wenige andere Theologen. Dazu gehört wohl auch der Satz, den einige für berühmt, andere für berüchtigt halten: »War Christus, der den Tod litt, Gottes Sohn, das präexistente Gottwesen, was bedeutet dann für ihn die Übernahme des Sterbens? Wer weiß, dass er nach drei Tagen auferstehen wird, für den will offenbar das Sterben nicht viel besagen!«

BULTMANN: Sie zitieren diesen Satz in diesem Zusammenhang mit Recht: Wenn an der Präexistenz im traditionellen Sinn festgehalten wird, so wird die Bedeutung des Kreuzes abgeschwächt."

Wenn Jesus Gott war  das wurde ihm tatsächlich schon durch das Konzil in Nicäa (325), spätestens und abschließend jedoch durch einen Beschluss(!) des Konzils in Chalcedon (451) unwiderruflich bescheinigt (s. hier–, dann wird "die Bedeutung des Kreuzes" m. E. nicht nur, wie es Bultmann sehr zurückhaltend formulierte, "abgeschwächt", sondern schlicht ad absurdum geführt!

Einem Menschen, der erst, von ihm selbst gänzlich unvorhersehbar, nach Tod und Auferstehung zum Gott erhoben wird – entsprechend der ursprünglich von Paulus gehegten Glaubensmeinung – könnte, um in christlicher "Logik" zu bleiben, einigermaßen glaubwürdig und nachvollziehbar, die Rolle des "Opferlammes" zugeschrieben werden, dessen Leiden und Tod einem zornigen Gott eine akzeptable Genugtuung (Satisfaktionslehre) für die von seinen Geschöpfen ihm gegenüber verübten Unbotmäßigkeiten (, Unglaube, Ungehorsam, Lästerung etc. etc.) verschafften.

Was für einen zum Gott erhobenen Menschen, folgt man christlicher "Logik", also noch halbwegs plausibel erscheinen mag, verliert für einen Gott, der sich (inkognito) unter seine Geschöpfe mischt und persönlich die Rolle des "Opferlammes" übernimmt, jegliche Plausibilität: Einmal angenommen, ein Gott, der ja kein Wesen aus Fleisch und Blut sein soll und dem, gemäß christlicher Lehre, u. a. Allmacht und Allwissenheit oder kurz: Vollkommenheit zugeschrieben werden, würde sich, aus welchen Gründen auch immer, der eigenen Hinrichtung durch seine Geschöpfe unterziehen, so können ihm Kreuzigung, sowie Leiden und Sterben doch überhaupt nichts anhaben, mithin gar nichts bedeuten! Ein ungeheuerlicher Verdacht drängt sich ins Bewusstsein: Dieser Gott inszenierte ein perfides Täuschungsmanöver.

Durch die Lehre vom "präexistenten Gottwesen", die sich, auf der Basis der Eingangsverse des Johannesevangeliums, des jüngsten Evangeliums im NT, erst einige Jahrhunderte nach dem Tode dieses vermeintlichen "Gottwesens" endgültig gegen andere Lehrmeinungen durchgesetzt hatte, wurde alles auf den Kopf gestellt: Indem die Verfechter dieser Lehre einen Gott ans Kreuz schlugen, machten sie diesen Gott, ganz unbewusst und wahrscheinlich ungewollt, zum Betrüger bzw. zum Protagonisten eines beispiellosen Schmierenstücks! Da, nach urchristlichem Verständnis, nichts ohne seinen Willen geschieht, kann darüber hinaus als sicher angenommen werden, dass er nicht nur die Hauptrolle spielte, sondern gleichzeitig Produzent, Regisseur, Maskenbildner und Kulissenschieber war.

Ich frage mich besorgt: Was wird nun aus jenen "Gläubigen", aus den noch lebenden und aus den schon verstorbenen, die im Vertrauen auf die "Vergebung ihrer Sünden" bzw. im Vertrauen auf ihre "Erlösung" – wovon auch immer –, den "Leib" des "Gekreuzigten" verzehrten und sein "Blut" tranken? Muss das zentrale christliche Projekt nicht neu definiert werden, vielleicht unter dem Arbeitstitel 'Erlösung 2.0'? Fragen über Fragen …

Ich will mich ja nicht einmischen, dennoch empfehle ich allen, die sich ein Leben ohne Gott nicht vorstellen können, sich einen anderen zu suchen. Vielleicht könnten sie sich von Epikur (um 342-270 v. Chr.) inspirieren lassen:

"Das glückselige und unvergängliche Wesen (die Gottheit) kennt weder selbst Schwierigkeiten, noch bereitet es sie einem anderen; daher hegt es weder Zorn noch Wohlwollen, denn nur bei einem schwachen Wesen sind derartige Regungen möglich."

Den erfundenen christlichen Gott als Betrüger zu betrachten wäre natürlich völlig absurd. Noch nicht einmal die Schöpfer dieser "Kunstfigur" können als solche gesehen werden: Sie waren, aus heutiger Sicht, wohl ausnahmslos und in nahezu jeder Hinsicht ahnungslose religiöse Enthusiasten, die keine Mühe damit hatten, die in ihrer spätantiken Umwelt allgegenwärtigen Mythen und Legenden für bare Münze zu nehmen. Die eigentlichen Betrüger sind diejenigen, die es besser wissen oder besser wissen könnten, und die dennoch die im NT verewigten Mythen und Legenden auch heute noch als "göttliche Wahrheit" verkaufen!

Anders als Bultmann, zog z. B. der Theologe Franz Overbeck (1837-1905), der durch seine Analysen des NT schon lange vor ihm zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt war, sehr viel weitergehende Konsequenzen: Sich vom Christentum endgültig zu verabschieden war für ihn eine "Befreiung". Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass "gerader Menschenverstand und höchste Weltsicht stets entgegengesetzt gedacht" hätten als die Theologen (s. hier). Von ihm stammt auch dieses Wort:

"Jede radikalere Preisgebung der Bibel als religiöses Denkmal muss zur Erkenntnis führen, dass die bisherige religiöse Entwicklung der Menschheit eine heillose und darum still zu stellende Verirrung darstellt."

Der Philosoph Joachim Kahl (*1941), ein Philosoph mit profunder theologischer Vorbildung, kam zu einem noch sehr viel drastischeren Urteil:

"Das Neue Testament ist ein Manifest der Unmenschlichkeit, ein groß angelegter Massenbetrug; es verdummt die Menschen, statt sie über ihre objektiven Interessen aufzuklären."

Und er beschreibt danach sehr eindrücklich, "welche fatale ideologische Funktion das Hauptthema des Neuen Testaments, das unschuldige Leiden und Sterben Jesu, in diesem Zusammenhang einnimmt".

Natürlich sind längst nicht mehr alle Theologinnen und Theologen, insbesondere unter den evangelischen, Anhänger der Glaubensmeinung, dass Jesus Christus Gott sei. Das bedeutet für sie aber auch, dass sie Texte des NT entweder selektiv benutzen, in irgendeiner Weise zurechtstutzen oder, wie Joachim Kahl es einmal in anderem Zusammenhang ausdrückte, "christlich frisieren" müssen. – Aufgrund ähnlicher Überlegungen nannte Franz Overbeck die Theologen folgerichtig "die Figaros des Christentums".

Anmerkungen
- Das Interview mit dem Theologen Bultmann war in der SPIEGEL-Ausgabe Nr. 31/1966, S. 42-45, erschienen.
- Das Epikur-Zitat ist EPIKUR 
PHILOSOPHIE DER FREUDE (S. 63) entnommen.
- Die Overbeck-Zitate stammen aus dessen Buch Christentum und Kultur (S. 267, 77, 274). Seine "Befreiung" vom Christentum erwähnt Overbeck in seinen Selbstbekenntnissen (S. 139).
- Die Kahl-Zitate sind dessen Buch Das Elend des Christentums (S. 19, 64) entnommen.

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24. April 2014
Abschied von Karlheinz Deschner (1924-2014)

Am 08. April 2014 starb, in seinem neunzigsten Lebensjahr, der literatur- und kirchenkritische Schriftsteller Karlheinz Deschner. Durch einen Nachruf im stern, vom 16. April 2014, erfuhr ich von seinem Tod. In diesem Nachruf würdigte die katholischen Theologin und Kirchenkritikerin Uta Ranke-Heinemann (*1927) einen "Weggefährten, dessen Standhaftigkeit sie bewunderte":


"Ich habe dich immer als Weggefährten empfunden im Ringen, dass Dickicht von Lügen und Halbwahrheiten zu durchdringen, auch wenn wir beide nicht immer zu gleichen Ergebnissen gekommen sind."

Während meiner eigenen Recherchen, zu verschiedenen Aspekten des Christentums, stieß ich schon in einem frühen Stadium auf die Christentums- und Kirchen-kritischen Werke Deschners. Nach meiner Erinnerung las ich als erstes das Buch Der Anti-Katechismus, das er zusammen mit dem katholischen Theologen Horst Herrmann (1940-2017) veröffentlicht hatte. Danach folgten Der gefälschte Glaube, seine "kritische Kirchengeschichte" Abermals krähte der Hahn und einige andere. 

Kein Christentums-kritischer Autor hat mich so nachhaltig über die mehr als fragwürdige Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Texte aufgeklärt wie Karlheinz Deschner. Schon dadurch verlor die christliche Lehre in meinen Augen jede Glaubwürdigkeit. Er war ein Autor, der ganz maßgeblich dazu beitrug, dass ich mich vom Christentum verabschieden konnte. 

Manche Kritiker sahen seine Art zu argumentieren und Schlussfolgerungen zu ziehen von "Aggressivität" und "Polemik" gekennzeichnet. Ich finde, dass Karlheinz Deschner seine kritische Haltung stets in deutlichen, direkten Worten zum Ausdruck brachte. M. E. zeigt sich in seinen Texten ein leidenschaftliches Engagement im Dienste notwendiger Aufklärung, nicht nur über die fragwürdigen Lehr-und Glaubensinhalte des Christentums, sondern insbesondere über das ebenso fragwürdige, auf gesellschaftlichen Machtgewinn und/oder Machterhalt ausgerichtete, "selbstherrliche" Gebaren der Kirchen. 

Darüber hinaus sind die Texte Deschners von seiner nie erlahmenden intellektuellen Redlichkeit geprägt. Beim Lesen seiner Texte kam mir nie auch nur der leiseste Verdacht, er hätte die unendlich vielen Quellen der zitierten Fakten vielleicht nicht sauber recherchiert und analysiert. 

Den oben erwähnten Kritikern Deschners möchte ich folgende Worte des deutsch-amerikanischen Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980) entgegenhalten:

 

"Der ostentative Gebrauch eines Jargons wird fälschlich für Objektivität gehalten. Anmaßung wird mit Präzision verwechselt, wortreiche Umständlichkeit mit Sorgfalt. Leidenschaftslosigkeit gilt als Beweis dafür, dass man nicht willkürlich verfährt. Ängstliches Kaschieren subjektiver Elemente und Leidenschaftslosigkeit sind jedoch weder ein Ausweis intellektueller Ehrlichkeit, noch haben sie überhaupt etwas damit zu tun."

Karlheinz Deschner war und bleibt ein Vorbild an "Standhaftigkeit" und Ausdauer für alle Aufklärer, und Aufklärung ist und bleibt eine Daueraufgabe.

Anmerkung
Das Kaufmann-Zitat stammt aus Der Glaube eines Ketzers (S. 24).

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12. Januar 2014
BRD: Schlaraffenland für Kirchen  Ekklesia-Lobbyisten machen's möglich

Auslöser für diesen Beitrag ist eine aus dem stern vom 02.10.2013 herausgerissene Seite, die einen Teil der Rubrik Die Welt verstehen – kurze Antworten auf aktuelle Fragen enthält. Ein stern-Politikredakteur beantwortet darin die Frage einer Leserin:

Frage:
"Warum steigen trotz der vielen Austritte die Einnahmen der Kirchen?"

Antwort:
"In der Tat: In den vergangenen 20 Jahren haben evangelische und katholische Kirche mehr als 6,4 Millionen Mitglieder verloren. Dennoch konnten beide 2012 Rekordeinnahmen verbuchen: 4,6 Milliarden Euro die Protestanten, 5,2 Milliarden Euro die Katholiken. Der Grund: Die Zahl der Erwerbstätigen und auch die Löhne sind kräftig gestiegen. Wie der Fiskus profitieren auch die Kirchen."

Dass der Fiskus von der steigenden Zahl der Erwerbstätigen profitiert, kann ich akzeptieren: Er sorgt schließlich für die "gesellschaftliche Infrastruktur". Dass die Kirchen davon profitieren, ist ein krasser Systemfehler und nicht akzeptabel. Den Kirchenoberen müsste die Schamesröte ins Gesicht steigen. Die von Ihnen vielbeschworene und stets wortreich geforderte Gerechtigkeit für alle Teile der Gesellschaft ist für sie in diesem Zusammenhang kein Thema. Ist es gerecht, bei einer deutlich reduzierten Mitgliederzahl, mehr einzunehmen als je zuvor? Wäre es nicht an der Zeit, dass die Kirchen Teile ihrer Kirchensteuereinnahmen an ihre Mitglieder zurückzahlten? Und müsste die Politik nicht längst reagieren und eine detaillierte, lückenlose Darstellung des tatsächlichen, an die gesunkenen Mitgliederzahlen angepassten, Finanzbedarfs fordern? 

Noch dringlicher erscheint der gesellschaftspolitische Handlungsbedarf, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Politologe und Autor Carsten Frerk (*1945) in seinem Violettbuch Kirchenfinanzen feststellt:

"Die Zuwendungen der öffentlichen Hand an die Kirchen übersteigen deren Einnahmen aus der Kirchensteuer bei weitem. Und da die Kirchen steuerbefreit sind, tragen sie nichts zur Finanzierung der gesellschaftlichen Infrastruktur bei, von der sie profitieren."

Frerks Zusammenfassung dieser Zuwendungen aus Steuermitteln "zugunsten der Kirchen, ihrer Einrichtungen und ihrer Mitglieder (ohne Caritas und Diakonie)", die übrigens von allen Steuerzahlern aufgebracht werden, seien sie nun Christen, Muslime, Juden, Konfessionsfreie, Nichtreligiöse, säkulare Humanisten oder Atheisten, zeigt für das Jahr 2009 eine Summe von 19,3 Milliarden EUR!

Wenn man sich, über diese Informationen hinaus, die Medienberichte der letzten Monate vergegenwärtigt, die die mehr als großzügige oder genauer: verschwenderische Finanzierung bischöflicher Protzbauten oder den milliardenschweren Immobilienbesitz mancher Bistümer zum Thema hatten, dann kann man sich nur schwer gegen aufsteigende Zornesröte wehren. Und berücksichtigt man zudem die allgemein bekannte Geheimniskrämerei der Kirchen, in Geld- und anderen Angelegenheiten, dann ist die Annahme berechtigt, dass noch längst nicht der volle Umfang des fragwürdigen Umgangs der Kirchen mit den von der Gesellschaft überwiesenen Steuermilliarden aufgedeckt wurde.

Fairerweise muss hier natürlich eine differenziertere Betrachtung erfolgen. Diese sei anhand einiger Positionen der Frerkschen Zusammenfassung versucht: Die Gelder aus dem Einnahmeverzicht des Staates aufgrund der Absetzbarkeit der KiSt als Sonderausgabe (3 Mrd.), aus der Ersparnis der Kirchen durch den staatlichen Einzug der KiSt (1,8 Mrd.) und aus den Steuerbefreiungen der Kirchen (2,27 Mrd.), die eine Summe von 7,07 Mrd. ergeben, könnten sinnvoller für andere gesellschaftliche Aufgaben genutzt werden.

Ganz sicher ist es auch erforderlich die Finanzierung der Ausbildung des Nachwuchses zu stoppen, die mit 509 Mio. zu Buche schlägt und ausschließlich der konfessionsgebundenen Klientel der Kirchen zugutekommt.

Zu den Positionen mit dem höchsten Finanzbedarf gehören darüber hinaus Kindertageseinrichtungen (3,915 Mrd.), der schulische Religionsunterricht (1,7 Mrd.) und die Konfessionsschulen (2,264 Mrd.). Dieser Finanzbedarf bliebe wahrscheinlich in ähnlicher Größenordnung bestehen, auch wenn der Staat, im Zuge einer umfassenden Neuordnung, die Trägerschaft übernähme. 

Allerdings ließen sich, aus laizistischer Sicht, durch eine Reform wichtige Fortschritte erzielen: Der konfessionelle Religionsunterricht an den Schulen würde entfallen wodurch die Kirchen keineswegs daran gehindert wären, kirchenintern auch weiterhin einen entsprechenden Unterricht für ihre Klientel anzubieten. Als integrierter Bestandteil des Schulfachs Ethik könnte dann flächendeckend eine neutrale Religionskunde eingeführt werden. In den Kindertagesstätten und Konfessionsschulen entfielen endlich die arbeitsrechtlichen Privilegien der Kirchen und, was für die anzustrebende Entwicklung einer konsequent laizistisch strukturierten Gesellschaft besonders wichtig wäre: Die Gefahr für Kinder und Jugendliche, religiös indoktriniert zu werden, wäre deutlich reduziert.

Grundsätzlich kann m. E. abschließend festgestellt werden: Die völlig überzogene Finanzierung bzw. Subventionierung der Kirchen muss dringend abgebaut werden. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass historisch gewachsene Verhältnisse unhinterfragt für alle Zeiten beibehalten werden. Das "System der hinkenden Trennung von Staat und Kirchen", in dem letzteren "viel Macht eingeräumt wird", wie der Theologe Friedrich Wilhelm Graf (*1948) es einmal formulierte, muss nachhaltig reformiert werden. Graf fordert daher, zwar sehr behutsam, aber dennoch unmissverständlich:

"Die offene Gesellschaft muss um der gleichen Freiheit aller willen Kirchenmacht wie die Macht anderer Verbände demokratisch begrenzen, etwa durch Erzeugung von Öffentlichkeit."

Bedauerlicherweise ist derzeit und bis auf weiteres keine tragfähige Mehrheit für die Durchsetzung entsprechender politischer Vorhaben absehbar. Dies umso weniger, als sich um den Kabinettstisch, der von Angela Merkel angeführten Regierung, wohl mehrheitlich Ekklesia-Lobbyisten gruppieren (s. Anmerkungen unten).

Es bleibt eine wichtige Aufgabe für alle konfessionsfreien Demokraten in Deutschland, durch unbeirrt fortgesetzte Aufklärung für eine echte Trennung von Staat und Kirchen einzutreten. Dann könnte vielleicht eines Tages sogar folgende Feststellung Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) ihre Gültigkeit verlieren, deren geradezu erschreckende Aktualität mich vor einiger Zeit überraschte:

"Die hohe reich dotierte Geistlichkeit fürchtet nichts mehr als die Aufklärung der unteren Massen."

Anmerkungen
- Die vom Theologen Friedrich Wilhelm Graf (*1948) geäußerten Gedanken wurden auf dieser Website schon mehrfach zitiert. Sie stammen aus einem Beitrag in der FAZ vom 19. Mai 2009. – Weitergehende Äußerungen Grafs zur Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses an den theologischen Fakultäten, für ihn ein "staatskirchenrechtlich geschütztes Theotop", finden sich hier.
- Das Goethe-Zitat ist dem Violettbuch Kirchenfinanzen entnommen.
- Von der Website des Koordinierungsrates säkularer Organisationen (KORSO) lässt sich ein Flyer mit dem Titel Jetzt reicht's! Staatsleistungen an die Kirchen ablösen! herunterladen.
- Das folgende Foto zeigt das Bundeskabinett, anlässlich der Überreichung der Ernennungsurkunden durch Bundespräsident Gauck, nach der Bundestagswahl 2013. Der Düsseldorfer Aufklärungsdienst, eine Regionalgruppe der Giordano Bruno Stiftung, hatte dieses Foto seinerzeit mit Anmerkungen versehen, die auf die weltanschauliche Orientierung der Kabinettsmitglieder schließen lassen:

Foto zeigt das Bundeskabinett bei Bundespräsident Gauck nach der Wahl 2013.

Nachtrag (05. Februar 2014)

Den vorausgehenden Text schickte ich kürzlich an einen der führenden Köpfe einer Partei, die gerade dabei ist, sich "neu zu sortieren". Ich verband dies mit der Anregung, das Thema strikte Trennung von Staat und Kirchen bzw. Stärkung des Laizismus in die inhaltliche Diskussion eines etwaigen neuen Parteiprogramms einzubringen. Im Gegenzug erhielt ich vom Angeschriebenen eine Mail, die einen Link zu einem von ihm vor einigen Jahren, in der FAZ, veröffentlichten Text enthielt. Da ich diesem Text keine ganz eindeutige Haltung zum Thema Laizismus entnehmen konnte, bat ich ihn um eine weitergehende Erläuterung. Daraufhin erhielt ich von ihm eine kurze und sehr präzise Positionsbeschreibung:

"Ich bin gegen Laizismus. Religionsunterricht in der Schule und Einzug der Kirchensteuer halte ich für unproblematisch."

Ich hatte an meinen Vorstoß keine allzu großen Erwartungen geknüpft, verhehle jedoch nicht, dass ich nach dieser Antwort dennoch enttäuscht und ernüchtert war. Abgesehen davon, dass in der zitierten Äußerung ein hohes Maß an Ignoranz sichtbar wird, zeigt sich hier einmal mehr, dass wohl viele Politiker alles vermeiden, was den Widerstand mächtiger gesellschaftlicher Institutionen oder Gruppen hervorrufen könnte: Nicht das Aufbrechen verkrusteter gesellschaftlicher Strukturen, zum Wohle aller, steht bei Ihnen im Fokus, sondern stets das egoistische, Klientel-orientierte Streben nach Machtgewinn und/oder Machterhalt. Ich gehe davon aus, dass dadurch bei immer mehr Bürgern und, mit Blick auf das hier angesprochene Thema, insbesondere innerhalb der wachsenden Gruppe der Konfessionsfreien, die häufig beklagte "Politikverdrossenheit" weiter befeuert wird.

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18. August 2013
Zum ersten Mal hier?


Vorbemerkungen

Heute habe ich diese Website für Suchmaschinen geöffnet. Ihre Bearbeitung erstreckte sich über mehrere Jahre und verlief nicht kontinuierlich, vielmehr mit zahlreichen Unterbrechungen und, bezogen auf einzelne Themen, mit unterschiedlich starker Motivation. Der Menüpunkt Absolutheitsanspruch enthält die frühesten, der Menüpunkt Neue Denkansätze? die spätesten Ergebnisse meiner Recherchen.

Jeder Leserin, jedem Leser wird sofort auffallen, dass das Christentum mit seinen "Geburtsfehlern", und die Kirchen mit ihrer fragwürdigen Praxis, ihren "Gläubigen" in absurden Dogmen fixierte Glaubensinhalte zuzumuten, den weitaus größten Teil dieser Website in Anspruch nehmen. Demgegenüber ist der Raum, den der Versuch einnimmt, mögliche alternative Geisteshaltungen für "Ungläubige" aufzuzeigen, von minimalem Zuschnitt.

Die Erklärung hierfür ist einfach: Meine ursprüngliche Absicht war, das mir zunehmend unglaubwürdig erscheinende Christentum zu "hinterfragen" und geeignete reformerische Denkansätze als notwendige Voraussetzungen für ein glaubwürdiges Christentum zu suchen. Mögliche Perspektiven für "Ungläubige" hatte ich zu Beginn meiner privaten Expedition überhaupt nicht im Blick. Die gewählte Struktur der Website ließe eine ähnlich umfangreiche Betrachtung dieses neuen Themas auch gar nicht zu. 

Es war nicht abzusehen, dass ich meine ursprüngliche Zielsetzung aufgeben würde – um hier das wichtigste Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem Christentum vorwegzunehmen. Es kommt hinzu, dass ich mich selbst noch in einer Phase der Neuorientierung befinde. Dennoch wollte ich etwaige "Neue Denkansätze" für "Ungläubige" zumindest kurz skizzieren.

Während der Bearbeitung dieser Website habe ich von zahlreichen Autorinnen und Autoren "abgeschrieben". An einen von ihnen muss ich am vorläufigen Ende meiner Recherchen ganz besonders intensiv denken: an den großen Theologen Franz Overbeck (1837-1905). Nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema dieser Site verstehe ich, was er, unter dem Datum des 12. Dezember 1900, in seinen Selbstbekenntnissen über sein persönliches Verhältnis zum Christentum festhielt (zitiert in der Schreibweise des 19. Jahrhunderts):

"Meine 27jährige Professur der Theologie in Basel hat keinen anderen Sinn gehabt, als für mich das Christenthum als Problem so lange zu conserviren, und ich bin denn auch, wie vielleicht bei diesem Verfahren nicht anders möglich war, schließlich zu keiner für Andere darstellbaren Lösung des Problems gekommen […], wohl aber, was mich betrifft, zu meiner gründlichen Befreiung davon."

Natürlich sind die Zweifel, die ich in den Vorbemerkungen des Menüpunktes Warum dieser Internet-Auftritt? erwähnte, nicht völlig gewichen. Inzwischen sehe ich mich aber, außer von Joachim Kahl (*1941), auch von anderen Autoren darin bestärkt, meine Kritik am Christentum und seinen Kirchen dennoch zu veröffentlichen.

Der Psychologe Franz Buggle (1933-2011) beschreibt in seinem Buch Denn sie wissen nicht, was sie glauben eine Verfahrensweise der Kirchen, mit deren Hilfe es ihnen immer noch gelingt,

", bei der ganz großen Mehrzahl heutiger Menschen durch ihre umfassende, alles durchdringende, zu einem großen Teil mit Steuermitteln finanzierte Strategie […] der Desinformation einen Zustand weitgehender Uninformiertheit, ja man kann es so hart formulieren, der weitgehenden Infantilisierung des religiösen Wissensstandes, auch bei sog. »Gebildeten«, Intellektuellen oder Hochschullehrern und Wissenschaftlern zu erzeugen."

Buggle zählt zu den Einsatzfeldern dieser Strategie u. a. die "weitestgehend staatlich finanzierten kirchlichen Kindergärten", den "staatlich finanzierten Religionsunterricht", die "staatlich finanzierten Theologischen Fakultäten an deutschen Universitäten" und die "öffentlich-rechtlichen Medien".

Früher hätte ich den Buggleschen Vorwurf der "Strategie der Desinformation" wahrscheinlich für übertrieben gehalten. Heute bin ich anderer Meinung. Auf ein markantes Beispiel ihrer konkreten Anwendung stieß ich im Internet bei der EKD. Meine kritische Würdigung finden Sie hier.

Ein weiteres Beispiel für den umfassenden Einsatz dieser kirchlichen Strategie fand ich in einer Publikation der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Dort wurde im Vorspann eines Beitrags die Äußerung eines evangelischen Theologen auf dem in 2004 abgehaltenen Ökumenischen Kirchentag in Berlin zitiert:

»Der Atheismus ist eine kulturelle Form des Autismus, einer krankhaften Ichbezogenheit.«

Jeder ehrliche "Gläubige", der sich eine Menschlichkeit bewahrt hat, die sich nicht nur gegenüber Angehörigen der eigenen Glaubensrichtung zeigt, verdient allerhöchsten Respekt. Ein Theologe, der eine solche Haltung vermissen lässt und Andersdenkende skrupellos diffamiert, hat jeden Anspruch auf Respekt verloren.

Im Übrigen darf derart platt argumentierenden Kirchenvertretern nicht die Meinungsführerschaft in gesellschaftsbezogenen Fragen überlassen werden.

Anmerkung
Bei der erwähnten Publikation handelt es sich um die EZW-Texte 176/2004 mit dem Titel Woran glaubt, wer nicht glaubt?. Das daraus entnommene Zitat stammt aus dem Beitrag Was diskutieren Atheisten? von Rudolf Ladwig, damals geschäftsführendes Mitglied des Vorstandes des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten e. V. (IBKA).

Zahllose weitere Beispiele ließen sich anfügen. Eine auf dieser Website schon mehrfach zitierte Einschätzung des Theologen Hans Conzelmann (1915-1989) bestätigt die kirchliche "Strategie der Desinformation" nicht nur sehr eindrucksvoll, sondern enthüllt zugleich klerikale Existenzsicherung als zugrunde liegendes Motiv:

"Die Kirche lebt davon, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Leben-Jesu-Forschung in ihr nicht publik sind."

Bei der konsequenten Umsetzung ihrer Strategie ist den Kirchen, insbesondere der römischen, offenbar jedes Mittel recht. Der katholische Theologe David Berger (*1968), der von 2008-2011 im Vatikan arbeitete, hat dies in der ZEIT vom 24. Mai 2012 aufgezeigt. Er beschrieb dort, wie die Akteure im Vatikan-internen Intrigenspiel gezielt Meinungsmache betreiben und welcher Hilfsmittel sie sich dabei bedienen:

"So antimodern man sich sonst positioniert, hat man doch die modernen Kommunikationsmittel von Internet bis Shitstorm entdeckt. So steht ein Heer williger Blogger bereit, strategisch wichtige Informationen im Internet zu verbreiten."

Es wäre naiv anzunehmen, dass der Vatikan die eben angesprochenen "Kommunikationsmittel" nicht auch – gewohnt skrupellos – zur Desinformation der Öffentlichkeit einsetzte.

Ein Anliegen dieser Website ist der Versuch, der unredlichen Informationspolitik der Kirchen – und sei es nur in bescheidenem Umfang – entgegenzuwirken. Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn interessierte LeserInnen hier Anregungen für weitergehende eigene Recherchen zum Thema fänden.

Denn ich bin durchaus nicht sicher, dass sich meine bisher gewonnenen Erkenntnisse und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen in jeder Hinsicht "auf der Höhe des möglichen Wissens" befinden. Ich schließe auch nicht aus, dass mir Vereinfachungen und gedankliche Kurz- oder Fehlschlüsse unterlaufen sind.

Der italienische Schriftsteller Stefano Guazzo (1530-1593) lieferte mir für diesen Zusammenhang das passende Stichwort:

"Die Diskussion ist das Sieb der Wahrheit."

Daher würde ich mich freuen, wenn mir interessierte Leserinnen und Leser ihre Kritik an den Inhalten dieser Site mitteilten (hier).



Bedienhinweise
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Einstiegsempfehlung

Mein Vorschlag ist, dass Sie zunächst einen Blick auf folgende Seiten werfen:

Wer das Christentum kennt und sich damit nicht mehr befassen möchte, der möge sich dann, falls interessiert, auf jene Teile der Hauptmenü-Seite Neue Denkansätze? konzentrieren, die sich mit den möglichen Perspektiven für "Ungläubige" befassen.

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04. Juni 2013

"Atheistische Poesie" vom Feuerbachianer Gottfried Keller

 

Ich beschäftige mich derzeit mit dem "Atheismus", einer möglichen Denkungsart und Lebensform für "Ungläubige". Zwangsläufig stieß ich dabei auf den Philosophen und Atheisten Ludwig Feuerbach (1804-1872). Sein religionskritisches Werk Das Wesen des Christentums war und ist wegweisend. Bei Joachim Kahl (*1941), ebenfalls Philosoph und Atheist, fand ich folgende Würdigung der geistesgeschichtlichen und bewusstseinsprägenden Langzeitwirkung Feuerbachs:

 

"Er hat einen bleibenden, weil zutreffenden Beitrag geleistet zur Entzifferung und Entzauberung von Religion, zur Erklärung und Kritik religiösen Bewusstseins als eines verkehrten Weltbewusstseins und damit einen Beitrag geliefert zur theoretischen Begründung eines säkularen und laizistischen Humanismus."

 

Im Rahmen meiner Recherchen stieß ich bei Kahl auch auf Informationen über die unmittelbare Wirkung Feuerbachs auf Leben und Werk des großen Schweizer Dichters Gottfried Keller (1819-1890). Ich finde sie so bemerkenswert, dass ich sie hier besonders erwähnen möchte. Im Winter 1848/49 hörte Keller Vorlesungen Feuerbachs in Heidelberg und traf sich mit ihm, wohl mehrfach, auch zu persönlichem Gedankenaustausch. Unter dem Eindruck der Weltsicht Feuerbachs schrieb Keller in einem Brief:

 

"Wie trivial erscheint mir gegenwärtig die Meinung, dass mit dem Aufgeben der sogenannten religiösen Ideen alle Poesie und erhöhte Stimmung aus der Welt verschwinde! Im Gegenteil! Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen und mein Bewusstsein zu reinigen und zu befriedigen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgendeinem Winkel der Welt nachzuholen."

 

Darüber hinaus spiegelt sich das veränderte Bewusstsein Kellers auch in seinem Werk, insbesondere in seiner Lyrik. Joachim Kahl interpretiert in dem mir vorliegenden Text drei Gedichte, von denen ich hier das folgende, das aus dem Jahr 1849 stammt, zitiere:

 

Ich hab' in kalten Wintertagen

 

Ich hab' in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.

 

Nun, da der Sommer glüht und glänzet,
Nun seh' ich, dass ich wohlgetan!
Aufs neu hab ich das Haupt bekränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.

 

Ich fahre auf dem klaren Strome,
Er rinnt mir kühlend durch die Hand,
Ich schau' hinauf zum blauen Dome
Und such – kein bessres Vaterland.

 

Nun erst versteh' ich, die da blühet,
O Lilie, deinen stillen Gruß:
Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet,
Dass ich wie du vergehen muss!

 

Seid mir gegrüßt, ihr holden Rosen,
In eures Dasein flücht’gem Glück!
Ich wende mich vom Schrankenlosen
Zu eurer Anmut froh zurück!

 

Zu glüh'n, zu blüh'n und ganz zu leben,
Das lehret euer Duft und Schein,
Und willig dann sich hinzugeben
Dem ewigen Nimmerwiedersein!

In einer anderen Quelle gab Joachim Kahl seiner "philosophischen Meditation" über das oben zitierte Gedicht die Überschrift "Freude am Leben – Einverständnis mit dem Tod". Treffender ließe sich die Grundaussage dieses Gedichts bzw. des in Gedichtform gefassten persönlichen Bekenntnisses Kellers nicht beschreiben.

Anmerkungen
Die oben zitierten Textstellen stammen aus folgenden Quellen:
- http://www.kahl-marburg.privat.t-online.de/keller.pdf

- http://www.ibka.org/artikel/ag98/atheismus.html 
- http://www.ludwig-feuerbach.de/kahl_keller.htm

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14. März 2013
»Habemus Papam«  Sensationelles aus den Vatikan-Laboratorien

Gestern ging der Bericht von einer sensationellen wissenschaftlichen Leistung um die Welt: Einer Expertengruppe von 115 hochspezialisierten Saurierforschern des Vatikans ist es gelungen – nach 8 Jahren erstmals wieder – Sauriernachwuchs zu reproduzieren. Wie allgemein bekannt, besitzt der Vatikan eine der größten Sammlungen von Sauriereiern und den umfangreichsten Genpool seltener Saurier-DNA. Die Expertengruppe hatte sich von Fehlschlägen nicht entmutigen lassen. Durch die Auswahl vielversprechender Ausgangsmaterialien von den berühmten Saurierfundstätten Argentiniens, sowie durch eine Verschärfung der strengen Quarantänebedingungen in den hochmodernen Vatikan-Laboratorien gelang schließlich das schier Unglaubliche.

Nachdem durchgesickert war, dass sich der langersehnte Erfolg am 13. März 2013 einstellen könnte, hatten sich Hunderttausende von Saurierfreunden aus aller Welt auf dem ausgedehnten Platz vor dem vatikanischen Zentrallabor versammelt. Sie warteten auf ein Zeichen. Die Saurier-Experten pflegen nämlich, anlässlich besonderer Ereignisse, eine charmante altmodische Marotte, eine Übung aus der Frühzeit ihrer Wissenschaft: Sie geben die Ergebnisse ihrer Experimente durch Rauchzeichen über ein altertümliches Ofenrohr auf dem Dach ihres Allerheiligsten bekannt. Weißer Rauch signalisierte den gespannt Wartenden den bahnbrechenden Erfolg.

Nach Aufhebung der Quarantäne trat der Protodekan der am Erfolg beteiligten Wissenschaftler vor die Öffentlichkeit und präsentierte den begeisterten Saurier-Enthusiasten das niedliche Neugeborene. Eine erste Untersuchung hatte ergeben, dass es sich, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, um einen kleineren Verwandten des pflanzenfressenden Apatosaurus handelte. Da nicht vorhergesagt werden konnte, zu welcher Saurierart das Neugeborene gehören würde, waren natürlich alle sehr erleichtert. Es hätte ja durchaus ein weniger possierliches Geschöpf das Licht der Welt erblicken können …

Noch sind sich die Experten nicht völlig sicher, ob die Aufzucht des kleinen Franz – diesen Namen trägt er seit dem Schlüpfen – gelingen wird. Dennoch wird in allen Teilen der weltumspannenden Organisation der Saurier-Fanclubs erst einmal ausgelassen gefeiert.

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17. Februar 2013
Papstrücktritt: Kanzlerin Angela Merkel tief betroffen

Am vergangenen Montag gab Joseph Aloisius Ratzinger (*1927) seinen Rücktritt zum 28. Februar 2013 bekannt. In den Fernseh-Nachrichten äußerten sich verschiedene Prominente dazu. Auch Angela Merkel (*1954) trat vor die Kameras: Tief betroffen verlas sie ihre Stellungnahme. Ich traute meinen Ohren nicht! Da nur ein kleiner Ausschnitt gesendet worden war, las ich ihren vollständigen Text später im Internet nach. Da fand ich dann den Satz, bei dem ich glaubte, mich verhört zu haben:


"Benedikt XVI. ist und bleibt einer der bedeutendsten religiösen Denker unserer Zeit. Seine Bücher werden noch lange Menschen in ihren Bann ziehen." 


Aber ich las auch Sätze, wie diese, mit denen sich unsere Kanzlerin nun endgültig als Ratzinger-Fan outete: 

"Unvergessen bleibt mir die Ansprache, die der Papst im September 2011 vor dem Deutschen Bundestag hielt. […] Es war eine Sternstunde unseres Parlaments, und die Worte des Papstes werden mich persönlich noch lange begleiten."


Ich fragte mich, wer oder was die Kanzlerin, Tochter eines protestantischen Theologen, zu diesen tiefen Einsichten verholfen hatte. Mehrere Möglichkeiten erschienen mir vorstellbar:


Vielleicht …
hatte Angela Merkel den Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) gelesen, jenes grandiose Werk, das alle unüberbietbaren Wahr- und Weisheiten der hochheiligen »Una Sancta« enthält. Es ist seit 1992 in einer überarbeiteten Neuauflage auf dem religiösen Markt. Seinerzeit war Joseph Aloisius Ratzinger, als Chef der römischen "Glaubenskongregation" – Nachfolgerin der blutbesudelten vatikanischen Inquisitionsbehörde – für den Inhalt verantwortlich. Vielleicht hatte die Kanzlerin dabei, von den (Jesus-)Büchern Ratzingers "in ihren Bann" gezogen, u. a. jene archaischen Glaubensfantasien über "Christus, den Richter der Lebenden und der Toten" verinnerlicht, wie sie – unnachahmlich und letztgültig – in folgenden Artikeln zum Ausdruck kommen:

1051 In seiner unsterblichen Seele erhält jeder Mensch gleich nach dem Tod durch Christus, den Richter der Lebenden und der Toten, in einem besonderen Gericht seine ewige Vergeltung.
[]
1056 Dem Beispiel Christi folgend macht die Kirche die Gläubigen auf die „traurige, beklagenswerte Wirklichkeit des ewigen Todes“ (DCG 69) aufmerksam, die man auch „Hölle“ nennt.

[]
1059 „Die hochheilige Römische Kirche glaubt fest und behauptet fest, dass 
am Tage des Gerichtes alle Menschen mit ihren Leibern vor dem Richterstuhl Christi erscheinen werden, um über ihre Taten Rechenschaft abzulegen“ (DS 859) [Vgl. DS 1549].

Es könnte also sein, dass u. a. diese extraordinären KKK-Artikel für die Kanzlerin nicht nur unwiderlegbare Beweise "für seine tiefe Bildung"  die sie ihm in ihrer Stellungnahme ja auch bescheinigte  waren, sondern sie davon überzeugten, dass Joseph Aloisius Ratzinger "einer der bedeutendsten religiösen Denker unserer Zeit" ist und bleibt. 

Vielleicht …
war es ganz anders: Es könnte ja sein, dass Matthias Matussek
(*1954) Merkels Stellungnahme schrieb. Dann wäre es diesem glühenden Verehrer seines "heiligen Vaters" und unermüdlichen Vatikan-Lobbyisten gelungen, der Kanzlerin, von ihr selbst unbemerkt, eine raffinierte Schleichwerbung für den Römer unterzuschieben für Matussek, Dauergast in diversen Talk-Shows, sicher eine der leichteren Übungen.

Vielleicht … 
wurde Angela Merkel schlicht von "Autoritätsdusel" (Albert Einstein / s. hier, rechte Spalte oben) heimgesucht und überwältigt.

Vielleicht …
hat sie aber auch nur die falschen Bücher gelesen. Hätte sie einen kurzen Blick in das Buch Glaube ohne Denkverbote des katholischen Theologen Gotthold Hasenhüttl (*1933) geworfen, dann wäre ihr vielleicht ein Licht aufgegangen. Dabei hätte sie gar nicht sehr weit blättern müssen, denn schon in der Einführung zitiert Hasenhüttl einen denkwürdigen Satz des "Stellvertreters Gottes auf Erden":

»Die Wahrheit ist die Grenze des Mitgefühls.«

Und sie hätte dann auch den Kommentar Hasenhüttls lesen können, der die Haltung Ratzingers als zutiefst menschenverachtend entlarvt:

"Der Mensch wird der vermeintlichen »göttlichen Wahrheit« geopfert."

Spätestens hier hätte die Kanzlerin merken können, dass Joseph Aloisius Ratzinger nicht nur ein Großmeister theologischer Fabulier- und Deutungskunst ist, sondern alle Symptome dogmatischer Verblendung im Endstadium zeigt.

Mit dieser Diagnose im Hinterkopf hätte sie sich vielleicht ganz nüchtern Ratzingers Fehlleistungen im Amt vergegenwärtigt, und ihre Stellungnahme wäre vielleicht, , vielleicht ganz anders ausgefallen:

'Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, 


heute ist ein guter Tag!


Joseph Aloisius Ratzinger, der nichts für die Gleichstellung der Frauen in seiner Kirche tat, der viel zu wenig unternahm, um den weltweiten, von sozial und moralisch verwahrlosten Priestern verursachten, Missbrauchsskandal aufzuklären und der Kardinäle und Bischöfe, die die Missbräuche zu vertuschen versuchten, wenn überhaupt, nur zögerlich  zur Rechenschaft zog und der, was noch viel schwerer wiegt, für das Leid der Missbrauchsopfer kein großes Interesse zeigte, der seinen "Gläubigen" in AIDS-verseuchten Gebieten der Erde die Verwendung von Kondomen verbot, der die Homosexualität verteufelte, der nicht im Entferntesten daran dachte, in seiner Kirche demokratische Strukturen einzuführen – um nur einige seiner Fehlleistungen zu nennen –, hat heute seinen baldigen Abschied vom Papstamt angekündigt.

 

Das ist seit langem die beste Nachricht aus dem Vatikan!


Ich gehe noch weiter: Das ist das Beste, was Joseph Aloisius Ratzinger jemals gesagt oder getan hat!!

 

Im Namen des deutschen Volkes danke ich ihm von ganzem Herzen!!!'


Nachtrag
Wie mehrere Agenturen übereinstimmend meldeten, sprachen sich prominente Persönlichkeiten dafür aus, Ratzinger (*1927) den Literaturnobelpreis zu verleihen. Demnach bekäme er die Auszeichnung für sein Lebenswerk als "bedeutendster Fantasy-Autor unserer Zeit". Wie darüber hinaus verlautete, werden der bisher als Topfavoritin gehandelten Harry Potter-Schöpferin Joanne K. Rowling (*1965) nunmehr nur noch geringe Chancen eingeräumt.

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09. Dezember 2012
Glaubensmeinung eines frommen Politikers (Wolfgang Thierse)

DIE ZEIT veröffentlichte am 29. November 2012 in ihrer Rubrik GLAUBEN & ZWEIFELN ein Interview mit dem katholischen SPD-Politiker Wolfgang Thierse (*1943). Der Text trug die Überschrift Ohne Glauben ist kein Staat zu machenWarum wir auf Religion nicht verzichten können. Ein Streitgespräch mit dem Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse.

Das, was Thierse, gänzlich ungebremst, über Religion und Glauben von sich gegeben hatte, löste nicht nur Verwunderung bei mir aus, sondern weckte meinen heftigen Widerspruch: Ich sah mich nicht in der Lage einfach und kommentarlos zur Tagesordnung überzugehen, ohne Stellung zu beziehen. Einem Mann, der in unserem Gemeinwesen ja nicht ohne Einfluss ist, und der sich selbst, wie mir scheint, gern als Intellektueller gibt, kann man m. E. den krass zu Tage tretenden Mangel an intellektueller Redlichkeit und seine unglaubliche Chuzpe nicht einfach durchgehen lassen.

Im Zusammenhang mit der Frage nach dem "weltweit erstarkenden religiösen Fundamentalismus" macht Thierse deutlich, dass er "empört" sei, "wenn Religion von Islamisten missbraucht wird zur Begründung von Gewalt". Nach dem Zugeständnis, dass es, außer "im Islam", auch "bei den Evangelikalen" Fundamentalismus gebe – die katholische Kirche, die größte "fundamentalistisch orientierte Institution" (Gotthold Hasenhüttl), verschweigt er geflissentlich –, verweist er "auf eine Art atheistischen Fundamentalismus" und stellt dazu unvermittelt fest: "Der gegenwärtige Streit über die Beschneidung bringt jedenfalls eine beträchtliche antireligiöse Militanz an den Tag."

Auf den zaghaften Einspruch der ZEIT-RedakteurInnen "Militant sind die Beschneidungsgegner eigentlich nicht. Manche sind vielleicht ignorant" entgegnete Thierse:

"Es mehren sich aber die Stimmen derer, die aus dem weltanschaulich neutralen Staat einen parteiischen Staat der Religionslosen und der Laizisten machen wollen. Das halte ich für falsch. Da bin ich überempfindlich, denn das habe ich alles schon erlebt. In der DDR gab es keinen Religionsunterricht in den Schulen, keine Militärseelsorge, keine öffentlichen Bekenntnisse. Und siehe da, das Ding ging unter. Tatsache ist, Religionslosigkeit kann gefährlich sein. Denken sie nur an die schlimmsten religionslosen Verbrecher des 20. Jahrhunderts: Stalin, Hitler, Mao Zedong, Pol Pot."

Ich rieb mir verwundert die Augen, als ich las, wie Thierse den Untergang der DDR begründet: "keinen Religionsunterricht in den Schulen, keine Militärseelsorge etc." kurz: Die DDR-Diktatur wurde Opfer ihrer Religionslosigkeit!

Jedes Kind weiß heute, dass die DDR-Diktatur untergegangen ist, weil sich die politische Großwetterlage jenseits des "Eisernen Vorhangs" dramatisch verändert hatte und weil sie, eingebunden in das nihilistische Sowjetsystem, nach dem Motto agierte: Die Ideologie ist alles, der Mensch ist nichts! Ein veraltetes und unproduktives, kurz vor dem Zusammenbruch stehendes, Wirtschaftssystem tat sein Übriges. Das waren 1989 jene Rahmenbedingungen für den letzten entscheidenden Beitrag zum Untergang der DDR: Die friedliche Revolution mutiger Bürger, die vermutlich in ihrer Mehrheit religionslos, in ihrer Gesamtheit aber ethischen und demokratischen Werten verpflichtet waren.

Im Zusammenhang mit dem Untergang der DDR betont Thierse, "Tatsache ist, Religionslosigkeit kann gefährlich sein" und verweist auf die "schlimmsten religionslosen Verbrechen des 20. Jahrhunderts". Eine derart einseitige Auffassung von Religionslosigkeit und eine derart dreiste Geschichtsklitterung waren mir bis dahin nicht untergekommen.

Die totalitären Systeme Stalins, Hitlers, Mao Zedongs und Pol Pots basierten auf dogmatisch strukturierten Ideologien, die durchaus Ähnlichkeiten mit Religionen aufwiesen, z. B. mit dem organisierten Christentum. Sowohl die verbrecherischen Systeme des 20. Jahrhunderts als auch das Christentum haben ihren Ideologien eine jede menschliche Vorstellungskraft übersteigende Zahl von Menschenleben geopfert. Das Christentum (früherer Jahrhunderte) hat für eine vergleichbare Größenordnung von Opfern lediglich mehr Zeit gebraucht als die diktatorischen Regime des 20. Jahrhunderts mit ihren modernen Tötungswerkzeugen.

Um es ganz klar zu sagen: Diese verbrecherischen Systeme waren religionslos, vor allem aber missachteten sie elementare Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte oder anders ausgedrückt: Sie praktizierten puren Nihilismus. Und diese Geisteshaltung tritt alle anerkannten ethischen und demokratischen Werte mit Füßen!

Die Geschichte hat gezeigt, insbesondere im 20. Jahrhundert, dass menschenverachtende Systeme der o. g. Art nicht dauerhaft bestehen können.

Anmerkung
Ich vermute, dass es dem heutigen chinesischen System eines Tages nicht anders ergehen wird. Durch seine kompromisslose Hinwendung zum kapitalistischen Wirtschaftsmodell wird es aber möglicherweise länger bestehen als die oben erwähnten Systeme, da die engen Wirtschaftsverflechtungen mit der restlichen Welt zweifelsohne zu seiner (vorläufigen) Stabilisierung beitragen.

Thierse ist offenbar davon überzeugt, dass Religionslosigkeit gleichzusetzen sei mit totaler Abwesenheit von Werten. Und diese gedachte Kombination setzt er, zumindest implizit, gleich mit dem Atheismus bzw. einem "atheistischen Fundamentalismus".

Demgegenüber gilt ebenso klar: Religionslosigkeit ist nicht gleichzusetzen mit der Missachtung von Werten. Von den (Früh-)Aufklärern Jean Meslier (1664-1729) und Thiry Baron d'Holbach (1723-1789) über Ludwig Feuerbach (1804-1872) bis hin zu Zeitgenossen wie z. B. Herbert Schnädelbach (*1936) und André Comte-Sponville (*1952) ist der Atheismus eine Geisteshaltung, die Religionslosigkeit mit einem klaren Bekenntnis zu Werten verbindet. Die zwei Hauptbestandteile dieses Atheismus sind Rationalismus und Humanismus. Nur Ignoranten setzen ihn mit Nihilismus gleich!

Den von Thierse gehegten, mit Hilfe der ZEIT verbreiteten, Vorurteilen halte ich ein Wort des französischen Frühaufklärers Pierre Bayle (1647-1706) entgegen:

"Wenn ein Atheist tugendhaft lebt, ist das nicht seltsamer, als wenn ein Christ sich zu allerhand Verbrechen hinreißen lässt."

Anmerkung
Ich fand das Bayle-Zitat bei André Comte-Sponville (*1952).

Nach einem weiteren, vorsichtig kritischen, Einwurf der RedakteurInnen, "dass auch Religion ins Totalitäre ausarten kann, dass Religion zuweilen politische Ansprüche stellt, die der demokratische Staat zurückweisen muss", bemüht Thierse, ohne konkret auf den Einwurf zu reagieren, nochmals den "weltanschaulich neutralen Staat":

"Das ist ja das Großartige unseres Grundgesetzes, wir leben in einem weltanschaulich neutralen Staat. Aber das heißt nicht, dass dieser Staat Partei ergreifen darf für Areligiosität, Laizismus, Atheismus. Nein! Er lädt alle Bürger ein, aus ihren unterschiedlichen persönlichen Überzeugungen heraus am Gemeinwohl mitzuwirken."

Auch hier zeigt Thierses Sicht deutliche Symptome angelegter Scheuklappen. Tatsache ist, dass sich die Protagonisten dieses Staates zwar gegenüber "Areligiosität, Laizismus, Atheismus" neutral oder tendenziell eher feindlich verhalten, aber, kaum verschleiert, "Partei ergreifen" für das organisierte Christentum, insbesondere für die katholische und die evangelischen Kirchen. Die vielen, staatskirchenrechtlich geschützten Privilegien, z. B. die den Kirchen zugestandene Einschränkung von Arbeitnehmerrechten in ihren Einrichtungen, die unglaublich üppige finanzielle Ausstattung der Kirchen durch Steuermittel, über die Kirchensteuer hinaus, die Möglichkeit zur Einflussnahme in den Rundfunkräten etc. bestätigen dies eindrücklich.

Diese Situation wird selbst von Theologen kritisiert. Der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf (*1948) äußerte sich in einem Beitrag in der FAZ, vom 19. Mai 2009, unmissverständlich:

"Im System der hinkenden Trennung von Staat und Kirchen wird diesen viel Macht eingeräumt. Nicht wenige deutsche Kirchenführer machen davon gern Gebrauch."

Und seine daraus abgeleitete Forderung an den "weltanschaulich neutralen Staat" ist ebenso unmissverständlich:

"Die offene Gesellschaft muss um der gleichen Freiheit aller willen Kirchenmacht wie die Macht anderer Verbände demokratisch begrenzen, etwa durch Erzeugung von Öffentlichkeit."

Ich gehe noch weiter und plädiere für eine Abschaffung sämtlicher Kirchen-Privilegien.

Thierse hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel Religion ist keine Privatsache. Daher lag folgende Frage der ZEIT-RedakteurInnen nahe: "Soll man mit Religion Politik machen?" Thierse vermied wieder eine direkte Antwort – auch ein frommer Politiker kennt Tricks –, sondern formulierte die gestellte Frage um: "Ist Religion überhaupt Privatsache?" darauf gab er dann folgende Antwort:

"Ja und zweimal NEIN. Ja, weil der Glaube des Einzelnen seine persönliche Sache ist und nicht vom Staat diktiert werden darf. Nein, weil Religion, zumal christlicher Glaube, nicht bloß das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen ist, sondern auch Einweisung in ein gutes und sinnvolles Leben, in soziale Praxis und damit auch in Politik. Und noch mal Nein, weil die Gesellschaft vom Engagement der Bürger lebt, die aus ihren starken Überzeugungen heraus handeln, die über den eigenen Egoismus hinaus auf das Gemeinwohl zielen. Da sind Religionen geradezu unersetzlich."

Auf die nachfolgende Frage "Also ohne Gott gibt es keine Barmherzigkeit und keine Moral?" antwortete Thierse:

"Die freiheitliche Gesellschaft ist fundamental darauf angewiesen, dass es in ihr verbindende Normen, gemeinsame Maßstäbe und eine Vorstellung von Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Toleranz gibt. Doch diese Gemeinsamkeiten entstehen nicht von allein. Sie werden von Weltanschauungsgemeinschaften wie den Religionen tradiert und lebendig erhalten."

Nachdem Thierse dem sog. "weltanschaulich neutralen Staat" seine besondere Verehrung bezeugt hat, kommt er nun also aus der Deckung: Für ihn ist "christlicher Glaube nicht bloß das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen, sondern auch Einweisung in ein gutes und sinnvolles Leben, in soziale Praxis und damit auch in Politik." Damit noch nicht genug: Er ist davon überzeugt, dass Religionen "verbindende Normen, gemeinsame Maßstäbe und eine Vorstellung von Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Toleranz" tradieren – starker Tobak!

Wenn Menschen für sich entdecken, dass sie mit ihrem (christlichen) Glauben ein sinnvolles Leben führen können, dann bleibt ihnen das unbenommen. Wenn Thierse hier als Politiker seine eigene Glaubensmeinung zum Besten gibt, Religionen seien in diesem Zusammenhang "geradezu unersetzlich", Religionen wiesen den Weg in "ein gutes und sinnvolles Leben" ohne relativierend hinzuzufügen, dass es auch andere Wege zu einem sinnerfüllten Leben gibt – ebenfalls starker Tobak!

Thierse hat von der Geschichte des Christentums offenkundig keinen blassen Schimmer, sonst wüsste er, dass die von interessengesteuerten frommen oder weniger frommen Christen, frommen oder weniger frommen Politikern, frommen oder weniger frommen Medienleuten häufig und gänzlich unkritisch im Munde geführten sog. "christlichen" Werte von ihrem Ursprung her gar nicht christlich sind. Sie stammen vielmehr aus der Tradition der jüdischen Religion und aus der Geisteswelt der griechischen Antike. Was aber noch viel wichtiger ist: Das organisierte Christentum bzw. seine Hierarchen haben die sog. "christlichen" Werte mehr als eineinhalb Jahrtausende mit Füssen getreten. Das hat kaum einer besser zum Ausdruck gebracht, als Der Arzt und Theologe Albert Schweitzer (1875-1965):

"Das Christentum bedarf des Denkens, um zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen. Jahrhunderte lang hatte es das Gebot der Liebe und der Barmherzigkeit als überlieferte Wahrheit in sich getragen, ohne sich auf Grund desselben gegen die Sklaverei, die Hexenverbrennung, die Folter und so viele andere antike und mittelalterliche Unmenschlichkeiten aufzulehnen. Erst als es den Einfluss des Denkens des Aufklärungszeitalters erfuhr, kam es dazu, den Kampf um die Menschlichkeit zu unternehmen. Diese Erinnerung sollte es für immer vor jeglicher Überhebung dem Denken gegenüber bewahren."

Das organisierte Christentum hat also erst im Zeitalter der Aufklärung damit begonnen, den sog. "christlichen" Werten schrittweise mehr Gewicht einzuräumen, sie gewissermaßen zu adoptieren. Bei genauerem Hinsehen lässt sich feststellen, dass der von Thierse u. a. erwähnte Wert der "Toleranz" nicht nur im Islam, sondern auch vom Christentum, selbst heute noch eher als ungeliebtes Stiefkind behandelt wird. Tatsache ist, dass heute vor allem der moderne Rechtsstaat, ethischen (inkl. "christlichen") und demokratischen Werten Geltung verschafft!

Wenn man dem Philosophen Herbert Schnädelbach (*1936) folgt, dann leisten das Christentum bzw. seine Kirchen heute ohnehin keinen spezifisch "christlichen" Beitrag mehr zum gesellschaftlichen Leben:

"In Wahrheit haben die Kirchen nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen. Das Christentum hat unsere Kultur auch positiv geprägt, das ist wahr, wenn auch seine kulturelle Gesamtbilanz insgesamt verheerend ausfällt; seine positiv prägenden Kräfte haben sich erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus."

Anmerkung
Das Zitat stammt aus Schnädelbachs Aufsatz "Der Fluch des Christentums" in der ZEIT vom 11. Mai 2000.

Thierse hat im Laufe des Interviews noch an einigen anderen Stellen seinen persönlichen Standpunkt, den "weltanschaulich neutralen Staat" betreffend, enthüllt und abschließend nochmals bekräftigt:

"Gerade der säkulare Staat muss ein vitales Lebensinteresse daran haben, dass die religiösen Werte weitergetragen werden, die den natürlichen Egoismus des Einzelnen übersteigen."

Mein persönliches Fazit
Ohne Glauben ist sehr wohl Staat zu machen! Thierse, ein Politiker mit Führungsverantwortung in unserem vorgeblich "weltanschaulich neutralen Staat", beschreibt nicht nur diesen Staat nicht korrekt, sondern ebenso historische und andere Gegebenheiten, offenkundig aufgrund einer religiös-konfessionell verzerrten Sichtweise. Der Titel seines Buches, Religion ist keine Privatsache, verwundert also nicht.

Als konfessionell, zumal katholisch, gebundener Mensch sieht er sich einer absoluten, dogmatisch ein für alle Mal fixierten, (göttlichen) Wahrheit verpflichtet. Die damit einhergehende, vom Betroffenen im allg. nicht als solche wahrgenommene, dogmatische Verblendung führt nicht nur zu einer Immunisierung gegenüber dem Einfluss abweichender Positionen, sondern auch zu einem, vom Betroffenen ebenfalls nicht wahrgenommenen, Verlust an intellektueller Redlichkeit. Und was fast noch schwerer wiegt: Gegenüber der geglaubten "absoluten Wahrheit" verblasst, von den Betroffenen gleichfalls nicht bemerkt, ein hoher, auch als "christlich" geltender Wert: die Wahrhaftigkeit.

Die Art und Weise, wie Thierse seine persönliche Glaubensmeinung vertritt, bestätigt einmal mehr, dass gläubige Christen durchaus ohne ein "intellektuelles Gewissen" (s. Helmut Groos) auskommen.

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28. Mai 2012
Katholische »Laien« im Würgegriff klerikaler Despoten

Meine Tageszeitung von heute berichtet unter der Überschrift "Resignation oder Aufbegehren" über den gestern zu Ende gegangenen Katholikentag. Dieses Treffen katholischer »Laien« fand vom 16. bis 20. Mai in Mannheim statt. Das Motto dieses alle zwei Jahre über die Bühne gehenden Ereignisses lautete »Einen neuen Aufbruch wagen«. Im Untertitel des Zeitungsberichtes findet sich eine Feststellung, die ich als eine mögliche Begründung dieses Mottos verstehe: "Viele Katholiken leiden an ihrer Kirche und ihren Führern". Noch treffender finde ich eine andere Begründung, die man in unterschiedlichen Variationen immer wieder hören und lesen kann: Die kirchliche Lehre hat mit der Lebenswirklichkeit vieler Mitglieder der römischen Konfession nichts mehr zu tun.

Das von den Organisatoren ausgewählte Motto gleicht wohl eher dem sprichwörtlichen 'Pfeifen im Walde', wenn die Einschätzung des Artikelschreibers zutrifft, der die pessimistische Grundhaltung der meisten Teilnehmer schon eingangs so charakterisiert: "Mit einem Aufbruch hatte beim Katholikentag wohl niemand ernsthaft gerechnet." Und durch ein kurz darauf vorweggenommenes Resümee aus dem Munde eines prominenten Besuchers des Katholikentages lässt sich die eingetretene Ernüchterung nachempfinden: "Es blieb bei leeren Aufbruch-Floskeln, wie es Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) stellvertretend für viele auf den Punkt brachte."

Das Unbehagen der (wenigen) reformorientierten und reformwilligen Gläubigen der römischen Konfession wird gespeist von gravierenden "innerkirchlichen Problemen", die nicht zuletzt auch den "gesellschaftlichen Einfluss" der römischen Kirche mindern. Dies wird im Zeitungstext unterstrichen durch einen Hinweis auf die Position eines namhaften Sozialethikers: "Den Sozialethiker und Jesuiten Friedhelm Hengsbach wundert das nicht. Mit ihrem Demokratiedefizit, der fehlenden Gleichstellung von Frauen und dem nur zum Teil aufgearbeiteten Missbrauchsskandal könne sich die katholische Kirche »nur noch sehr zaghaft aus dem Fenster lehnen«".

Vielleicht sind gerade diese Umstände dafür verantwortlich, dass sich die führenden Kleriker der römischen Konfession umso verzweifelter an ihre klerikale Macht klammern und sie ungehemmt gegen alle Reformbestrebungen ihrer 'Schäfchen' einsetzen. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass nur autoritätsgläubige, traditionsgebundene, d. h. linientreue Priester vom Vatikan die Bischofs- und Kardinalswürde erhalten. Die Folge ist, dass es selbst moderat einsichtige Kirchenführer nicht wagen, sich aufzulehnen. Im Zeitungsartikel liest sich das so: "Die konservativen Kirchenführer bunkern sich ein und werfen den Kritikern Gottlosigkeit vor, die moderateren Bischöfe flüchten sich in Hinhaltetaktik: Eucharistie für Wiederverheiratete, Segnung für Homosexuelle Paare, all das werde kommen – aber nicht von heute auf morgen. So etwas brauche seine Zeit. Warum eigentlich? Weil den Bischöfen der Mut fehle, diagnostizierte Lammert. Immer wieder würden sie »ihre Einsichten an der Klosterpforte des Vatikans« abgeben."

Der nächste Katholikentag wird in 2014 in Regensburg stattfinden. Dort residiert Gerhard Ludwig Müller im Bischofspalais, ein klerikaler Despot, der schon häufiger durch undemokratisches und autoritäres Gebaren in seinem Herrschaftsbereich auffiel. Dass er alles tun wird, um Reformbestrebungen abzuwürgen, stellte er schon in Mannheim unmissverständlich klar. Dort "kanzelte er die Reformgruppen als »parasitäre Existenzformen« ab" und kündigte an, "dass er keine »antikatholischen Umtriebe« dulden werde." – Angesichts dieser unverschämt-arroganten, menschenverachtenden Einlassungen Müllers hätte es doch einen lauten Aufschrei oder einen Hagel fauler Eier und Tomaten geben müssen – nichts dergleichen wurde in den Medien dokumentiert …

Ich weiß nicht, ob meine Einschätzung die Situation treffend beschreibt, auf den ersten Blick zumindest hat dieser Katholikentag einmal mehr bestätigt, was Giovanni di Lorenzo in DIE ZEIT vom 05.02.2009 als Hemmnis für einen raschen Wandel im Herrschaftsbereich der römischen Konfession so beschrieb: »..., weil selbst kritische Katholiken in aller Regel Meister der Frustrationstoleranz sind.«

Ein weiteres Hemmnis für rasche Reformen in der römischen Kirche liegt sicher darin begründet, dass die "sogenannten Laien", ganz besonders die unzähligen Frauen unter ihnen, ihre Macht sträflich unterschätzen. Sie gehen grundsätzlich davon aus, sie dienten einer 'guten Sache', wenn sie daran mitwirkten, die 'Frohe Botschaft' zu verbreiten oder 'Kirche bei den Menschen' zu praktizieren, und der Gedanke an ein kollektives Aufbegehren wäre für sie wohl so etwas wie ein 'sündhafter' Verrat an jener 'guten Sache'. Tatsächlich dient ihr aufrichtiges, aber ganz und gar unkritisches, Engagement der Aufrechterhaltung der Macht einer vergleichsweise kleinen Clique klerikaler Despoten. Letztere wiederum verlassen sich wohl darauf, dass die meisten ihrer 'Schäfchen' schon in ihrer Kindheit, durch lange erprobte Rituale, so nachhaltig mit dem religiösen Virus infiziert wurden, dass sie weitestgehend resistent sind gegenüber reformerischen oder gar ketzerischen Denkansätzen.

Aber vielleicht kommt dennoch etwas in Bewegung. Der Verfasser des Zeitungsartikels wirft gegen Schluss einen kurzen Blick in die mögliche Zukunft der Reformbewegung: "Nicht nur für Lammert muss der Aufbruch von unten kommen. Aber was passiert, wenn dazu die Kraft nicht reicht? Dann ziehen sich die Engagierten zurück, oder sie erklimmen die nächste Eskalationsstufe wie ein Teil der Priester in Österreich und Irland, die zum Ungehorsam aufrufen."

Sehr bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Vatikan parallel zum Katholikentag ein Kontrastprogramm inszenierte: Die römischen Großkleriker berieten hinter verschlossenen Türen über die angestrebte Rückführung der Piusbrüder in die römische Glaubensgemeinschaft. Die Einverleibung einer erzkonservativen Bruderschaft, die geradezu mittelalterliche Glaubensvorstellungen vertritt, ist Joseph Aloisius Ratzinger und seinen Vasallen allemal wichtiger als die kleinste Reform (s. auch hier).

Anmerkung
Ich habe den Begriff »Laie« immer schon als etwas empfunden, was im organisierten Christentum der Bildung einer Zweiklassengesellschaft diente und noch dient: als völlig unangemessene Höherbewertung der Theologen durch Abwertung aller Nichttheologen. Meine Tageszeitung spricht immerhin von den "sogenannten Laien".
Befinden sich die eigentlichen »Laien«, vor allem im römischen Milieu, nicht eher an den Altären, auf den Kanzeln oder in den Bischofsresidenzen? Notwendiges Wissen und reiche Lebenserfahrung, wichtige Voraussetzungen für Realitätsnähe und Verständnis für die Lebenswirklichkeit der »Laien«, können die autoritätshörigen Kleriker mit ihrem von Zölibat und archaischen Dogmen eingeengten Denk- und Erfahrungshorizont doch kaum erwerben.

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27. Februar 2012
Die "Fesseln des Religiösen"

DIE ZEIT vom 09. Februar 2012 brachte auf ihrer ersten Seite einen Beitrag mit der Überschrift Scharia? Hier nicht. Er stammte vom Politik-Redakteur Heinrich Wefing. Es ging im Wesentlichen um die Aufregung, die der rheinland-pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) durch Äußerungen "gegenüber einem Berliner Boulevardblatt" ausgelöst hatte: Er hatte laut über die Möglichkeit nachgedacht, "islamische Schiedsgerichte als Schlichter in bestimmten Fällen" einzusetzen, "ausdrücklich nicht in Strafsachen, aber bei Erbstreitigkeiten oder Ehescheidungen." Vorausgesetzt wird, dass die Bundesrepublik Deutschland das entsprechende Recht des Herkunftslandes anerkannt hat.

Abgesehen davon, dass es zu diesem Thema m. E. kein Denkverbot geben darf, erregte etwas ganz anderes mein Interesse an dem ZEIT-Beitrag. Es waren diese unmittelbar einleuchtenden Sätze:

"Recht und Religion gehen nicht bruchlos zusammen. Historisch musste das Recht erst die Fesseln des Religiösen abstreifen, ehe es wirklich liberal und universell werden konnte. Es gehört aber paradoxerweise zu den großen Errungenschaften dieser Liberalität, dass das Recht im Westen heute die Religionsfreiheit schützt, so wie alle anderen Grundrechte auch."

Anmerkung
Hervorhebung im Zitat stammt vom Autor der Site.

Es war noch nicht sehr lange her, dass ich mich intensiver mit »christlicher Ethik«, »christlichen Werten« etc. befasst hatte (s. hier), daher mussten mir die zitierten Sätze ins Auge springen. Welch ein Kontrast wird sichtbar, vergleicht man diese Sätze z. B. mit den Aussagen der theologischen Vordenker der EKD über die Zehn Gebote: "Darüber hinaus sind sie sowohl das Urmaterial der Gesetzgebung in allen westlichen Zivilisationen als auch die unbestrittene Grundlage unserer Kultur" (mehr s. hier).

Und noch eines: "Liberalität" und Religion gehen nicht nur "nicht bruchlos zusammen", sie gehen überhaupt nicht zusammen.

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