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       A r c h i v
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Ich glaube, dass der Mensch seine Illusionen aufgeben muss, die ihn versklaven und lähmen; dass er sich der Wirklichkeit in sich und außerhalb seiner selbst bewusst werden muss, um eine Welt aufzubauen, die der Illusionen nicht mehr bedarf. Freiheit und Unabhängigkeit kann man nur erlangen, wenn man die Ketten der Illusion sprengt. (
S. 166)

Der deutsch-amerik. Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe
Erich Fromm (1900-1980)
(Jenseits der Illusionen)


Zwischen der Meinung, dass der Mensch ohne das Eingreifen von Erlösern, Propheten und Priestern verloren sei und der Überzeugung, dass sein Schicksal allein in seiner Hand liege, gibt es keinen Kompromiss, sondern nur die heillose Widersprüchlichkeit einer Lebenshaltung, die A sagt, B meint und C tut. (S. 161)

Die Christen wissen sehr genau, dass ein menschenwürdiger Lebenswandel weder dieses noch jenes religiöse Bekenntnis voraussetzt. Sie sollten es daher verschmähen, die Verwirrung des modernen Menschen zu steigern, indem sie den Niedergang ihrer Religion mit dem Niedergang der Humanität gleichsetzen. (S. 163)

Der Philosoph und Schriftsteller
Gerhard Szczesny (1918-2002)

(Die Zukunft des Unglaubens)



 
 
 

Aktuelles, Nachgetragenes, Satirisches

    2015  ...


Datum der letzten Bearbeitung dieser Website:

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28. November 2019
Missbrauchs-Katastrophe in der Una Sancta: kein Ende abzusehen

Eine Nachricht auf der ersten Seite meiner Tageszeitung (GROSS-GERAUER ECHO) vom 21. November 2019 trug die Überschrift "Altbischof entschuldigt sich – sexueller Missbrauch im Bistum Limburg vertuscht". Der einleitende Satz des Artikels lautete: "Zwei Männer, die lange Jahre die Geschicke des Bistums Limburg maßgeblich bestimmt hatten, haben sich jetzt dafür entschuldigt, im Umgang mit sexuellem Missbrauch schwerwiegende Fehler gemacht zu haben." Es handelt sich um den ehemaligen Bischof Walter Kamphaus, der dieses Amt in Limburg von 1982 bis 2007 innehatte und um Prälat Helmut Wanka, einen langjährigen Personaldezernenten des Bistums. 

Altbischof Kamphaus hatte Mitte der 1980er Jahre einem Priester, der "wegen eines Missbrauchsvorwurfs eine Geldbuße gezahlt hatte", eine Pfarrei im Westerwald anvertraut. Nach erneuten Missbrauchs-Gerüchten versetzte er ihn "in die Klinikseelsorge nach Frankfurt." Später war der einschlägig vorbelastete Priester "im Erzbistum Bamberg eingesetzt und dort erneut wegen Missbrauchs verurteilt worden." Kamphaus äußerte dazu immerhin, "ohne seinen Fehler wäre Opfern Missbrauch erspart geblieben." Mit der Benennung als "Fehler" relativiert Kamphaus sein unverzeihliches Versagen allerdings in ganz unangemessener Weise. 

Fast noch erschütternder finde ich das Eingeständnis des Prälaten Wanka, "in einem anderen Fall, der ihm 1997 bekannt geworden war, keine »kompetente und fachlich fundierte Einschätzung zum Thema sexueller Missbrauch und sexueller Gewalt« gehabt zu haben." Hier zeigen sich m. E. exemplarisch nicht nur mangelndes Verantwortungsbewusstsein, sondern insbesondere die ausgeprägte Weltfremdheit führender Köpfe der Una Sancta in einem erschreckenden Ausmaß. 

Was mich besonders erschüttert und auch wütend macht: Erst jetzt, Jahrzehnte(!) nach ihrem unverzeihlichen Fehlverhalten, sahen sich diese geweihten Mitwisser und Vertuscher schließlich doch noch genötigt, sich für "schwerwiegende Fehler" zu entschuldigen. Am Ende des Zeitungsartikels wird deutlich, was wohl den letzten Anstoß dazu gab: "Das Opfer", aus dem von Wanka erwähnten Fall, "hatte erst vor wenigen Monaten öffentlich gemacht, was ihm widerfahren war." 

Was kann man denn anderes von den hauptamtlichen Mitwissern und Vertuschern erwarten, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, was der ehemalige "Stellvertreter" Joseph Aloisius Ratzinger alias Benedikt XVI. Vorbildliches von sich gab. Seine Äußerungen, im Zusammenhang mit den diversen Missbrauchsfällen, ließen nicht erkennen, dass ihn das Schicksal der vielen tausend Opfer weltweit berührte. Er konzentrierte sich vielmehr auf die Frage nach den Schuldigen. Dabei suchte er sie nicht etwa im Inneren seiner Una Sancta, sondern irgendwo da draußen … In 2011 identifizierte er zunächst den Teufel als den Hauptschuldigen, der ihm und seinen Priestern "Schmutz ins Gesicht geworfen" habe (mehr s. hier).

Im April 2019 hatte der Ex-Pontifex dann eine weitere Eingebung: Nun waren es die 1968er! In einem Aufsatz machte er seine kuriosen Überlegungen dazu öffentlich:
 

"Ich versuche zu zeigen, daß in den 60er Jahren ein ungeheuerlicher Vorgang geschehen ist, wie es ihn in dieser Größenordnung in der Geschichte wohl kaum je gegeben hat. Man kann sagen, daß in den 20 Jahren von 1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat." (mehr s. hier)

Damit wurde endgültig klar: Aloisius Ratzinger denkt nicht im Entferntesten daran, in den autoritären Machtstrukturen, im unsinnigen Zölibat sowie in den abstrusen Lehr- und Denk-Gewohnheiten seiner Una Sancta nach den eigentlichen Ursachen bzw. Schuldigen zu suchen. – Und auch sein Nachfolger vermittelt mir nicht den Eindruck, als wollte er den vorhandenen "Augiasstall" nachhaltig "ausmisten" … 

Fast so etwas wie eine Bestätigung meiner Einschätzung fand ich, am 23. November 2019, im Internet: Dort las ich u. a. die Schlagzeile "Wegen Missbrauchsvorwürfen gegen Direktor – UN beendet Zusammenarbeit mit Caritas in Zentralafrika." Der inzwischen abberufene Landesdirektor der Caritas in der Zentralafrikanischen Republik, ein belgischer Priester, war in "2012 wegen des Besitzes von Kinderpornografie und Missbrauchs zweier Schüler von einem Gericht im belgischen Gent verurteilt worden. […] 2013 wurde er dem Bericht zufolge in die Zentralafrikanischen Republik entsandt, wo er in einem Flüchtlingslager mindestens zwei Jungen missbraucht haben soll." (s. z. B. hier und hier) 

Man muss kein Prophet sein, um, mit Blick auf die "unendliche" Geschichte sexuellen Missbrauchs im Herrschaftsbereich der Una Sancta, folgende Vorhersage treffen zu können: Fortsetzung folgt 

Abschließend sei – fairerweise – erwähnt, dass die deutsche Filiale der Una Sancta immerhin einen ersten Versuch gestartet hat, über mögliche Gegenmaßnahmen nachzudenken: Am 17. September 2019 eröffnete sie im rheinland-pfälzischen Lantershofen das Institut für Prävention und Aufarbeitung (IPA) von sexualisierter Gewalt. (mehr s. hier)


Nachtrag (23. Dezember 2019)


Heute stieß ich bei den VATICAN News auf folgende Schlagzeile: »Missbrauch: Franziskus hebt "päpstliches Geheimnis" auf« (s. hier).

Darunter war u. a. Folgendes zu lesen:

"Papst Franziskus hat das sogenannte "päpstliche Geheimnis" im Fall von Missbrauch durch Priester aufgehoben. […] Die Maßnahme führt dazu, dass Aussagen in Kirchenprozessen auch an zivile Behörden gehen. […]

 

Darüber hinaus verfügte Franziskus, dass ab sofort der Besitz und die Verbreitung kinderpornografischen Materials mit Opfern bis zu 18 Jahren zu den schwersten Straftatbeständen zählt. […]

 

Die spezifische kirchliche Geheimhaltungspflicht hatte in Missbrauchsprozessen regelmäßig zu Vertuschungen und Strafvereitelung gegenüber der weltlichen Justiz geführt."

Ich halte dies für einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt zu hoffen, dass der Papst in seiner Una Sancta konsequent auf die Umsetzung der verkündeten Maßnahme dringt und Zuwiderhandlungen ebenso konsequent ahndet …

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21. März 2019
"Gottes missbrauchte Dienerinnen" – Opfer geweihter Vergewaltiger

Am 05. März 2019, um 20:15 Uhr, sah ich beim Kultursender arte den französischen  Dokumentarfilm "Gottes missbrauchte Dienerinnen" von 2017. Der Film ist das Ergebnis einer zweijährigen Recherche-Arbeit. – Meine Empfindungen während der Sendung schwankten zwischen Fassungslosigkeit und Wut. – Vor wenigen Tagen habe ich mir den Film in der arte-Mediathek nochmals angeschaut. Um es vorwegzunehmen: Es handelt sich um die Enthüllung eines "der bestverschleierten Skandale der katholischen Kirche", um eine weitere erschütternde Dokumentation ungesühnter Sexual-Verbrechen im Herrschaftsbereich der unheiligen Una Sancta.

Die Dokumentation zeigt auf, dass Ordensfrauen/Nonnen weltweit – "auf allen Kontinenten" – von "Priestern und Würdenträgern bis in den Vatikan hinauf" regelmäßig sexuell missbraucht wurden und m. E., mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vermutlich auch gerade in diesem Augenblick, weiterhin missbraucht werden.

Offenbar schon seit Ende der neunziger Jahre lagen dem Vatikan umfangreiche, auf seriösen Recherchen basierende, Berichte über den sexuellen Missbrauch von Ordensfrauen vor. Angemessene Reaktionen oder gar geeignete Maßnahmen seitens des Vatikans gab es bis heute nicht!

Durch die Aussagen missbrauchter (ehemaliger) Nonnen erfuhr ich erstmals: Ordensfrauen, die in Folge der priesterlichen Verbrechen schwanger werden, "droht der Verstoß aus ihren Gemeinschaften oder sie werden zur Abtreibung gezwungen". Eine ehemalige Nonne aus Westafrika berichtet, dass in einem westafrikanischen Orden von 50 Ordensfrauen 32 abgetrieben hatten! – Der derzeitige Papst Franziskus hat Abtreibung vor einiger Zeit als "Auftragsmord" scharf verurteilt – eine kaum zu überbietende Heuchelei!

Im Film wird u. a. vom "mafiösen Verhalten des afrikanischen Klerus" gesprochen, der offensichtlich wegschaut und die Tatsache vertuscht, dass Ordens-Oberinnen die ihr anvertrauten Nonnen, ja schon Novizinnen, als "Sexsklavinnen" an Priester verkaufen, sie gewissermaßen regelmäßig "vermarkten" – kirchlich sanktionierte Prostitution! Der wesentliche Grund:  Insbesondere in Aids-verseuchten Gebieten Afrikas missbrauchen Priester bevorzugt Nonnen (die wohl meist nicht infiziert sind), weil sie den Verkehr mit Aids-kranken Prostituierten scheuen.

Was ich besonders bestürzend finde: Alle Opferberichte enthüllen den unbarmherzigen, ja gnadenlosen Umgang der Verantwortlichen in der Kirche mit den traumatisierten Opfern. Sie enthüllen ein kaum zu überbietendes Maß an Gefühlskälte und Unmenschlichkeit in einer Institution, die vorgibt, den Menschen, im Auftrage Gottes, das Heil zu bringen.

Einmal mehr zeigt die Dokumentation auf, dass die in der römisch-katholischen Kirche, strukturell und ideologisch, vorherrschende Unkultur die Ursache der enthüllten Verbrechen ist. Oder anders ausgedrückt: Hierarchisches Denken und Handeln, die Ungleichbehandlung der Geschlechter und die negativen Wirkungen einer infantilen fundamentalistischen, auf 245 abstrusen Dogmen – der Zölibat gehört übrigens nicht dazu – basierenden Glaubenslehre verhindern massiv, sowohl bei den Opfern als auch bei den "geweihten" Triebtätern, die Entwicklung einer selbstbestimmten reifen Persönlichkeit und geistiger Unabhängigkeit.

Einige Zitate aus den Opferberichten und aus Beiträgen anderer Gesprächspartner sowie aus gesprochenen Zusatzinformationen lassen den Grad mentaler Verwirrtheit von Ordensschwestern erahnen, die in ihren Orden permanent einer skurrilen bis grotesken oder kurz: einer perfiden Indoktrination ausgesetzt sind, einer Indoktrination, die allein dem Machterhalt des Kleriker-Clans dient:

Nach dem Vorspann des Films wird u. a. die ehemalige deutsche Nonne Doris Wagner (verh. Reisinger) vorgestellt. Sie wurde als Ordensfrau in Rom sexuell missbraucht. Im Begleit-Kommentar wird von ihr gesagt, dass sie mit 22 Jahren Gott "heiratete" und das "ewige Gelübde" ablegte, mit dem sie sich zu "Gehorsam, Armut, Keuschheit" verpflichtete …

Ordensschwestern werden zu absolutem "Gehorsam gegenüber Gott und seinen irdischen Stellvertretern, den Priestern", erzogen …

Ein geweihter Priester gilt als "heiliger Mann" … (eine bewusst geförderte(?) groteske Überhöhung)

Eine "brave Nonne" wagt es nicht, sich einem Priester zu widersetzen …

Ein "geistlicher Beistand" gab im Gespräch mit einer Nonne vor, ihr durch seine sexuellen Handlungen, als "kleines Werkzeug Jesu die Liebe Jesu spüren" zu lassen und sie damit Gott näher zu bringen …

Ein Priester redete seinen Opfern ein, dass der Sex mit ihm zur "Heilsökonomie" gehöre … (diese Wortwahl ist in ihrer Absurdität und in ihrem Zynismus wohl kaum zu überbieten!)  

Bezeichnend für das unverantwortliche Verhalten der obersten Führung der katholischen Kirche war der vor wenigen Wochen vom Vatikan inszenierte Missbrauchsgipfel, bei dem es, erstmals in diesem Format, um den von Klerikern weltweit verübten sexuellen Missbrauch von Kindern ging. Es kam nach mehrtägigen Sitzungen nichts wirklich Greifbares heraus: weder konkrete Präventionsmaßnahmen noch verbindliche Vorgaben für einen respektvollen Umgang mit den Opfern und deren angemessene Entschädigung. Es war, wie so oft im Vatikan, ein eher belangloses Kostümfest, bei dem die Teilnehmer, in wechselnden farbigen Roben, kaum am Thema interessiert, mehr oder weniger missmutig zusammensaßen und die Zeit totschlugen. 

Ein mögliches Gipfeltreffen zum Thema "Gottes missbrauchte Dienerinnen" würde vermutlich ebenso unproduktiv verlaufen.

Mein Fazit
Vieles, was in den diversen Missbrauchsskandalen innerhalb der Katholischen Kirche ans Tageslicht kam, trägt m. E. Merkmale organisierter Kriminalität. Und diese erfordert einschneidende Bekämpfungsmaßnahmen seitens der Politik und der staatlichen Justizbehörden. Zudem erforderte es, da es sich um eine Weltkirche handelt, weltweit koordinierte staatliche Aktionen. – Letzteres ist allerdings wohl eine eher utopische Vorstellung. 

Es wäre geradezu revolutionär, wenn Politiker aller Parteien in Deutschland aufwachten und endlich darangingen, die diversen Privilegien der Kirche(n) zu streichen und, vor allem, endlich dem staatlichen Recht auch im Herrschaftsbereich der Kirche(n) uneingeschränkte Geltung zu verschaffen. Da die aufgedeckten Skandale Züge organisierter Kriminalität zeigen, hielte ich es für durchaus gerechtfertigt, insbesondere der Katholischen Kirche gegenüber, Methoden anzuwenden, die seit kurzem im Zuge der Bekämpfung der Clan-Kriminalität angewandt werden: z. B. Beschlagnahme von Immobilien aus dem milliardenschweren Immobilienbesitz der katholischen Kirche, um mit den Erlösen einen Fonds zu schaffen, der eine angemessene Entschädigung der traumatisierten Opfer ermöglichte.

Anmerkung
Das Video der arte-Sendung ist unter dieser Adresse abrufbar:
https://www.arte.tv/de/videos/078749-000-A/gottes-missbrauchte-dienerinnen/
(leider nur bis zum 03.05.2019 verfügbar)

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08. August 2018
Religionen  schillernde Blüten im bunten Strauß der Ideologien?

In einem Büchlein mit dem Titel Wenn das Herz denken könnte …, in dem Sätze, Reflexionen, Betrachtungen und Prosastücke des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935) zusammengefasst sind, stieß ich auf folgenden Satz (S. 83):

"Der Katholizismus ist der am besten organisierte Christismus, da er von allen Christismen der heidnischste ist."

Anmerkung
Hervorhebungen im Zitat stammen vom Autor der Site.

Die im Zitat enthaltene kritische Würdigung des Katholizismus ist für meine weitere Betrachtung unerheblich. Mich interessieren hier ausschließlich die Begriffe "Christismus" und "Christismen". Diese habe ich im zitierten Satz Pessoas zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Warum diese ungewöhnliche Formulierung wählte, ist mir nicht bekannt. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass er mit diesen Begriffen deutlich zum Ausdruck bringen wollte, dass er die christliche Religion, in ihren verschiedenen Ausprägungen – und vielleicht auch alle anderen Religionen mit deren Varianten –, dem breiten Spektrum der Ideologien zurechnete.

Christen halten ihre Religion für etwas Einzigartiges, Erhabenes, Heiliges, für etwas, das, wie sie glauben, auserwählten Vorfahren vom "eingeborenen Sohn Gottes" geoffenbart worden sei. Wollte Pessoa diese Religion mit seiner Begriffswahl schlicht auf ihr Normalmaß zurechtstutzen? 

Zweifellos ist der Begriff Ideologie, schaut man in die Geschichte der letzten zweihundert Jahre, in Form diverser "Ismen" arg in Verruf geraten: Marxismus, Kommunismus, Faschismus, Maoismus, Rassismus, Antisemitismus seien hier exemplarisch genannt …


Geht man in der Geschichte etwas weiter zurück, so kann man leicht feststellen, dass auch das Christentum und andere Religionen, ihren Ruf auf geradezu unfassbare Weise ruinierten. Dem Christentum kann man allerdings zugutehalten, dass in ihm, unter dem Einfluss der Aufklärung, eine positive Entwicklung einsetzte. Dazu hat sich m. E. Albert Schweitzer (1875-1965) einschlägig geäußert (s. hier / rechte Spalte).

Ich bin weder Kultur- noch Sprachwissenschaftler, dennoch wage ich den Versuch einer Definition: Religionen sind Ideologien, deren Anhänger, im Rahmen spezifischer Weltanschauungen, spezifische (Glaubens-)Meinungen vertreten. Zentrale Glaubensgrundlagen bilden dabei, mehr oder weniger konkrete, Vorstellungen von überweltlichen Gottheiten oder Mächten, die die Geschicke ihrer "Gläubigen" bestimmen und lenken. 

Bei der landläufigen begrifflichen Abgrenzung zwischen Ideologie und Religion wird häufig eine weitere wichtige Gemeinsamkeit übersehen: Die von Konzilien, Zentralkomitees oder anderen Gremien beschlossenen absoluten "Glaubenswahrheiten" bzw. Dogmen. 

Dieses gemeinsame charakteristische Merkmal von Religion(en) und Ideologie(n) ist in jeder Gesellschaft Ausgangspunkt einer realen Bedrohung für alle Bestrebungen vernunftgeleiteten Handelns. Der amerikanische Philosoph und Schriftsteller Sam Harris (*1967) hat sich dazu in seinem Buch Brief an ein christliches Land ganz unmissverständlich positioniert:


"Das Problem mit der Religion ist dasselbe wie das Problem mit dem Nazismus, Stalinismus oder irgendeiner anderen totalitären Mythologie: Es ist ein Problem des Dogmas per se." (S. 65)

Anmerkung
- Dass der Begriff "Christismus" wohl nicht ganz ungebräuchlich war und ist, zeigte mir eine aktuelle Recherche im Internet. Die Liste der Fundstellen führte mich nicht nur zu Pessoa, sondern auch zu anderen Quellen: u. a. Tübinger Zeitschrift für Theologie aus dem Jahr 1839 und Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Ausgabe Oktober 1841.

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02. April 2018
"Völlig falsche Interpretation der Welt"

Vor kurzem habe ich den in 2017 erschienenen, vom britischen Autor Edward Docx (*1972) verfassten, Roman "Am Ende der Reise" gelesen. Es ist m. E. ein lesenswertes Buch. 

Es geht darin um einen Mann, der "in den letzten Stunden von Churchills Kriegsregierung", also im Juli 1945, geboren wurde, es in seiner beruflich aktiven Zeit bis zum "Dekan der Fakultät für englische Literatur am University College in London" gebracht hatte und sich nun auf seine letzte Reise begeben hat. 

Das bestimmende Thema des Buches ist der Umstand, dass der Mann an ALS im Spätstadium leidet und beschlossen hat, in die Schweiz zu gehen, um dort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. 

Der Verlauf der Reise wird aus der Sicht seines jüngsten Sohnes Louis geschildert. Louis stammt aus der zweiten Ehe des Mannes. Louis' Mutter ist schon vor Jahren gestorben. Edward Docx macht Louis bzw. "Lou" zum Ich-Erzähler. 

Da sich "Dad" von seinem Vorhaben nicht abhalten lässt, jedoch das Fliegen scheut, erklärt sich "Lou" bereit, ihn in dessen uraltem VW-Campingbus nach Zürich zu fahren. Unterwegs durch Frankreich stoßen nacheinander die deutlich älteren Söhne des Mannes aus dessen erster Ehe hinzu. Es sind die Zwillinge Ralph und Jack. 

Während der gemeinsamen Fahrt führen die Reisenden lange intensive Gespräche, wie kaum je zuvor. Unter anderem kommt es zu einer schonungslosen Abrechnung der Zwillinge mit ihrem "Dad", wegen dessen unrühmlichen Verhaltens vor der Trennung von seiner ersten Frau, ihrer Mutter. 

Und sie besuchen darüber hinaus gemeinsam Sehenswürdigkeiten, die "Dad" schon kannte und noch ein letztes Mal sehen wollte (Kathedrale von Troyes) oder die er immer schon einmal besuchen wollte (eine Höhle mit Wandmalereien aus dem Aurignacien).

Ich bin beim Lesen – die Protagonisten befanden sich gerade vor dem Altar der berühmten Kathedrale von Troyes – auf folgenden bemerkenswerten Gedanken gestoßen, den Docx dem Ich-Erzähler eingibt:
 

"Diese Kathedrale steht für die größtmögliche menschliche Anstrengung, Ewigkeit zu vermitteln, etwas Grandioses, Monumentales, etwas, das Ehrfurcht gebietet, und basiert doch gleichzeitig auf einer völlig falschen Interpretation der Welt."  (S. 219/220)

Ich finde, dass hiermit das zentrale Dilemma des Christentums, wie auch aller anderen großen Religionen, sehr eindrucksvoll beschrieben wird.

Anmerkung
Hervorhebung im Zitat stammt vom Autor der Site.

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09. Januar 2018
Gedankensplitter zum "Problem der Gerechtigkeit"

In unregelmäßigen Abständen erhalte ich Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern dieser Website. Vor einigen Wochen schrieb mir ein Leser, dass er etwa gleichen Alters sei wie ich, und dass er den meisten Inhalten auf meiner Site zustimmen könne. Er betonte jedoch, dass er ein wichtiges Thema vermisse. Der Kernsatz seiner Kritik lautete: 

"Ein Problem hat der atheistische Humanismus nie gelöst: Wie verschafft er den verstorbenen Menschen, deren Leben zu kurz oder ein Quälerei war, wieder Gerechtigkeit?" 

Er forderte mich am Ende auf, ihm meine "Meinung zum Problem der Gerechtigkeit für die unschuldig Zukurzgekommenen oder im Namen einer Ideologie zu Tode Gefolterten oder den von heimtückischen Krankheiten dahingerafften Menschen" mitzuteilen. 

Eine der einfachsten und kürzesten möglichen Antworten auf die Frage des Lesers wäre wohl diese gewesen: Niemand kann "verstorbenen Menschen" eine, wie auch immer geartete, "Gerechtigkeit" zuteilwerden lassen. Dies gilt selbstverständlich auch für "atheistische" bzw. säkulare Humanisten, in deren Einflussbereich es, im Bedarfsfall, um (soziale) Gerechtigkeit in der realen Welt geht – um irdische Gerechtigkeit also. Alle darüber hinausgehenden Überlegungen müssen zwangsläufig in vagen Spekulationen und/oder religiösen Fantasien enden … 

Meine Antwort, die ich dem Leser per E-Mail zuschickte, umfasste schließlich  folgende Gedankensplitter:

Wir leben in einem Universum, das schon über 9 Milliarden Jahre alt war, als vor ca. 4,6 Milliarden Jahren unsere Erde entstand. Etwa 1 Milliarde Jahre später entwickelten sich auf ihrer Oberfläche erste einfache Lebensformen. Sie waren das Ergebnis eines Zusammenspiels von unbelebter Materie mit physikalisch-chemischen Vorgängen in der Uratmosphäre und im Urmeer. Im Zuge der Evolution entwickelten sich dann unzählige, immer komplexer strukturierte, Lebewesen. Und erst vor etwa 2 - 3 Millionen Jahren, also einige Milliarden Jahre nach dem Beginn des Lebens, erschien der Urahn des heutigen Menschen. 

Der Mensch ist also ein Lebewesen unter unendlich vielen anderen Lebewesen auf unserem Planeten. Ein großer Teil seines Genoms ist identisch mit dem der anderen. Alle Lebewesen atmen dieselbe Luft und sind u. a. von unberechenbaren Naturgewalten in gleicher Weise bedroht. Die Natur macht in dieser Beziehung keinen Unterschied zwischen den Arten. 

Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der Mensch, als das wohl komplexeste Zwischenergebnis der weiter fortschreitenden biologischen Evolution, aufgrund seiner Gehirnstruktur in der Lage war, neben einem Prozess der soziokulturellen Evolution auch einen Prozess der wissenschaftlich-technischen Evolution in Gang zu setzen. 

Es gibt natürlich auch noch andere Unterschiede: Während z. B. Gazellen und Gnus, nach wie vor, von Löwen oder Geparden gejagt und getötet werden, sterben Menschen eher durch Verkehrsunfälle oder Flugzeugabstürze … 

Alle Lebewesen sind sterblich. Sie sterben eines natürlichen Todes, individuell unterschiedlich, früher oder später an Altersschwäche. Oder sie werden Opfer von Krankheiten, Unfällen, Naturkatastrophen. Oder sie werden unschuldige Opfer von Terrorakten und anderen Tötungsdelikten, Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen oder ethnischer Säuberungen etc. etc. 

Vieles davon betrachten wir zu Recht als ungerecht. War es etwa gerecht, dass z. B. vor ca. 65 Mio. Jahren die Saurier Opfer eines Asteroiden-Einschlags wurden und in der Folge von der Erde verschwanden? – War das Massaker von Srebrenica für die unschuldigen Opfer gerecht? – Ganz spontan: Nein! Was wäre dann aber gerecht? Wäre es vielleicht gerecht(er), wenn alle dasselbe ungerechte Schicksal erlitten …?
 

Wir übersehen leicht, dass Menschen mit ganz unterschiedlichen Anlagen und Begabungen auf die Welt kommen und, in Abhängigkeit von der Weltgegend, in der sie das Licht der Welt erblicken, ganz unterschiedliche Lebensbedingungen vorfinden. Es stimmt m. E. also, was der Philosoph, Theologe und Autor Helmut Groos (1900-1996) einmal so formuliert hat (mehr s. hier):

"Ein ungerechtes Schicksal wird dem Menschen gleichsam schon in die Wiege gelegt, es ist geradezu a priori gegeben."

Ich stimme auch dem slowakischen evangelischen Theologen Karol Nandrásky (1927-2016) zu (s. hier):

 

"Man muss die absurde dogmatische Erklärung abweisen, die in das natürliche Geschehen – als Prinzip der Auslegung der Natur – Gedanken von »Strafe« und »Gerechtigkeit« einträgt. Die Gesetze, die im Naturgeschehen herrschen, »prämieren nicht« und »bestrafen nicht«. Sie sind weder »moralisch« noch »unmoralisch«."

Es ist ganz offensichtlich, dass "Gerechtigkeit" eine Kategorie ist, die in den diversen Abläufen der Natur überhaupt nicht vorkommt. Sie ist vielmehr, im Rahmen menschlichen Zusammenlebens, "als Norm und Praxis des Verhaltens im Verlaufe der natur- und kulturgeschichtlichen Entwicklung ausgebildet worden" (Helmut Groos, mehr s. hier). 

Es gibt natürlich auch eine andere Sicht: Manche glauben, dass es einen gnädigen, gerechten und liebenden Gott gibt, der zwar in seinem Tun oder Lassen ganz unberechenbar bzw. unbegreiflich sei, der aber schließlich doch, zumindest "im Himmel", für (ausgleichende) Gerechtigkeit sorgen würde – m. E. eine menschlichem Wunschdenken entsprungene illusionäre Vorstellung. 

Kann es denn sein, dass der vermeintliche Weltenlenker erst vor ca. 2000 Jahren auf die Idee kam, einen »Erlöser« auf die Erde zu schicken – angeblich seinen eigenen Sohn(!) – mit der Maßgabe einige "Auserwählte" zu retten, nämlich nur diejenigen, die u. a. den im fragwürdigen Johannesevangelium enthaltenen Erlöserworten vertrauten (s. Kap. 5, Vers 24): »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.«? 

Hatte der Schöpfer etwa erst vor 2000 Jahren die Unzulänglichkeiten seiner Schöpfung entdeckt? War er vorher, etwa durch ähnliche oder noch größere Probleme auf unendlich vielen anderen Baustellen im Universum, vom Geschehen auf der Erde abgelenkt worden? Hatte er vielleicht sogar erwogen, bevor er seinen Sohn auf die Reise schickte, die Verhältnisse von Grund auf zu ändern bzw. zu verbessern und sich dann doch anders entschieden? – Fragen über Fragen … … … 

Auf jeden Fall gab der Vater dem Sohn noch eine Botschaft an alle "Zukurzgekommenen" auf der Erde mit: Alle die dort unverschuldet Leid erdulden müssten aber fest an ihn glaubten, sollten sich in Geduld üben, denn im Jenseits würden sie großzügig entschädigt werden und zwar bis in alle Ewigkeit … – All das sagte der vermeintliche »Erlöser« nicht etwa zu allen Menschen auf diesem Planeten, sondern nur zu einem kleinen Volk in Palästina, das eben diesen allmächtigen Schöpfer-Gott wohl aus einem ehemaligen Berggott entwickelt hatte. 

Ich gehe davon aus, dass der wesentliche Sinn des Lebens das Leben selbst ist. Und ich gehe auch davon aus, dass wir nur dieses einzige Leben haben. Daher liegt es allein in unserer Verantwortung, was wir daraus machen. Die Evolution hat uns mit dem ausgestattet, was religiös geprägte Menschen Nächstenliebe nennen, was ich eher als Empathie bezeichne. Diese Eigenschaft besitzen zumindest alle Menschen, bei denen sie nicht durch ungünstige Sozialisationsbedingungen, in ihrer frühen Kindheit und Jugend, verkümmerte oder gar verloren ging. 

Alle, die diese Fähigkeit besitzen, haben ein offenes Auge für (soziale) Ungerechtigkeit, der andere Menschen ausgesetzt sind. Sie besitzen Einsichtsfähigkeit und fühlen sich verantwortlich dafür, Leid zu mindern – nicht nur bezogen auf ihre Nächsten und ihren engeren Umkreis, sondern, wenn möglich, auch jenseits davon – und sich für mehr (soziale) Gerechtigkeit in der Gesellschaft einzusetzen und zwar im Hier und Jetzt!

Meine Antwort hat den Empfänger nicht zufriedengestellt …

Anmerkung
Den Text meiner Antwort habe ich inhaltlich nicht verändert, lediglich redaktionell geringfügig überarbeitet.

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08. Dezember 2017
"Verbrechen, die nicht ungesühnt bleiben dürfen"

Bei einer Internet-Recherche stieß ich, schon vor einiger Zeit, auf ein Buch des Autors Gerhard Birk (*1938) mit dem Titel Verbrechen, die nicht ungesühnt bleiben dürfen. In einer Leseprobe dieses Romans stieß ich dabei, auf Seite 191, auf meinen Namen und auf den Titel meiner Christentums-kritischen Website. Ich freute mich natürlich darüber, war aber sehr überrascht: Ich hatte meine Website Ende August 2013 für das Internet freigeschaltet und das hier angesprochene Buch wurde Anfang Dezember 2013 veröffentlicht …

Schon im Untertitel des Buches wird deutlich, worum es geht: Der Leidensweg eines Missbrauchsopfers. Das darin anklingende Thema markiert die Schnittmenge mit einigen Beiträgen auf meiner Website: Ich hatte mich unter Aktuelles, Nachgetragenes, Satirisches in 2010 (s. hier) u. a. zu den damals aktuellen Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche geäußert. Im Buch wird an einer Stelle beschrieben, wie der Protagonist Fabian, während seines Studiums, zusammen mit einem Kommilitonen im Internet zum Thema "sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche" recherchierte und u. a. auf meiner Website fündig wurde.


Ich habe mir das Buch gekauft und konnte, zuletzt vor wenigen Monaten, im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Missbrauchsskandal bei den "Regensburger Domspatzen", feststellen, dass der beschriebene "Leidensweg eines Missbrauchsopfers" nichts von seiner Aktualität verloren hat. Mit diesem Buch in Romanform gelingt es dem Autor, die Leiden der Hauptfigur Fabian, die in der Kindheit von einem katholischen Priester mehrfach auf üble Weise missbraucht worden war, facettenreicher und eindringlicher zu beschreiben, als dies eine nüchterne Dokumentation je leisten könnte. Man spürt, dass die betrachtete Thematik seriös und intensiv recherchiert worden ist. Es ist m. E. ein sehr lesenswertes Buch, das eine weite Verbreitung verdient.

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07. Dezember 2017
Altrömische Erfindung – von nachhaltigem Nutzen für das organisierte Christentum?

Vor einigen Jahren beschäftigte ich mich eine Zeit lang sehr intensiv mit der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Schriften (s. hier). Danach war ich gründlich desillusioniert. Für mich hatten diese Schriften, aufgrund der äußerst dürftigen Quellenlage einerseits und andererseits aufgrund der unzähligen Änderungen und Ergänzungen kurz: aufgrund unzähliger Fälschungen während nahezu der gesamten Geschichte des Christentums, jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Auf diesem Hintergrund war es für mich unfassbar, dass das organisierte Christentum die Inhalte dieser auf fragwürdige Weise entstandenen und auf noch fragwürdigere Weise überlieferten Texte, nach wie vor und unbeirrt, als "Glaubenswahrheiten" verkündete. 

Mein Interesse an dieser Thematik erlosch damals weitestgehend. Durch zwei aktuelle Bücher des Autors Roland Weber (*1948) wurde es, mehr oder weniger zufällig, neu entfacht. 

Im Buch DENKEN STATT GLAUBEN vertritt der Autor eine These über die Verfasser der neutestamentlichen Schriften, insbesondere der Evangelien, die zu einer ganz neuen Vorstellung von der Entstehung und Verbreitung des Christentums führen könnte. 

Roland Weber (*1948) geht in seiner Argumentation von Überlegungen aus, die der amerikanische Autor Joseph Atwill in seinem Buch Das Messias-Rätsel – die Geheimsache Jesus veröffentlicht hatte: Die Evangelien seien in Rom, in enger Verbindung zum Hof des Kaisers Titus, unter Federführung des zu den Römern übergelaufenen ehemaligen jüdischen Rebellen Flavius Josephus (37/38 – nach 100) entstanden: "als zweckgerichtete Erfindungen zur Befriedung der aufrührerischen Juden" (S. 204). – Der Gedanke an psychologische Kriegsführung der Römer drängt sich auf …

Vom Historiker Flavius Josephus stammen u. a. die Werke Jüdische Altertümer und Der jüdische Krieg. Atwill war auf Ähnlichkeiten zwischen den Inhalten der Evangelien und jenen dieser historischen Werke gestoßen.

Roland Weber setzt die Arbeit Atwills fort, indem er sehr akribisch Spurensuche in den Evangelien und anderen Schriften betreibt, um die Ausgangsidee Atwills noch überzeugender zu begründen. U. a. weist er auf die hervorstechende Rom-Freundlichkeit der Evangelien hin.

Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit des Autors, dass er für seine Thesen keine absolute Sicherheit beansprucht: Schon am Anfang seines Buches führt er unmissverständlich aus, dass er beabsichtige, "aufzudecken, wie das Christentum mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entstanden ist" (S. 19).

In seinem neueren, erst kürzlich erschienenen, Werk Jesus, Römer, Christentum vertieft der Autor jene Überlegungen zur Entstehung des Christentums, die er mit seinem vorausgegangenen Buch vorgestellt hatte. Hier sucht er intensiv nach der Begründung für seine "steile" These. Er zeigt auf, dass wahrscheinlich die drei sog. synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas) und die sog. Apostelgeschichte zu den Schöpfungen dieser römischen "Schreibstube", wie er sie nennt, gehören. Nach seiner Auffassung handelte es sich um antijüdische Propagandaschriften, die den Juden u. a. das Scheitern ihres Messias vor Augen führen sollten.

Er weist auch darauf hin, dass der vom organisierten Christentum hochverehrte Paulus, aller Wahrscheinlichkeit nach, ebenfalls "eine schlichte Erfindung der römischen Schreibstube" ist (S. 185ff). Interessant finde ich, dass er in den Texten des NT, durchaus plausibel, drei ganz unterschiedliche fiktive Gestalten des sog. Paulus identifiziert: einen "Reise-Paulus" (s. Apostelgeschichte), einen "Briefe-Paulus" und einen "Kirchen-Paulus". Dem "Briefe-Paulus" können wahrscheinlich die sieben bisher vermeintlich echten Briefe, die erst um 140 unserer Zeitrechnung auftauchten, dem "Kirchen-Paulus" die danach von der frühen Kirche eingefügten Briefe zugeschrieben werden. Der Autor widerspricht damit ganz entschieden dem unter christlichen Forschern vorherrschenden "Paulus-Paradigma".

Dieses Buch präsentiert das glaubwürdige Ergebnis einer intensiven Forschungsarbeit in Form einer akribischen Textanalyse. Der Autor berücksichtigt dabei die verfügbaren historischen Fakten und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unter römischer Besatzung in der Zeit nach dem Jüdischen Krieg, also nach 70/72 unserer Zeitrechnung.

Es ist eine spannende Lektüre, die streckenweise an den Verlauf eines Indizienprozesses erinnert: U. a. durch den Vergleich der einschlägigen neutestamentlichen Schriften mit den sog. historischen Werken des Flavius Josephus gelingt es dem Autor, aufgrund verblüffender Übereinstimmungen, mit juristischem Spürsinn eine beeindruckende Fülle von Indizien zu sammeln.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Flavius Josephus' Wahrheitsliebe zeigt sich wohl schon in seinen historischen Schriften als nicht besonders ausgeprägt. U. a. sind darin enthaltene diverse Zahlenangaben stark übertrieben. Vergleichbares findet sich auch im NT: z. B. bei der »Speisung der 5000« oder bei den 2000(!) Säuen, die sich in einen See stürzten, nachdem Jesus aus einem »besessenen Gerasener« (Markus 5) Dämonen ausgetrieben hatte und ihnen, auf ihre Bitten hin(!), erlaubte in die »Säue (zu) fahren«. – Ein früher Kritiker des Christentums, der griechische Philosoph Porphyrios (233-301/305), beschrieb diese Bibelstelle so: »O Fabel, o Geschwätz, o wahrhaft groteske Lächerlichkeit!« (nachzulesen in der vom Theologen Adolf von Harnack (1851-1930) übersetzten Schrift Gegen die Christen).

Durch plausible Schlussfolgerungen aus den gesammelten Indizien kommt der Autor dann zu einer wohlbegründeten Urteilsfindung: Die wesentlichen Grundlagen christlicher Glaubenslehre sind höchst wahrscheinlich pure Erfindung!

Er gibt dabei nicht vor, nunmehr alle Rätsel der zweifelhaften Entstehung und Überlieferung der neutestamentlichen Schriften ein für alle Mal gelöst zu haben. Er hat jedoch die volle Berechtigung, wenn er im Kapitel "Die dreifache Paulus-Lüge" schreibt: "Ich hoffe, dass ich damit alle theologischen Mutmaßungen nachvollziehbar entkräften konnte. Wer weitere Argumente sucht, darf sich gerne mit den Texten unvoreingenommen beschäftigen und eine überzeugendere Lösung suchen" (S. 199). M. E. gelten diese Sätze für das gesamte Werk.

Die führenden Köpfe oder besser: Die Apparatschiks der diversen Spielarten des organisierten Christentums werden den Inhalt dieses Buches, wenn sie ihn denn überhaupt zur Kenntnis nehmen, schlicht ignorieren. Sie haben es sich in ihrem »staatskirchenrechtlich geschützten Theotop behaglich eingerichtet« (Friedrich Wilhelm Graf) und werden nichts unternehmen, was ihre Existenzgrundlage gefährden könnte. Sie begnügen sich damit und sind sehr routiniert darin, ihren Schäfchen, anhand einer sehr begrenzten Zahl ausgewählter Bibelstellen, vermeintliche Glaubenswahrheiten zu vermitteln und sie damit bei der Stange zu halten.

Im Übrigen sehe ich den Autor in der langen Reihe namhafter Kritiker des Christentums, die es seit den Anfängen dieser Religion immer gegeben hat. Einen möchte ich hier abschließend zu Wort kommen lassen: Es handelt sich um einen Anonymus, der in der Frühaufklärung, gegen Ende des 17. Jahrhunderts,  in seiner religionskritischen Schrift Traktat über die drei Betrüger (gemeint sind Mose, Jesus und Mohammed) diese Sätze schrieb: »Kein wahrer Gelehrter wird die Wahrheit zu verletzen meinen, wenn er feststellt, dass die Geschichte Jesu Christi ein verachtungswürdiges Märchen und sein Gesetz bloß ein Hirngespinst ist, das durch Unwissenheit verbreitet, vom eigennützigen Interesse erhalten worden ist ...«. Und er fügte in einer Anmerkung einen entlarvenden Ausspruch des Papstes Leo X. (1475-1521) hinzu, den dieser gegenüber dem Kardinal Pietro Bembo (1470-1547) geäußert haben soll: »Man weiß seit unvordenklichen Zeiten, welchen Nutzen uns dieses Märchen eingetragen hat« (s. auch hier).

Die hier betrachteten Bücher sind m. E. durchaus geeignet, die Glaubwürdigkeit christlicher Glaubenslehre weiter zu erschüttern bzw. das Festhalten des organisierten Christentums an seinen tradierten "Glaubenswahrheiten" noch gründlicher als absurde Fehlhaltung zu entlarven.

Die zweifelhafte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Schriften bieten naturgemäß viel Spielraum für Spekulationen oder gar Verschwörungstheorien. Die Bücher Roland Webers gehören nicht zu entsprechenden Produkten jener Kategorien. Sie verdienen es ernst genommen zu werden. Dafür sprechen die intellektuelle Redlichkeit des Autors und seine seriöse und akribische Suche nach Indizien, die seine Hypothese stützen. 

Anmerkung
Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf (*1948) charakterisierte mit der Bezeichnung »staatskirchenrechtlich geschütztes Theotop« vor allem die theologischen Fakultäten an den deutschen Universitäten (s. hier). M. E. lässt sie sich aber ohne weiteres auf die gegebenen Strukturen der Kirchen insgesamt übertragen …

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06. Juni 2017
Europäische Jugendstudie enthüllt: Kein Vertrauen in religiöse Institutionen!

Bei einer Internet-Recherche stieß ich auf die Ergebnisse der europäischen Jugendstudie "Generation What?". Ihre Veröffentlichung erfolgte schon am 05. April 2017. Fast eine Million junger Menschen zwischen 18 und 34 Jahren aus 35 Ländern Europas hatten sich an der Befragung beteiligt. Abgefragt wurde u. a. das Vertrauen in Politik, Medien und Institutionen.

Was mir auffiel:

"Von allen Institutionen kommen die religiösen am schlechtesten weg: 58 Prozent der jungen Europäer vertrauen ihnen gar nicht und weitere 28 Prozent eher nicht. In keinem einzigen der befragten Länder finden sich mehr als drei Prozent junger Menschen, die religiösen Institutionen voll vertrauen. Besonders extrem fällt das Misstrauen in der Schweiz und Griechenland aus: Dort sagen 70 Prozent der jungen Leute, dass sie überhaupt kein Vertrauen in religiöse Institutionen haben."

Das Vertrauen in religiöse Institutionen war auch in früheren Befragungen nicht besonders hoch, so extrem niedrig aber wohl noch nie! Dennoch habe ich von den Betroffenen, insbesondere von den diversen Spielarten des organisierten Christentums, keinerlei Reaktion wahrgenommen. Sie lassen es sich offenbar, in ihrem komportabel ausgestatteten "Theotop", weiterhin gutgehen. Dabei müssten bei ihnen doch alle Alarmglocken schrillen.

Der ehemalige Priester Peter de Rosa (*1932) wagte im vorletzten Kapitel seines Buches Der Jesus-Mythos folgende Prognose:

"Vorhersagen sind leicht gemacht, wenn man nicht da sein wird, um sie zu überprüfen. Ich persönlich glaube jedoch nicht, dass das Christentum das nächste Jahrtausend überleben wird; und es wird nicht die einzige Weltreligion sein, die verschwindet." (S. 592)

Ich halte die Einschätzung de Rosas für sehr optimistisch. Das Christentum ist zwar, vergleicht man es z. B. mit der altägyptischen Religion, die mehr als 3000 Jahre existierte, noch relativ jung. Angesichts der desaströsen aktuellen  Umfrageergebnisse kann ich mir dennoch vorstellen, dass es, zumindest in Europa, schon im 22. Jahrhundert lediglich von marginaler Bedeutung sein wird.

Anmerkungen
- Hervorhebung im Zitat stammt vom Autor der Site.
- In Deutschland wurde die Studie von BR, ZDF und SWR begleitet.

- Ich fand die Informationen beim BR.
- Weitere Informationen gibt es hier.


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31. Mai 2017
"Unsinn und Allerlei" römisch-katholischer Prägung

Während der Erstellung dieser Website befasste ich mich sehr intensiv mit Christentums-kritischer Literatur. Nach ihrer Veröffentlichung in 2013 (s. hier) stand diese nicht mehr im Vordergrund meines Interesses, als das kürzlich erschienene Buch Gedanken zu Christlichem – Unsinn und Allerlei des Autors Alec Woods (*1961) erneut mein Interesse weckte.

Der Autor schreibt als Betroffener (Geschädigter?), der sich mit all den rituellen Absurditäten, Scheinheiligkeiten, mit all den Verstößen z. B. gegen die Gleichbehandlung der Geschlechter, gegen die körperlich-seelische Unversehrtheit von anbefohlenen Kindern und Jugendlichen etc. dieser kirchen-christlichen Variante des organisierten Christentums nicht mehr kritiklos abfinden wollte. 

Das Buch ist in einer sehr direkten, punktuell polemischen aber auch humorvollen Sprache geschrieben. Sein Inhalt zeugt von intimen Insider-Kenntnissen des Autors und wirkt uneingeschränkt glaubwürdig. Es ist vor allem denjenigen zur Lektüre empfohlen, die sich ebenfalls von klerikaler Bevormundung oder wie der Autor es, zugespitzt, auch formuliert, von "Verdummung" emanzipieren wollen.

Abschließend ein "Glaubenszitat" aus diesem lesenswerten Buch (S. 135):
 

»Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in einer Garage steht.« 

                                                                   Albert Schweitzer (1875-1965)

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07. November 2016
500. Jubiläumsjahr der "Reformation"  Im Fokus: Martin Luther

Vor einer Woche, am diesjährigen Reformationstag, läuteten die protestantischen Kirchen den Beginn des 500. Jubiläumsjahres der Reformation ein. Es endet am 31. Oktober 2017, der, anlässlich dieses besonderen Jubiläums, nicht nur in wenigen Bundesländern, sondern bundesweit als offizieller Feiertag begangen werden soll. In den bis dahin geplanten Feierlichkeiten wird der "Reformator" Martin Luther (1483-1546) eine zentrale Rolle spielen. Es liegt also nahe, sich eingehender mit ihm zu befassen.

Beeinflusst von Religionslehrern in der Schule, von Pfarrern im Konfirmandenunterricht und in Gottesdiensten, sowie, nicht zuletzt, auch von den Leitern einer Jugendgruppe des CVJM, wurde Martin Luther, in meinem Bewusstsein, zu einer Lichtgestalt. Dieses Bild sollte für Jahrzehnte Bestand haben. 

Erst als ich begann, mich kritisch mit dem Christentum, insbesondere mit seiner Geschichte, auseinanderzusetzen, stieß ich zwangsläufig auf Quellen, in denen fragwürdige Äußerungen des "Reformators" thematisiert wurden. Und ich musste feststellen, dass diese so gar nicht in das Bild passen wollten, das ich mir von ihm gemacht hatte. Mir wurde seine "tiefdunkle Seite" bewusst.


Ich weiß es nicht mehr genau, aber den ersten Anstoß, mich eingehender mit dem "Reformator" zu befassen, gab mir ein Artikel in der ZEIT vom 30. Oktober 2008. Darin wurde auch deutlich, dass er selbst, durch unwahre Behauptungen über seine Herkunft und sein Klosterleben, ganz erheblich zur Entstehung des "Mythos Luther" beigetragen hat (s. hier).

Anfang 2009 befasste ich mich dann mit dem damals zelebrierten Calvin-Jubiläumsjahr – der 500. Geburtstag des Schweizer "Reformators" fiel auf den 10. Juli 2009. Ich war dabei u. a. über ein skandalöses Verhalten Melanchthons, eines Weggefährten Luthers, gestolpert (s. hier).

Etwa zur gleichen Zeit bearbeitete ich, im Rahmen des Hauptmenüpunktes "Historisches" dieser Website, das Kapitel "Verhalten der Kirche(n) gegenüber den Juden" (s. hier). In das Unterkapitel "Die Saat ging auf" habe ich damals Zitate aufgenommen die ich in einem Buch von Norbert Hoerster (*1937) gefunden hatte (s. hier). Diese Zitate stammten aus einer Schrift Martin Luthers mit dem Titel Von den Juden und ihren Lügen.

Diese Schrift spielte dann auch eine maßgebliche Rolle, als ich Anfang 2010 auf einen nicht zu übersehenden Zusammenhang zwischen dem von Luther verbreiteten Gedankengut und der "Reichspogromnacht" stieß (s. hier).

Von den Juden und ihren Lügen war 1543 erstmals erschienen. Vor einigen Monaten wurde es in einer neuen Bearbeitung veröffentlicht. Es enthält, in paralleler Anordnung, den Originaltext und die Übertragung ins heutige Deutsch.

Auf einem der ersten Blätter dieses neuen Buches befindet sich ein "Wichtiger Hinweis", dessen Berechtigung, in der gegenwärtigen Verfassung der bundesdeutschen Gesellschaft, völlig außer Frage steht:


"Diese Übertragung dient allein der Aufklärung und wird ihren Zweck immer dann verfehlen, wenn sie als Rechtfertigungswerk für neonazistisches, antisemitisches Gedankengut missbraucht wird!"

Zwei Seiten vorher zitieren die Herausgeber die Nr. 1795 aus den sog. "Tischreden" Martin Luthers. Dieser, von unfassbarer Gefühlskälte und unüberbietbarer Brutalität gekennzeichnete, Satz spricht für sich:


"Wenn ich einen Juden taufe, will ich ihn an die Elbbrücken führen, einen Stein um den Hals hängen, ihn hinabstoßen und sagen: Ich taufe dich im Namen Abrahams."

Der Inhalt des Buches besteht, in großem Umfang, aus langatmigen Ausführungen Luthers über jüdische Falschauslegungen von Textstellen des Alten Testaments. Ich fand es nicht lohnend, diese Passagen ausführlich zu lesen. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass selbst Theologen den m. E. verquasten, unsachlichen Äußerungen Luthers heute nichts mehr abgewinnen können.

Ich möchte eigenen Recherchen interessierter Leserinnen und Leser nicht vorgreifen. Im gegebenen Kontext erscheint es mir jedoch als sinnvoll, zumindest einige Kostproben aus Luthers Elaborat zu servieren:


"Deshalb hüte dich vor den Juden und denke dran: Wo sie ihre Synagogen haben, da ist ein Teufelsnest voller Eigenlob und Hochmut, da lügen und lästern sie, beschimpfen Gott und die Menschen aufs Bösartigste und Bitterste, wie es die Teufel selbst tun." (S. 79)

 

"Wir Christen besitzen unser Neues Testament, das zuverlässig und ausreichend den Messias bezeugt. Wir glauben noch viel weniger ihren verdammten Falschauslegungen und lassen sie weiter auf ihren Messias warten. Uns schadet ihr Unglaube nicht. Was er ihnen nützt und bisher geholfen hat, dass sollten sie ihr anhaltendes Elend fragen. Das wird ihnen die passende Antwort geben. Wer nicht zu uns will, soll bleiben wo er ist." (S. 87)

 

"Darum musst du wissen, lieber Christ, und nicht daran zweifeln, dass du nach dem Teufel keinen bittereren, bösartigeren oder heftigeren Feind haben kannst, als einen richtigen Juden, der ernsthaft ein Jude sein will." (S. 157)

 

"Und sieh nun, was für eine feine, dicke, fette Lüge das ist, dass sie klagen, sie seien bei uns gefangen. Es ist mehr als 1400 Jahre her, dass Jerusalem zerstört wurde und wir Christen werden derzeit, wie oben gesagt, schon fast 300 Jahre von den Juden in aller Welt gequält und verfolgt, sodass wir allen Grund zu klagen haben. Sie hatten damals unseren Christus gefangen und getötet, was die volle Wahrheit ist. Dabei wissen wir bis heute nicht, welcher Teufel sie in unser Land hergebracht hat. Wir haben sie nicht aus Jerusalem geholt.

 

Zudem hält sie auch jetzt niemand hier. Land und Straßen stehen ihnen offen, sie können in ihr Land ziehen, wenn sie wollen. Wir würden gern ein Geschenk dazugeben, damit wir sie loswerden. Denn sie sind uns eine schwere Last, da sie eine Plage, eine Seuche und pures Unglück in unserem Lande sind. Das sieht man daran, dass sie oft mit Gewalt vertrieben worden sind, und wir sollten sie auch nicht behalten." […] (S. 243)


Nach lügenhafter Geschichtsverfälschung – "Christen werden […] schon fast 300 Jahre von den Juden in aller Welt gequält und verfolgt" – beschreibt Luther, in eklatantem Widerspruch dazu, diverse Vertreibungen der Juden aus Frankreich, Spanien, Böhmen, Regensburg etc. Folgerichtiges Denken war offenbar nicht seine Stärke, und er setzt seine Ausführungen in der gleichen verschrobenen, verfälschenden Weise fort:

"Nennt man das gefangen halten, wenn man einen in seinem Land oder Haus nicht leiden mag? Jawohl, sie halten uns Christen in unserem eigenen Land gefangen. Sie lassen uns arbeiten im Schweiß unseres Angesichts, um Geld und Gut zu erwerben. Sie sitzen unterdessen hinter dem Ofen, faulenzen und furzen und braten Birnen, fressen, saufen und leben leicht und wohl von unserem erarbeiteten Gut. Sie haben uns und unsere Güter vereinnahmt durch ihre verfluchte Raffgier, spotten dazu und spucken uns an, während wir arbeiten und sie faule Edelleute sein lassen in dem, was eigentlich uns gehört." (S. 243/245)

"Was wollen wir Christen nun anfangen mit diesem verworfenen und verdammten Volk der Juden? Zu ertragen sind sie für uns nicht, solange sie hier sind und wir solches Lügen, Lästern und Fluchen von ihnen hinnehmen müssen, auf dass wir nicht mitschuldig werden an all ihren Lügen, Flüchen und Lästerungen.
[…]
Ich will meinen wohlgemeinten Rat geben.

Erstens, dass man ihre Synagogen oder Schulen anzünde und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und überschütte, sodass kein Mensch für alle Zeiten weder Stein noch Schlacke davon sehe. Und das soll man unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren tun, […]." (S. 247)


Weiter hinten im Buch stieß ich auf eine Variante dieses ersten Rates:

"Erstens soll man ihre Synagogen verbrennen, und wer es hat, werfe Pech und Schwefel hinein, und wenn jemand Höllenfeuer dazutun könnte, dann wäre das auch gut." (S. 279)

"Zweitens sollte man auch ihre Häuser abbrechen und zerstören, denn sie treiben darin genau das Gleiche, wie in ihren Synagogen. Stattdessen mag man sie etwa unter ein Dach oder in einen Stall tun, wie die Zigeuner, […]. (S. 249)
[…] […]
"Zum Fünften soll man den Juden das freie Geleit auf den Straßen ganz und gar verwehren und verbieten." (S.251)
[…]
"Siebtens soll man den jungen und starken Juden und Jüdinnen Flegel, Axt, Hacke, Spaten, Spinnrocken und Spindel in die Hand geben und sie ihr Brot verdienen lassen im Schweiße ihres Angesichts, […]." (S.255)

"Also, liebe Fürsten und Herren, die ihr Juden unter euch habt, falls euch mein Rat nicht gelegen kommt, so trefft einen besseren Beschluss, damit ihr und wir alle von der unerträglichen und teuflischen Last der Juden befreit werden und nicht vor Gott schuldig werden und Anteil haben an all dem Lügen, Lästern, Bespucken und Fluchen, wie es die aufbrausenden Juden gegen die Person unseres Herrn Jesus Christus, seine liebe Mutter, gegen alle Christen und Obrigkeiten und gegen uns selbst so frei und absichtlich treiben. Lasst sie keinen Schutz, noch Schirm, kein Geleit, noch Gemeinschaft haben, auch nicht euer Geld und Güter, noch das eurer Untertanen soll ihnen durch Wucher dienen oder verhelfen." (s. 259)

Anmerkung
Hervorhebungen in den vorausgehenden Zitaten stammen vom Autor der Site.

Es handelt sich tatsächlich nur um sehr wenige Kostproben aus der Fülle der einschlägigen Ausführungen Luthers, über die ich beim Querlesen gestolpert bin. Beim Lesen, dieser und anderer Textpassagen, drängte sich zunächst, ganz unwillkürlich, ein Bild in mein Bewusstsein, das den berühmten "Lügenbaron Münchhausen", neben Luther, als ein ganz kleines Licht erscheinen ließ. Dann dominierte allerdings sehr bald ein ganz anderer Eindruck mein Bewusstsein: Aus jeder Textseite dieses unsäglichen Pamphlets quoll mir der entfesselte Judenhass bzw. Antisemitismus Luthers entgegen. – Luther waren Respekt und Toleranz gegenüber Andersdenkenden völlig fremd. 

Die Theologin Margot Käßmann (*1958), seit 2008 „Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017“, erwähnte in einem Interview, am vergangenen Reformationstag, sinngemäß, dass man über den "Antijudaismus" Luthers sprechen müsse. Den ausgeprägten oder besser: überschäumenden Judenhass Luthers in akademisch-distanzierter Weise als "Antijudaismus" zu bezeichnen, empfinde ich als krasse Verharmlosung. 

Im Übrigen wurde an verschiedenen Stellen des Buches deutlich, dass sich Luthers Hass nicht nur gegen Juden, sondern in ähnlicher Weise gegen "Türken (=Muslime) und Papstanhänger" richtete. 

In diesem Zusammenhang darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass der Hass gegen Juden, gegen die Mörder des HERRN, zur uralten Tradition der römischen Kirche gehörte, und zwar nicht nur bis zur Zeit Luthers, sondern noch lange darüber hinaus.


Im Buch Die Furcht vor der Freiheit des Sozialpsychologen Erich Fromm (1900-1980) fand ich eine bemerkenswerte Charakterisierung der Persönlichkeit Luthers (und Calvins). Im Kapitel 3, Freiheit im Zeitalter der Reformation (S. 87), schreibt er:

"Luther und Calvin sind Musterbeispiele für diesen Menschentyp, der ganz von Feindseligkeit durchdrungen ist, und das nicht nur in dem Sinne, dass beide als Persönlichkeit zu den stärksten Hassern unter den Führergestalten der Geschichte – ganz gewiss aber unter den religiösen Führern – gehören. Noch bedeutsamer ist, dass diese Feindseligkeit auch in ihre Lehren eindrang und unausweichlich eine Gruppe ansprechen musste, die selbst von einer intensiven, ebenfalls verdrängten Feindseligkeit erfüllt war."

Angesichts dieser Einschätzung Fromms erscheint es mir als nicht abwegig, in der Persönlichkeit Luthers psychopathische Züge zu vermuten. Und was mir darüber hinaus plausibel erscheint, ist die kaum zu übersehende Tatsache, dass die "Feindseligkeit", von der Luther "ganz durchdrungen war", etwa 400 Jahre später, "eine Gruppe ansprechen musste, die selbst von einer intensiven, ebenfalls verdrängten Feindseligkeit erfüllt war" – die Protagonisten des Dritten Reichs! 

Dass Luthers Werk Von den Juden und ihren Lügen bei den Nazis bekannt war, wurde in der Verteidigungsrede Julius Streichers (1885-1946), einem der führenden Nazis, im Nürnberger Prozess, 1946, deutlich.

Anmerkung
Das entsprechende Zitat aus der Streicher-Rede ist dem Vorwort (S.7) des neu bearbeiteten Luther-Buches vorangestellt.

Da verwundert es nicht, dass die Herausgeber des neu bearbeiteten Buches, in ihrem Vorwort, folgende Einschätzung des Philosophen Karl Jaspers (1883-1969) dokumentieren:

"Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern." (S. 9)

Martin Luther gehört zweifellos zu den bedeutendsten historischen Persönlichkeiten, zu den "wirkmächtigsten Protagonisten der europäischen Geschichte" (S. 9). Die von der "Reformation" ausgehende historische Entwicklung war nicht von Luther allein angestoßen worden. Er spielte dabei aber wohl die Hauptrolle. Der in Gang gebrachte Entwicklungsprozess führte zunächst, zumindest in einigen Regionen Europas, zu einer spürbaren Reduzierung der weltlichen und religiösen Übermacht der römischen Kirche. Ihre zuvor unangreifbare Autorität geriet ins Wanken. Dass dieser Prozess jedoch nicht zu einer "Reformation" der römischen Kirche führte, sondern, ganz im Gegenteil, zu ihrer Spaltung, war Ursache heftiger Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Lagern, deren katastrophaler Höhepunkt mit dem Dreißigjährigen Krieg erreicht wurde.

In dem, durch die misslungene Reformation der römischen Papstkirche, neu entstandenen Einflussbereich christlicher Religion in protestantischer Ausprägung, kam es immerhin zur Beseitigung der schlimmsten Absurditäten christlicher Glaubensinhalte und Rituale, wie z. B. Ablasshandel, Heiligen-/Reliquienverehrung, Gottesdienste in Lateinisch, Transsubstantiation (Wandlung) von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi, die karnevaleske Kleiderordnung der kirchlichen Würdenträger.

Das Beispiel Luthers und anderer Reformatoren, die sich gegen Glaubenszwang und Repressionen der römischen Kirche aufgelehnt hatten, weckte in der Folge Kräfte, die einen fortschreitenden Prozess geistiger Emanzipation in Gang setzten. Die Aufklärung und die Französische Revolution waren weitere Meilensteine in diesem Prozess, der schließlich, zumindest in "aufgeklärten" Teilen der Welt, auch einen Wandel gesellschaftlicher Strukturen zur Folge hatte. Nach wechselvoller, mit Rückschlägen behafteter, Entwicklung ist heute, immerhin in einigen Weltgegenden, die Demokratie realisiert, die Freiheit, politische Teilhabe und weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglicht.
 

Jedoch dürfen, bei aller Würdigung der historischen Verdienste Luthers, die dunkle Seite seiner Persönlichkeit und die negativen Folgen seines Wirkens nicht ausgeblendet werden. Daher sind die protestantischen Kirchen aufgefordert, sich, neben den legitimen Feierlichkeiten zu Ehren Luthers, auch kritisch mit den negativen Folgen seiner verbalen Brandstiftung auseinanderzusetzen. Dazu gehört auch, dass sie sich offen zu ihren bisherigen Versäumnissen bekennen. Das 500. Jubiläumsjahr der Reformation bietet eine ideale Gelegenheit dazu: Verschweigen und/oder Verdrängen dieser nicht getilgten historischen Hypothek müssen einer öffentlich geführten kritischen Aufarbeitung weichen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin überzeugt, dass die von Luther gepredigte Intoleranz gegenüber den Juden bei der überwiegenden Mehrheit ihrer (Noch-)Mitglieder nicht mehr verfängt. Dennoch sehe ich eine wichtige Daueraufgabe der Kirchen darin, dem latent vorhandenen bzw. neu aufkeimenden Antisemitismus in unserer Gesellschaft mit allen, ihnen zur Verfügung stehenden, Mitteln entgegenzuwirken. Durch eine ehrliche und intensive Auseinandersetzung mit der lutherischen Intoleranz könnten sich die Kirchen zudem, noch glaubwürdiger und damit nachhaltiger als bisher, auch gegen andere Spielarten von Intoleranz und Diskriminierung wenden: z. B. gegen jene, denen Flüchtlinge und andere Minderheiten ausgesetzt sind.

Nachtrag (22.02.2017)
Bis gestern wusste ich nicht, dass die EKD schon in 2014 die Publikation "Die Reformation und die Juden  eine Orientierung" veröffentlicht hatte (s. hier). Es würde allerdings die Glaubwürdigkeit der EKD enorm steigern, wenn sie diese Schrift, über ihre Landeskirchen, flächendeckend an ihre Mitglieder verteilen würde. Das Geld wäre sehr viel sinnvoller angelegt, als z. B. in der lächerlichen "Die Bibel auf einem Bierdeckel"Aktion der EKHN (s. unten)!

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27. Oktober 2016
"Die Bibel auf einem Bierdeckel?" 
Ein Prosit auf die EKHN!

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) verteilte neulich "Impulspost" an ihre (Noch-)Mitglieder. Sie enthielt ein beigefügtes Blatt, aus dem man eine, beidseitig bedruckte, Karte im Bierdeckelformat heraustrennen konnte. Dazu gab es den Hinweis: "Ein Original-Bierdeckel ist bei allen teilnehmenden Kirchengemeinden kostenlos erhältlich."

Als ich das Ding sah, fiel mir spontan Friedrich Merz ein. Der ehemalige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag hatte vor Jahren gefordert, dass jeder Steuerpflichtige, durch vereinfachte Steuergesetze, in die Lage versetzt werden sollte, seine Steuererklärung auf einem Bierdeckel zu erstellen. Zugegeben: Die Steuererklärung ist nicht dasselbe wie die Bibel, dennoch ist die Analogie unverkennbar, und der Plagiatsverdacht nicht ganz abwegig.

Angesichts der enormen Kosten (s. Anmerkung unten) dieses groß angelegten "Bierdeckel-Projekts" frage ich mich, wie verzweifelt die Kirchenoberen der EKHN sein müssen – mutmaßlich wegen der rasant schwindenden Mitgliederzahlen –, dass sie nunmehr, ganz unverhohlen, alles daran setzen, die Lufthoheit über den Stammtischen in ihrer Region zu erringen.

In dieser verzweifelten, ja existenziell bedrohlichen, Lage kann ich der EKHN nur dringend empfehlen, unbeirrt noch einen Schritt weiterzugehen: Dank der, in der "Kirchenrepublik Deutschland", bekanntermaßen effizienten Lobbyarbeit der Kirchen, dürfte es für die EKHN kein Problem sein, umgehend Schanklizenzen zu erwerben. Damit könnte sie ihre siechen Kirchengemeinden in die Lage versetzen, in ihren, meist leerstehenden Kirchengebäuden und Gemeindehäusern, z. B. "Jesus-Klausen", "Bierstübchen des HERRN" oder "Paradies-Schenken" zu eröffnen. Dort hätte sie dann alle "Bierdeckelfreunde" in unmittelbarem Zugriff.

Die EKHN hat mich durch ihr skurriles Projekt dazu angeregt, hier einige, eher satirisch zugespitzte, Gedankensplitter niederzuschreiben. Dabei will ich es nicht bewenden lassen.

Die Vorderseite des Bierdeckels enthält eine sehr berechtigte Frage: "DIE BIBEL AUF EINEM BIERDECKEL?" Eine erste kurze Antwort wird darunter gleich mitgeliefert: "Christsein konkret 30.442 Verse in 3 Sätzen":


Vorderseite des EKHN-Bierdeckels


Die ausführlichere Antwort folgt auf der Rückseite und zwar von Jesus höchstpersönlich ("Jesus bringt es auf den Punkt"). Die "3 Sätze" sind aus einer Textstelle im sog. Matthäus-Evangelium (Mt 22, 34-40) abgeleitet:



Rückseite des EKHN-Bierdeckels


Der erste Satz ist für mich nur noch eine Leerformel. Mit einem, in archaischer Vorzeit, von Menschen, mit eingeschränktem Wissen und ausgeprägter Angst vor allem Unerklärlichen, erdachten Fantasieprodukt, das traditionell «Gott» genannt wird, kann ich nichts mehr anfangen. Wie kann denn ein, auch nur halbwegs zurechnungsfähiger, Mensch ein Fantasieprodukt lieben?

Einer Umfrage in 2011 zufolge glaubten in Westeuropa nur noch 35% der Befragten daran, "dass es einen Gott gibt" (s. Anm. unten). Unter den 65% "Ungläubigen" befinden sich mittlerweile auch Pfarrerinnen und Pfarrer. Auf der Internet-Seite des Deutschlandradios können die Ergebnisse einer Umfrage, unter niederländischen evangelischen Theologen, aus dem Jahr 2007, nachgelesen werden. Danach glaubten damals nur noch 40 % von ihnen an einen "allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde". (s. Anm. unten)

Die Sätze 2 und 3 würde ich, zusammengefasst, etwa so umformulieren:

Nimm Dich selbst ernst, nimm Dich an, bleibe nicht stehen, frage Dich, was Du tun kannst, um Umwelt und soziales Miteinander gesund zu erhalten. Dann wirst Du in Dir die, allen Menschen innewohnende, Fähigkeit entdecken, Empathie für die Anderen zu empfinden.

Empathie, eine angeborene Fähigkeit, hat sich im Zuge der biologischen und der sozio-kulturellen Evolution des Menschen entwickelt, und zwar ohne Zutun irgendeines «Gottes». Wahr ist m. E. allerdings auch, dass diese Fähigkeit, aufgrund ungünstiger Lebensumstände während der menschlichen Sozialisation, unterentwickelt oder gar verschüttet sein kann.

Wie schon an anderen Stellen dieser Website, sehe ich mich erneut veranlasst, einen Satz des Theologen Hans Conzelmann (1915-1989) zu zitieren. Conzelmann hatte zuletzt einen Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Göttingen. Er wusste also, wovon er sprach:


"Die Kirche lebt davon, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Leben-Jesu-Forschung in ihr nicht publik sind."

Über der zentralen Botschaft der EKHN, auf der Rückseite ihres Bierdeckels, steht der fulminante Satz: "Jesus bringt es auf den Punkt:" (s. oben)


Dabei ist es mittlerweile eine Binsenweisheit, dass "die Evangelien des Neuen Testaments überwiegend erfundene Jesusworte enthalten", wie der Theologe Gerd Lüdemann (*1946) feststellte. Und er ergänzte: "Bis heute gelten diese Sprüche innerhalb der christlichen Kirchen als Gotteswort, obwohl sie durch den Erweis ihrer Unechtheit seit langem diskreditiert sind." (mehr s. hier)

Die Kirchen weigern sich beharrlich, ihre "Schäfchen" darüber aufzuklären, dass die allermeisten Jesusworte dem vermeintlichen Heiland von unzähligen Schreibern, Nacherzählern und Fälschern, z. T. erst viele Jahrzehnte nach dessen Tod, in den Mund gelegt worden sind. Um ihrem fortschreitenden Bedeutungsverlust entgegenzuwirken, befindet sich, im Prioritätenkatalog der Kirchen, Existenzsicherung ganz weit oben, während wahrheitsgetreue Aufklärung überhaupt nicht vorkommt.

Daher ließ sich die EKHN mit ihrer Bierdeckel-Aktion m. E. zu einem noch weitaus fragwürdigeren Verhalten hinreißen. Indem sie Jesus, gemäß uralter christlicher Tradition, ihrerseits Worte in den Mund legt, nimmt sie den Anschein in Kauf, die  EKHN-spezifische Kurzfassung, jener vielleicht echten oder auch unechten Worte aus dem sog. Matthäusevangelium, stamme vom HERRN persönlich.  Und komme mir keiner mit der, von Theologen, gern geäußerten Rechtfertigung, es handele sich um "symbolische oder metaphorische Rede".

Der Grad der Fragwürdigkeit kirchlich-christlichen Verhaltens erfährt noch eine erhebliche Steigerung, wenn man sich darüber hinaus vor Augen führt, dass nicht mit absoluter Sicherheit, sondern allenfalls mit einem gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit, angenommen werden kann, dass der im Neuen Testament, hinter dem "erfundenen Jesus" bzw. hinter der "Kunstfigur Christus", verborgene "historische Jesus" tatsächlich gelebt hat. (mehr s. hier)


Neben dieser inhaltlichen Fragwürdigkeit darf natürlich noch ein anderer Aspekt der EKHN-Aktion nicht übersehen werden: Die EKHN verschwendet – äußerst leichtfertig – enorm viel Geld (s. Anmerkung unten), das ihr von den Steuerzahlern anvertraut wurde. Dieses Geld steht nun für wirklich wichtige Projekte, insbesondere im Sozialbereich, nicht mehr zur Verfügung …

Anmerkungen
- Auf der Website der EKD, unter dem Datum 05.10.2016, fand ich die Projektkosten aufgelistet: Gesamtkosten ca. 685.000 EUR, davon ca. 270.000 EUR Portokosten. - Bis zum Erscheinungstag dieses Berichts der EKD hatten Kirchengemeinden schon mehr als 200.000 Bierdeckel geordert. 
- Umfrage-Ergebnisse aus 2011 s. hier.
- Umfrage-Ergebnisse aus 2007 s. hier.

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22. November 2015
Die Krähe und die verschwundene Walnuss - oder Ursprung einer Religion?

Neulich war ich gerade losgefahren. Da bemerkte ich, dass etwas vor mir vom Himmel auf die Straße herabfiel. Und fast gleichzeitig landete eine Krähe daneben. Um einen Zusammenprall zu vermeiden, bremste ich. Die Krähe flatterte erschrocken auf, und ich konnte die Fahrt fortsetzen. Im Rückspiegel sah ich dann, dass sie sich sofort wieder niederließ.

Foto zeigt Krähe mit Walnuss im Schnabel

Ich wusste aus früheren, ähnlichen Begegnungen, dass es sich nur um eine Walnuss handeln konnte, die die Krähe aus ihrer Flughöhe auf die Straße hatte fallen lassen. Es war die übliche Methode des Nussknackens nach Krähenart, wie ich sie in den letzten Jahren im Herbst ab und zu schon erlebt hatte – eine mühevolle Art des Nussknackens, die wohl selten schon beim ersten Abwurf zum Erfolg führte. Ich konnte nie beobachten, dass die Nüsse beim Aufprall auseinanderbrachen, sah auf meinen Spaziergängen aber immer wieder einmal leere Nussschalen auf der Straße liegen.

Während der Weiterfahrt erinnerte ich mich an eine ganz besondere Begegnung dieser Art. Ich hatte sie vor Jahren, als mein Hund Maxi noch lebte, mit dem ich regelmäßig spazieren ging: Wir waren damals, nur einige hundert Meter weiter, in derselben Straße unterwegs. Plötzlich hörten wir ein klapperndes, knackendes Geräusch von der Fahrbahn neben uns. Wir blieben stehen und sahen, dass es von einer vom Himmel gefallenen Walnuss herrührte. Allerdings blieb diese nicht liegen, sondern kullerte noch einige Zentimeter über den Boden und … verschwand. Sie war in eins der Löcher eines Kanaldeckels gefallen. Unmittelbar darauf landete eine Krähe. Sie schien mich und Maxi überhaupt nicht zu bemerken, obwohl wir sie, nur wenige Meter entfernt, vom Gehweg aus beobachteten. Ihre ganze Aufmerksamkeit und Konzentration galt der verschwundenen Walnuss. Sie wirkte verblüfft, irritiert und ratlos, trippelte hin und her, neigte den Kopf von einer Seite auf die andere, hielt immer wieder inne, schien zu lauschen. Sie fand offensichtlich keine Erklärung für das, was ihr da widerfuhr. 

Ich weiß nicht mehr, wie lange Maxi und ich zuschauten, und ob wir oder die Krähe den Ort des Geschehens zuerst verließen. Ich erinnere mich aber noch sehr gut daran, dass meine Gedanken, auch noch einige Zeit danach, um das Verhalten dieses verdutzten Vogels kreisten.

Das neuerliche Rendezvous mit einer Krähe frischte nicht nur meine Erinnerungen auf, sondern löste auch "fabelhafte" Assoziationen aus:

Die Krähe flog, noch ganz aufgewühlt, auf kürzestem Wege zu ihrem Schwarm, der sich in der nahegelegenen Fasanerie aufhielt. Atemlos erzählte sie ihren Verwandten, Freundinnen und Freunden vom eben Erlebten: Die Erde habe ihre Nuss verschluckt! Sie wirkte immer noch irritiert und ratlos. Die Krähen, die sie umringten, schauten bekümmert, ja ernsthaft besorgt drein – vielleicht diagnostizierten sie insgeheim eine psychische Krise bei ihr. Dann jedoch erhob sich ein Stimmengewirr, in dem kaum jemand mehr sein eigenes Wort verstand. Erst als jemand ein Machtwort sprach und zu Wortmeldungen aufforderte, verstummte die Runde. Es meldeten sich dann einige, die, mehr oder weniger, dieselbe Meinung vertraten: Die Erde könne keine Nüsse verschlucken!

Daraufhin meldete sich eine junge, beklommen wirkende Krähe und äußerte mit leiser, zitternder Stimme, sie habe auch schon einmal erlebt, dass eine Nuss in der Erde verschwand. Sie habe sich bisher nur nicht getraut, darüber zu sprechen, weil sie fürchtete, dass ihr niemand glauben würde, und man sie womöglich für verrückt erklärte. Ihr wurde versichert, dass sie das nicht zu befürchten habe und man drängte sie, ihr Erlebnis zu schildern. Zögernd erzählte sie, es sei etwa ein Jahr her, dass sie eine Nuss schon mehrfach auf die Erde hatte fallen lassen, jedoch ohne den gewünschten Erfolg. Sie betonte, dass es sich um eine schwere, gut gefüllte Nuss gehandelt habe. Daher habe sie es auf jeden Fall nochmals probieren wollen. Sie sei mit der Nuss hochgeflogen, habe sie hinuntergeworfen und sogar noch den Aufprall gehört. Dann sei diese jedoch spurlos verschwunden – wie vom Erdboden verschluckt! Sie stockte kurz, bevor sie weitersprach: Sie sei daraufhin von panischer Angst ergriffen worden bei dem Gedanken, dass ihr womöglich dasselbe Schicksal drohte und sei, Hals über Kopf, davongeflogen. Seither habe sie um diesen "verwunschenen" Ort einen großen Bogen gemacht.

Alle in der Runde schwiegen betroffen und waren sichtlich bewegt. Diese, sehr emotional vorgetragene, Schilderung hatte ihnen schlicht die Sprache verschlagen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich jemand meldete, der, trotz des nunmehr zweifach bezeugten, "wundersamen" Verschwindens einer Nuss, darauf bestand, dass es dafür eine ganz natürliche Erklärung geben müsse, die beim aktuellen Kenntnisstand zwar noch nicht bekannt sei, aber wahrscheinlich irgendwann in der Zukunft Stand des Wissens sein werde. Ein lautstarkes Raunen ging durch den Krähenschwarm und bei genauerem Hinhören wurde deutlich, dass es heftigen Widerspruch gab.

Als wieder Stille eingetreten war, kamen Rednerinnen und Redner zu Wort, die u. a. eine "geheimnisvolle Kraft" ins Spiel brachten, die unendlich viel größer sei als alle den Krähen bekannten Kräfte. Andere sprachen von "bösen Geistern", die für das Verschwinden der Nüsse verantwortlich seien. In ihren Beiträgen kam offensichtlich die Mehrheitsmeinung zum Ausdruck.

Die hitzige Debatte dauerte noch ziemlich lange an. Schließlich ließ sich die Krähe, die vorher in der Versammlung ein Machtwort gesprochen hatte, erneut hören. Bedächtig erzählte sie von einem Ausflug an den Rhein, den sie kürzlich unternommen habe. Unterwegs sei sie einer Artgenossin begegnet, die der Krähenkolonie auf dem Kühkopf angehörte. Es habe sich eine freundliche, entspannte Unterhaltung entwickelt. Man habe über dies und das gesprochen und Erfahrungen ausgetauscht. Ein Thema habe in ihrem Gespräch eine besondere Rolle gespielt: Seine Gesprächspartnerin habe ihm begeistert von den laufenden Vorbereitungen zu einem großen Fest erzählt, das ihr Schwarm jedes Jahr, an einem "heiligen" Ort, auf der Knoblochsaue feierte und zwar das "Opferfest zu Ehren des Großen Geistes". Sein fragender Blick habe sein Gegenüber dann veranlasst, etwas ausführlicher darauf einzugehen.

Wie sich herausstellte, war die Kolonie auf dem Kühkopf, vor vielen Jahren, immer wieder von Schicksalsschlägen heimgesucht worden. U. a. gab es häufig Überschwemmungen, die nicht nur das Nahrungsangebot verknappten, sondern eine große Gefahr für Krähenküken darstellten. Durch hinzukommende heftige Stürme, die Bäume umstürzten oder Äste von den Bäumen brachen, fielen sie aus ihren Nestern und ertranken jämmerlich. Die Weisen des Schwarms kamen dann eines Tages zu der Erkenntnis, dass ihnen nur ein, zwar unsichtbarer, aber sehr mächtiger "Geist" die Heimsuchungen geschickt haben konnte. Und sie führten das besagte Fest ein. Den Höhepunkt des Festes bildet ein Opferritual. Alle Mitglieder der Krähenkolonie bringen ihre Lieblingsspeise – u. a. Regenwürmer, Schnecken, Walnüsse, Eicheln, Feldmäuse usw. – und legen sie am "heiligen" Ort, am Fuße einer großen Eiche, nieder.

Der Redner führte weiter aus, dass er seine Gesprächspartnerin gefragt habe, welcher tiefere Sinn mit dem Opferritual verbunden sei. Nach einem kurzen erstaunten Blick, wohl eine Reaktion auf seine zu Tage tretende Unwissenheit, habe sie ihm erklärt, dass die Opfernden, mit ihren freiwillig, demütig und ehrerbietig dargebrachten Opfergaben, versuchten, den "Großen Geist" gnädig zu stimmen. Der ersehnte Erfolg sei zwar nicht garantiert, denn, wie die Weisen herausgefunden hätten, entscheide der "Große Geist" stets "nach seinem Wohlgefallen", sie seien jedoch, schon eine erfreulich lange Zeit, von schlimmen Schicksalsschlägen verschont geblieben.

Er habe diese Informationen bisher für sich behalten, fuhr der Redner fort, stelle nun aber fest, dass es an der Zeit sei, miteinander darüber zu reden. Und er fragte die Umstehenden, ob es nicht angeraten wäre, aus den Erfahrungen der Kühkopf-Kolonie zu lernen und auch ein Opferfest einzuführen. Die Antworten aus der Runde waren eindeutig. Fast alle wünschten sich das Fest, und, freudig erregt, fragten sie durcheinander: Wann? Wo? Wie? Der Redner hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Dann sagte er, dass er sich schon einige Gedanken dazu gemacht habe und Folgendes vorschlage: Das Fest müsse dem "Mächtigen Erdgeist" gewidmet sein und einmal im Jahr stattfinden. Als Opfergaben kämen nur die schönsten und größten Walnüsse in Betracht. Und als Ort, an dem diese in angemessener Form dargebracht werden könnten, gäbe es keinen passenderen, als den Fuß der altehrwürdigen Pyramideneiche im Zentrum der Fasanerie, wo sich die Hauptwege kreuzen.

In der Krähenschar brandete anhaltender Beifall auf, und von allen Seiten wurde der Redner aufgefordert, das Nötige in die Wege zu leiten. Bevor er, abschließend, die organisatorischen Details ansprach, stellte er noch eine weitergehende Überlegung zur Diskussion: Er könne sich durchaus vorstellen, auch am Opferfest der Nachbarkolonie auf dem Kühkopf teilzunehmen und im Gegenzug Gäste von dort zum Fest in der Fasanerie einzuladen. Wenn die Anwesenden keine Einwände hätten, würde er Kontakt zu den Verantwortlichen der Kühkopf-Kolonie aufnehmen, um deren Zustimmung einzuholen. Er sei der festen Überzeugung, dass es nicht schaden könne, sich auch das Wohlwollen des "Großen Geistes" zu sichern …

Es gab keinen Widerspruch. Und als Tag des ersten Opferfestes legte er den übernächsten Sonntag fest. Am Ende meldeten sich zahlreiche freiwillige Helfer, die sich unbedingt an den Vorbereitungen beteiligen wollten.

Anmerkung

Urheberrecht am Foto "Saatkrähe mit Walnuss": Ulrich Prokop (s. hier)

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11. Oktober 2015
Wandlungsprozesse Umbau "mentaler Infrastrukturen"

Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer (*1958) befasst sich in seinem Buch, das den programmatischen Titel Selbst denken – eine Anleitung zum Widerstand trägt, u. a. mit den Voraussetzungen für das Gelingen von überlebenswichtigen globalen Projekten am Beispiel des Kampfes gegen die "gefährliche Klimaerwärmung". Er führt in diesem Zusammenhang aus,

 

"dass es nicht nur materielle und institutionelle Infrastrukturen gibt, die unsere Existenz prägen und unsere Entscheidungen anleiten, sondern auch mentale. Anders gesagt: Das meiste von dem, was wir wahrnehmen, deuten und tun, entzieht sich dem Bereich des Bewusstseins". (S. 64)

 Und er betont:
 

"Der notwendige Umbau nicht nur der materiellen und institutionellen, sondern eben auch der mentalen Infrastrukturen muss das in Rechnung stellen – es handelt sich hier nicht einfach um ein kognitives  Problem, das mit Aufklärung und Einsicht zu lösen wäre, sondern um die Trägheit von Geschichte und Lebenswelt." (S. 64)

Harald Welzer fordert in seinem Buch, nicht nur an dieser Stelle, nachdrücklich den Umbau bzw. den Wandel der genannten "Infrastrukturen". Er tut dies im Blick auf eine lebensdienliche Gestaltung der Zukunft der Menschheit und ihres Planeten. Und er sieht dabei jeden Einzelnen von uns in der Verantwortung. Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn er einen zwar bekannten, jedoch viel zu selten angesprochenen, Umstand hervorhebt:
 

"Das gute Leben muss man leider auch gegen sich selbst erkämpfen, gegen die Trägheit des Gewohnten, des gefühlten Menschenrechts auf »bitte immer so weiter«. Wenn es um Widerstand geht, bedeutet das immer auch: Widerstand gegen sich selbst." (S. 131/132)

Ein Hauptthema bzw. ein Hauptanliegen dieser Website ist ebenfalls ein Wandlungsprozess – der individuelle Wandlungsprozess vom Gläubigen zum Ungläubigen bzw. Religionslosen. Daher musste mir die Analogie zu den Überlegungen Harald Welzers ins Auge springen. 

Die seit jeher sehr innige Verquickung von Kirchen und Staat in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht und stützt die mächtigen "materiellen und institutionellen Infrastrukturen" des organisierten Christentums. Solange die deutsche Politikerkaste von zahlreichen, außerordentlich aktiven und effektiven Ekklesia-Lobbyisten durchsetzt ist, wird sich daran leider bis auf weiteres auch nichts ändern. 

Diese spezifischen "materiellen und institutionellen Infrastrukturen" bilden das gesellschaftliche Umfeld, das seinerseits mit den, ebenfalls sehr spezifischen, "mentalen Infrastrukturen" der Gläubigen in Wechselwirkung steht. 

Die meisten sog. Gläubigen haben eine religiös geprägte Sozialisation unter der Regie jener Religion hinter sich, in die sie – zufällig – hineingeboren wurden. Im Religionsunterricht und in den gottesdienstlichen Ritualen waren sie dabei häufig der Berieselung durch in Dogmen ein für alle Mal festgeschriebene, vernunftwidrige Lehrmeinungen ihrer Kirchen ausgesetzt. Selbst, wenn sie im weiteren Verlauf kaum noch regelmäßig in die Kirche gingen und nur noch aus Gewohnheit Kirchenmitglieder sind, hat die Indoktrination in ihren frühen Jahren tiefe Spuren in ihren "mentalen Infrastrukturen" hinterlassen. Daher bleiben sie empfänglich für wohlfeile, von Klerikern und Politikern gleichermaßen, häufig wiederholten, wirkmächtigen Beschwörungsformeln, wie etwa: Jedes Volk hatte und hat seine Religion. Wenn es die Religion bzw. die Kirchen nicht gäbe, die Hüterinnen der »christlichen Werte«, dann würde, etwas zugespitzt formuliert, nicht nur unsere »christlich-abendländische Kultur« untergehen, sondern unsere Gesellschaft ungebremst ins Chaos stürzen. 

Verfechter der Religion und andere interessierte Kreise bemühen in diesem Zusammenhang gern ein Wort des russischen Schriftstellers Dostojewski (1821-1881):
 

"Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt."

Es ist ein Wort, das nur Interessenvertreter und unkritisch-leichtgläubige Religionszugehörige für plausibel halten können. (mehr s. hier)

Theologen rechnen, ebenso wie Politiker, mit der Leichtgläubigkeit ihrer Zuhörer. Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) hat dies einmal exemplarisch anhand einer Äußerung des Theologen Paul Tillich (1886-1965) verdeutlicht:


"… er nimmt keinen Anstoß daran, die Leute im Glauben an Dinge zu belassen, die eindeutig falsch sind – Dinge, die sie nicht glauben würden, hätte die Kirche sie ihnen nicht schon im Kindesalter beigebracht, noch ehe »der fragende Geist des Menschen« Schwierigkeiten erkennt.

Aber selbst im Stadium der Bewusstheit darf man das Gewissen des Gläubigen beschwichtigen, indem man ihn in seinem falschen, aber buchstabengetreuen Glauben bekräftigt, solange »das kritische Bewusstsein unentwickelt oder die natürliche Leichtgläubigkeit ungebrochen ist«."
(mehr s. hier)

Die sog. Gläubigen sind es nicht gewohnt, kritisch zu hinterfragen, was ihnen in kirchlichen Ritualen, die in ihrer Wirkung auf Dauer einer Gehirnwäsche nicht ganz unähnlich sind, zugemutet wurde und wird. Um hier umzusteuern, wäre für jeden Betroffenen genau das erforderlich, was Harald Welzer "den Widerstand gegen sich selbst" bzw. den bewussten Kampf "gegen die Trägheit des Gewohnten" nennt.

Harald Welzer formuliert in seinem Buch "12 Regeln für erfolgreichen Widerstand" (S. 293) . Vier davon scheinen mir für den hier betrachteten Zusammenhang als besonders beherzigenswert:


"2. Es hängt ausschließlich von Ihnen ab, ob sich etwas ändert.
 3. Nehmen Sie sich deshalb ernst.
 4. Hören Sie auf, einverstanden zu sein.
 5. Leisten Sie Widerstand, sobald Sie nicht einverstanden sind."

Aus eigener Erfahrung weiß ich: Das alles ist leichter gesagt als getan. Ein möglicher Umbau der "mentalen Infrastrukturen" vollzieht sich nicht schlagartig. Er erfordert einerseits Geduld mit sich selbst und andererseits auch ein gehöriges Maß an Frustrationstoleranz. Letztere hilft u. a. beim Verlassen des gewohnten Beziehungsrahmens und bei der Suche nach einem neuen.

Im Übrigen kann ich nicht bestätigen, was von interessierter Seite, aber auch von wohlmeindenen Christen immer wieder einmal als Schreckensszenario an die Wand gemalt wird, dass nämlich Betroffene durch den, nach einem individuellen Wandlungsprozess, vollzogenen Abschied vom Religiösen ihren inneren Halt verlieren und geradewegs in die Verzweiflung stürzen könnten. Im Gegenteil: Ich empfand das Abstreifen der »Fesseln des Religiösen« bzw. die Aufgabe lang gehegter Illusionen als Befreiung.

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