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Gottesverständnis
Inhalt
Vorbemerkungen
Es gab Zeiten, in denen ich von den
Menschen, die über «Gott» sprachen, das
von ihnen gezeichnete Gottesbild unreflektiert
übernahm. Ich glaubte ihnen, wenn sie auf die zahlreichen
Wundertaten «Gottes» hinwiesen, auf die, von denen
die Bibel berichtete, aber auch auf jene, die – bei
aufmerksamer Betrachtung – im Leben jedes Einzelnen
vorkämen. Ich glaubte zu wissen, wer
«Gott» ist.
Zuerst war da der "liebe
«Gott»" der Kinderzeit. Dann gewann zeitweise das
Bild des "göttlichen Bruders" Jesus Christus, eine der drei
"Personen" des "dreieinigen Gottes", an Bedeutung. Ich traf Menschen,
die dieses Bild denjenigen empfahlen, die ein Problem mit dem zornigen,
richtenden "Gott-Vater" hatten. Letzterer spielte, nach meiner
Erinnerung, insbesondere in den dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges,
Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, eine Furcht erregende
Rolle. Ich erinnere mich an Menschen, die damals sog. "Zeichen der
Zeit" zu erkennen glaubten, die nach ihrer Auffassung das baldige
Kommen des in der Bibel angedrohten Weltendes mit dem Jüngsten
Gericht ankündigten.
Später glaubte ich am
besten mit dem Bild einer, nicht näher beschreibbaren, im
gesamten Universum wirksamen «Kraft» leben zu
können. Hatte ich mich damit dem Gottesverständnis
der Mystiker, dem der Pantheisten
oder Panentheisten,
angenähert? Ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte ich
mich damit ganz sicher vom (mono)theistischen
Gottesbild des Christentums – in seiner trinitarischen
Ausprägung – verabschiedet.
Heute, am 27. Juli 2008,
während ich diese Zeilen niederschreibe, weiß ich
nicht, wer oder was «Gott» ist. Ebenso wenig
weiß ich, ob er existiert oder nicht.
Mir erscheint daher eine Empfehlung
des mittelalterlichen Mystikers Meister
Eckehart (1260-1328) als sehr beherzigenswert, die er in
seiner 42. Predigt
gab:
"Schweig
daher und klaffe nicht über Gott, denn damit, dass Du
über ihn klaffst, lügst du, tust du Sünde.
Willst du nun aber ohne Sünde und vollkommen sein, so klaffe
nicht über Gott! Auch erkennen (wollen)
sollst du nichts von Gott, denn Gott ist über
allem Erkennen. Ein Meister sagt: Hätte ich einen Gott, den
ich erkennen könnte, ich würde ihn nimmer
für Gott ansehen!"
Dennoch möchte ich nicht
ganz darauf verzichten, im Folgenden ein paar eigene Gedanken zum Thema
zu äußern, aber vor allem andere Menschen zu Wort
kommen zu lassen, die m. E. über das was wir
«Gott» nennen Wichtiges zu sagen haben.
Der Abschnitt Wichtige
Gedanken über das, was wir
«Gott» nennen aus den letzten 2500 Jahren
enthält eine kurze, vorläufige und ganz subjektive
Auswahl entsprechender Äußerungen zum
Gottesverständnis.
Anmerkungen
- Das von Meister Eckehart gebrauchte
altertümliche Wort klaffen, was unserem kläffen
entspricht, würde man heute wohl durch schwatzen
ersetzen.
- Mir ist bewusst, dass so, wie Meister Eckehart dies tut, eigentlich
nur jemand sprechen kann, der die Existenz eines «Gottes»,
welcher Ausprägung auch immer, voraussetzt.
Das
komplizierte Innenleben des trinitarischen Gottes
Auf
der Seite Dogmen und
andere Glaubensmeinungen habe ich versucht, den
historischen Prozess der Entstehung und Festlegung der wesentlichen
christlichen Dogmen, zumindest skizzenhaft, zu beschreiben. Die
Festlegung der «Trinität» – als
verbindliches Gottesverständnis – war eines der
wichtigsten Ergebnisse dieses Prozesses.
Im Folgenden versuche ich die dogmatisch fixierte christliche Vorstellung vom «dreieinigen
Gott» (protestantisch) bzw. vom «dreifaltigen
Gott» (römisch) bildlich darzustellen:
Die Abbildung spiegelt die
Ergebnisse
- des 1. Konzils von Nicäa
(325), auf dem die Gottheit des
«Sohnes» (Jesus Christus) beschlossen
wurde,
- des 1. Konzils von Konstantinopel
(381), das die Gottheit des
«Heiligen Geistes» und die «Trinität»
verkündete,
- des Konzils von Chalcedon
(451), auf dem festgelegt wurde, dass der Gottessohn bzw. der Gott
Christus eine einzige Person bzw. Hypostase sei, die zwei Naturen
besitze, eine göttliche und eine menschliche, "die jedoch
weder miteinander vermischt oder ineinander verwandelt noch geschieden
oder getrennt sein sollten" (Bernd
Moeller).
- des 3. Konzils von Toledo (589), das das Glaubensbekenntnis von
Konstantinopel (381) um das filioque
ergänzte: »Wir glauben an den Heiligen Geist, der
Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater
und dem Sohn
hervorgeht.«
In der bildlichen Darstellung wird noch deutlicher, wie fantasievoll
die Chefdogmatiker des frühen Christentums auf den
"Räubersynoden" des 4. und 5. Jahrhunderts und,
abschließend, im 6. Jahrhundert in Toledo das "Innenleben"
ihres «Gottes» strukturierten. Diese
Spitzenkleriker dachten und fantasierten nicht sehr viel anders als die
Menschen des alten Griechenlands, die ihren Göttern auf dem Olymp
sehr spezifische Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen
andichteten. Heute betrachten wir diese Vorstellungen allenfalls noch
als historisch oder literarisch interessante Aspekte der
althergebrachten Mythologie einer längst untergegangenen
Kultur: Kein Mensch betet heute mehr die griechischen Götter Aphrodite,
Dionysos, Poseidon
oder Zeus an, ebenso wenig wie die
römischen Gottheiten der Kapitolinischen Trias: Jupiter, Juno und Minerva.
Die religiösen
Vorstellungen des Christentums basieren primär auf der
jüdischen bzw. vorderasiatischen Mythologie: Nach dem Auszug
aus
Ägypten kamen die Israeliten in ihrer neuen Heimat wohl mit
einem
lokalen Berggott in Berührung, den sie in der Folgezeit zu
ihrem
exklusiven Gott JHWH weiterentwickelten. In der
Spätantike wurden diese Vorstellungen angereichert um den Jesus-Mythos
einer kleinen jüdischen Sekte, der dann, unter dem Einfluss hellenistischen
Denkens, zum Christus-Mythos mutierte. Die
religiösen Vorstellungen des Christentums sind also ebenfalls
nichts anderes als Mythologie. Heute, so scheint es, ist eine der
Hauptaufgaben der Vertreter des organisierten Christentums zu
verschleiern, dass es sich um Mythologie handelt.
Christlicher
Monotheismus – Tritheismus oder Polytheismus?
Den Beteuerungen christlicher Theologen zum Trotz,
dass die von ihnen vertretene trinitarische Gottesvorstellung nur
symbolischen Charakter habe, dass sie keine Abkehr vom
ursprünglichen Monotheismus bedeute, ist
für Außenstehende, z. B. für Menschen aus
der islamischen Welt, nicht überzeugend. Es verwundert daher
nicht, dass letztere dem Christentum "Tritheismus"
oder "Polytheismus"
vorhalten. Kürzlich erzählte mir ein Bekannter, ein
Angehöriger einer islamischen Glaubensgemeinschaft habe ihm
gegenüber die Meinung geäußert, dass die
Christen "drei Götter" anbeteten: Gott-Vater,
Christus und Maria. Augenscheinlich war das Bewusstsein des
islamischen Gesprächspartners von seiner Wahrnehmung der
Praxis der römischen Konfession geprägt.
Die hier zitierte Einzelmeinung
eines Islam-Gläubigen betrachte ich nicht als
repräsentativ, aber auch nicht als ungewöhnlich.
Bietet doch das Christentum, in seinen verschiedenen Konfessionen und
sektiererischen Strömungen, für
Außenstehende kein klares Bild. Missverständnisse
sind vorprogrammiert. Letzteres gilt ganz besonders im Zusammenhang mit
der weit verbreiteten christlichen "Trinität". Die
Ausprägung der inneren Grundstruktur des christlichen Gottes,
die Dreiheit, ist noch nicht einmal eine christliche Erfindung. Es gab
sie analog in der Ideenwelt verschiedener älterer Religionen
bzw. Mysterienkulte, die heute nicht mehr existieren (s. hier). Offenkundig
haben bei den Vordenkern der frühen Kirche auch taktische
Überlegungen eine Rolle gespielt: Die Verwendung von
bekannten, im Bewusstsein der antiken Zeitgenossen verankerten, Bildern
verbesserte die Chancen des frühen Christentums im Wettbewerb
mit den älteren antiken Kulten.
Die Mär von der symbolischen
oder metaphorischen Rede
Manche Theologen sind der Auffassung, man
könne von Gott nur symbolisch oder metaphorisch
reden. Im Gegensatz dazu empfehlen andere ihren "Gläubigen" an
einen persönlichen Gott, an dessen »personale
Wirklichkeit«, zu glauben. Wahrscheinlich spiegelt das ihre
eigene Glaubensmeinung bzw. ihr individuelles Gottesbild wider.
Tatsache ist, dass es sowohl den Theologen als auch, und vor allem, den
Gläubigen kaum gelingt symbolisch zu
denken und zu reden.
Die zugrunde liegende Problematik
wird m. E. verschärft durch die dogmatisch fixierte Dreieinigkeit
des christlichen Gottes: Ist es verwunderlich, wenn im Bewusstsein der
"Gläubigen" parallel zum (vermeintlich) symbolisch
gedachten Gottes-Sohn Christus der Mensch Jesus
bzw. der göttliche »Bruder« auftauchen?
Ebenso schwer fällt der Versuch, symbolisch vom Gott-Vater
zu reden, ohne gleichzeitig etwa an die Darstellung des
Schöpfers in Michelangelos
(1475-1564) berühmtem Deckengemälde "Die Erschaffung Adams", in der
Sixtinischen Kapelle des Petersdoms in Rom, zu denken. Die Liste
möglicher Assoziationen ließe sich fortsetzen.
Im Folgenden kommen zwei Insider zu
Wort, die das zwiespältige Denken und Reden in den Theologien
des organisierten Christentums kritisch beleuchten.
Der britische Autor und ehemalige
katholische Priester Peter de Rosa
(*1932) beschreibt u. a. das real existierende Dilemma der Theologie in
seinem Buch der Jesus-Mythos.
Hier ein kurzer Ausschnitt daraus:
"Thomas von Aquin sah
[…] in seinen besten Momenten, dass nichts
Verstehbares über Gott ausgesagt werden kann. Und selbst der
nackteste metaphysische Gottesbegriff der Theologen – ein
höchstes Seiendes, ein geistiges Wesen über allen
Wesen, dass aus dem Nichts erschafft –, auch er ist
mythologisch. Weil sie dies nicht sehen, sind ihr Denken und ihr Reden
über Gott irreführend. Der Gottheit irgendein
Attribut buchstäblich zuzuweisen, macht sie ärmer.
Selbst zu sagen, er sei ein Schöpfer, und nicht zu
begreifen, dass dies Mythologie ist, reduziert Gott.
[…]
Die offizielle, hierarchische
Religion neigt außerdem dazu, Gott zu zähmen und zu
bürokratisieren. Obwohl Dogmatiker und Moraltheologen als
erstes anerkennen, dass Gott unerkennbar ist, gehen sie dann recht bald
dazu über, anmaßend und ohne Einschränkung
zu sagen, wie Gott ist, sogar
sein inneres Leben als Einheit dreier Personen zu beschreiben
– und was er in jeder Lage vom Menschen fordert. Sie geben
ihre vorgegebene Demut rasch auf. Dies ist bloße Tyrannei in
anderer, schlimmerer Form: eine geistige Tyrannei, die vielerorts ohne
Einschränkung mit Religion identifiziert wird."
Anmerkung
Hervorhebung
im Zitat stammt vom Autor der Site.
Der emeritierte
Theologe Matthias
Kroeger (*1935) befasst sich mit der bei vielen
TheologInnen unterentwickelten Disziplin im Denken und Reden in seinem
Buch Im
religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den
Köpfen der Kirche:
"In der Regel
lautet die Verfahrenslogik so: Zwar könne man von Gott nur
symbolisch oder metaphorisch sprechen, da wir ihn aber aus den
Schöpfungswerken und letztlich in Jesus Christus kennen,
dürfen wir »die Worte, Begriffe, Bilder, mit denen
wir Geschöpfliches bezeichnen, trotz ihrer Unangemessenheit
auf Gott anwenden« (W. Härle). […]
Alsdann aber wird das Bewusstsein der Uneigentlichkeit und der nur
symbolisch legitime Rang theistischer Rede konsequent
vernachlässigt, ja übergangen; es wird geredet wie
vorher. Die an sich vorhandene Einsicht nur symbolisch/metaphorisch
möglicher Rede und einer direkt und wörtlich nicht
möglichen Bezeichnung des Göttlichen bleibt
theoretischer Schlenker – ohne Konsequenz und Vorbehalt im
weiterhin ungeniert theistischen Gebrauch der Worte."
Fazit
Wenn zutrifft, was Thomas von Aquin (um 1225-1274)
und andere Theologen und Philosophen ausgedrückt haben, dass
über das was wir Gott nennen keine
konkreten Aussagen möglich sind, und ich zweifele nicht daran,
dann ist das grundlegende, im Alten Testament beschriebene,
Verständnis vom Vatergott obsolet. Und was für dieses
uralte Bild zutrifft, gilt erst recht für die vom Christentum
viel später hineingemalten trinitarischen Arabesken: Die
Trinität ist für mich überhaupt
keine relevante Denkfigur mehr.
Ich
frage mich, wann sich diese Erkenntnis auch in den Köpfen des
organisierten Christentums durchsetzt, und die für den
christlichen Ritus daraus folgenden logischen Konsequenzen gezogen
werden. Diese naive rhetorische Frage ist leicht zu beantworten: sehr
wahrscheinlich nie! Das organisierte Christentum würde damit "Harakiri"
begehen, und das ist nicht zu erwarten. Wahrscheinlicher ist, dass es
irgendwann, wie andere Religionen vor ihm, aufgrund geistiger und
personeller Auszehrung, aus der Geschichte verschwinden wird und mit
ihm der von ihm erfundene «Gott».
Theodizee
– «Gott» und die Übel der Welt
Der Begriff Theodizee
wurde vom Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz
(1646-1716) geprägt. Er setzt sich zusammen aus den
griechischen Worten für Gott (theos) und für
Gerechtigkeit (dike) und heißt übersetzt
"Rechtfertigung Gottes". Anders ausgedrückt geht es etwa um
die Frage: Wie lassen sich die Gott zugeschriebenen Eigenschaften
Allmacht, (All)Güte, Gerechtigkeit etc. angesichts der
zahlreichen Leiden in der Welt begründen bzw. rechtfertigen?
Letztlich geht es um die Frage ob das, was wir
«Gott» nennen, existiert oder nicht.
Dem
"Problem des Elends in der Welt" sind führende Denker
verschiedener Kulturen schon seit dem Altertum, also lange vor Leibniz
und anderen Denkern der Neuzeit, nachgegangen. Eine bekannte, dem
griechischen Philosophen Epikur (341-ca. 270 v.
Chr.) zugeschriebene Argumentation liest sich so:
"Entweder will Gott das
Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es
nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und
will es. Wenn er nun will und nicht kann, ist er schwach, was auf Gott
nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, ist er
missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will
und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie schwach und
dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich
für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel, und warum
nimmt er sie nicht weg?"
Die Auseinandersetzung über
die sog. Theodizee führt,
über die kritischen Fragen nach der Liebe, der Güte
oder der Gerechtigkeit Gottes, zwangsläufig zu der
weitergehenden Frage nach seiner Existenz. Während Theologen
die Frage trotz allem bejahen, ziehen religionskritische Denker die
Existenz Gottes in Zweifel oder verneinen sie. Schon aus der Epikur zugeschriebenen
Auffassung lässt sich kaum eine andere als die letztgenannte
Position ableiten.
Irgendwo las ich, dass den Theologen
eine Gegenfrage einfiel: »Woher kommt das Gute, wenn es Gott
nicht gibt?« – Jene findigen Theologen merkten
offenbar nicht, dass sie einem klassischen Zirkelschluss aufgesessen waren.
Der "sublime Wahn" des
Universalgelehrten Leibniz
Ich habe mich mit der Leibnizschen Position zur Theodizee
nicht intensiv genug befasst, um sie hier umfassend darstellen zu
können. Mir erscheint jedoch die von ihm vertretene
Auffassung, dass Gott "die beste aller möglichen Welten"
geschaffen habe, als ausgesprochen merkwürdig. Sie bleibt
merkwürdig, auch wenn Leibniz mögliche Kritik an
seiner These durch den Hinweis zu entkräften versuchte, dass
«Gott» – in seiner unendlichen
Güte – eine noch bessere Welt geschaffen
hätte, wenn ihm dies möglich gewesen wäre.
Ich weiß nicht, ob Leibniz Theist
oder eher Deist war, mit seiner sonderbaren
These, mit der er das Theodizee-Problem gelöst zu haben
meinte, reduzierte er die «Gott» zugeschriebene
Fülle Ehrfurcht gebietender Attribute zumindest um Allmacht
und Vollkommenheit. – War dies womöglich seine
Art der Kritik an dem althergebrachten Gottesbild?
In seinem Buch Der
Jesus-Mythos diagnostiziert der ehemalige
katholische Priester Peter de Rosa
(*1932) bei Leibniz einen "sublimen Wahn" und ergänzt
sarkastisch:
"Es war nett von ihm, das seinem
deutschen Publikum zu offenbaren, das sich bestimmt geehrt
fühlte, einen Platz in der einzig möglichen Welt zu
haben. Man fragt sich, ob er wohl auch Gott informiert hat."
Auch der große Theologe,
Philosoph und Arzt Albert Schweitzer
(1875-1965) äußerte sich kritisch über die
Leibnizsche Auffassung. In
Aus meinem Leben und Denken schreibt er:
"Schon während meiner
Gymnasialzeit war mir klar, dass mich keine Erklärung des
Übels in der Welt jemals befriedigen könne, sondern
dass sie alle auf Sophistereien hinausliefen und im
Grunde nichts anderes bezweckten, als es den Menschen zu
ermöglichen, das Elend um sie herum weniger lebhaft
mitzuerleben. Dass ein Denker wie Leibniz
die armselige Auskunft vorbringen konnte, diese Welt sei zwar nicht
gut, aber unter den möglichen die beste, ist mir immer
unverständlich geblieben."
Schweitzer macht
anschließend deutlich, wie er persönlich mit dem
"Problem des Elends in der Welt" umgehe:
"Sosehr mich das Problem des
Elends in der Welt beschäftigte, so verlor ich mich doch nie
in Grübeln darüber, sondern hielt mich an den
Gedanken, dass es jedem von uns verliehen sei, etwas von diesem Elend
zum Aufhören zu bringen."
Anmerkung
Voltaire
(1694-1778), französischer Philosoph und Autor und einer der
führenden Köpfe der europäischen
Aufklärung, setzte sich mit den Thesen des Universalgelehrten
sehr kritisch auseinander. In seinem Roman Candide oder der Optimismus
– eigentlich eine "philosphische Satire" – entlarvt
er die "Leibnizsche Doktrin des »Alles ist gut«"
als absurdes Hirngespinst.
Positionen von Philosophen und
kritischen Theologen
Schon die eher oberflächliche
Beschäftigung mit der sog. Theodizee
förderte in mir die Überzeugung, dass es für
mich wenig Sinn machte, das Thema zu vertiefen. Für
diejenigen, die dem organisierten Christentum eher distanziert oder
kritisch gegenüber stehen, ist es allenfalls von akademischem
Interesse. Dennoch seien im Folgenden Gedanken von Menschen aus der
jüngeren Vergangenheit zitiert, die sich eingehender mit der
Thematik befasst haben.
Der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Kaufmann
(1921-1980) macht in seinem Buch
Der Glaube eines Ketzers klar, unter welchen
Voraussetzungen "das Leiden" in der Welt zum Problem wird:
"Für Atheismus
und Polytheismus bedeutet das Leiden
kein spezielles Problem, und auch nicht für jede Art von Monotheismus.
Zum Problem wird das Leiden dann, wenn der Monotheismus durch zwei
Annahmen bereichert – oder verarmt – ist: dass Gott
allmächtig und dass er gerecht ist. Ja, der populäre
Gottesglaube behauptet nicht nur, Gott sei gerecht, sondern mehr noch:
er sei »gut«, sei moralisch vollkommen, hasse das
Leiden, liebe den Menschen, sei unendlich barmherzig,
überschreite bei Weitem jede menschliche Güte, Liebe
und Vollkommenheit. Wenn man diese Voraussetzungen hinnimmt, erhebt
sich das Problem: Warum gibt es dann all das Leiden, das wir kennen?
Solange diese Voraussetzungen gelten, kann die Frage nicht beantwortet
werden. Denn wenn die Voraussetzungen richtig wären,
würde daraus folgen, dass es all dieses Leiden nicht geben
könnte. Umgekehrt: Da dieses Leiden Tatsache ist, muss
offenbar zumindest eine der Voraussetzungen falsch sein. Der
populäre Gottesglaube wird durch die Tatsache widerlegt, dass
es so viel Leiden gibt. Der von Tausenden gepredigte und von Millionen
von Gläubigen akzeptierte Theismus
wird durch Auschwitz und eine Milliarde
geringerer Übel widerlegt."
In dem 1987 erschienenen Buch Christlicher
Glaube und intellektuelles Gewissen des Philosophen und
Theologen Helmut Groos
(1900-1996) fand ich diese Überlegungen (s. S. 386):
"Die gewaltige Ungleichheit der
Begabungen und die Unterschiede in den Anlagen insgesamt sind
kennzeichnend für die menschliche Art. Ein ungerechtes
Schicksal wird dem Menschen gleichsam schon in die Wiege gelegt, es ist
geradezu a priori gegeben. Inwiefern gilt Gott eigentlich als gerecht?
Und was insbesondere seine Liebe betrifft, so hat ein alles andere als
atheistisch eingestellter Philosoph, Karl
Groos, der dem Gottesproblem auf dem Wege einer induktiven
Metaphysik beizukommen suchte, überdies ein milder, ganz und
gar nicht polemischer Denker, hier die entscheidende Weichenstellung
vorgenommen und die Sachlage sehr prägnant formuliert:
»Sieht man nur auf die Tatsachen«, stellt er,
einige Jahre vor Auschwitz, fest, »so
kann man bei dem Anblick der furchtbaren Leiden, denen das Leben
ausgesetzt ist, schwerlich auf den Gedanken kommen, dass der
Weltenlenker von Liebe zu den Menschen beseelt sei«. So
sachlich, kurz und klar ist dieser ebenso einfache wie bedeutungsvolle
Sachverhalt kaum je ausgesprochen worden."
Anmerkungen
- Der Philosoph und Psychologe Karl Groos (1861-1946) war Lehrer
von Helmut Groos. Trotz
Namensgleichheit waren sie nicht miteinander verwandt.
In Fortführung seiner
Gedanken zeigt Helmut
Groos auf, dass sich das Vorhandensein "christlicher
Nächstenliebe und humanitärer Güte" unter
den Menschen "durch die Evolution
hinreichend erklären" lasse – "Dazu wird Gott nicht
benötigt" (s. S. 386/387):
"Es ist auch nicht etwa
möglich, die Annahme der Liebe Gottes mit der im menschlichen
Bereich erfahrbaren Liebe im Sinne der christlichen
Nächstenliebe und humanitären Güte in der
Weise in Zusammenhang zu bringen, dass diese auf jene, die
göttliche Liebe, zurückgeführt wird, denn
was an solcher Liebe und Güte in der Menschheit zu finden ist,
lässt sich durch die Evolution hinreichend erklären.
Dazu wird Gott nicht benötigt. Die Nächstenliebe ist
nicht irgendwann und irgendwo einmal vom Himmel gefallen, vielmehr wie
die Gerechtigkeit als Norm und Praxis des Verhaltens im Verlaufe der
natur- und kulturgeschichtlichen Entwicklung ausgebildet worden,
freilich nirgends so besonders und stark ausgeprägt, betont
und verwirklicht wie auf dem Boden des Christentums – das
soll nicht von ihm genommen werden, sondern ihm ausdrücklich
bestätigt und hier hervorgehoben werden. […] Der Gedanke der Liebe Gottes
liegt, wenn man die Erfahrung ausschlaggebend sein lässt,
alles andere als nahe. Er ist nicht begründbar und schlechthin
nicht zu halten."
Anmerkungen
- Helmut Groos
bezieht sich in seiner Argumentation sowohl auf die Evolution
als auch auf die soziokulturelle
Evolution.
- Hervorhebung im
vorausgehenden Zitat stammt vom Autor der Site.
Der österreichische
Philosoph Gerhard
Streminger (*1952) beleuchtet im Anhang seines 2008
erschienenen Buches Ecce
Terra, unter dem Titel Abschied vom
Theozentrismus, auch die Theodizee-Frage (s. S. 110/111 und 112):
"Seit
Hiob scheitern alle Versuche zu
zeigen, dass der Allmächtige, falls er denn existierte, auch
noch gut und gerecht sei. Denn wie könnte der
Schöpfer Himmels und der Erde, der mächtige
Erschaffer von Milliarden Sonnensystemen, wenn er auch noch
gütig und gerecht ist, etwa Demenz, Kinderkrebs,
Flutkatastrophen oder die verschiedensten Vernichtungslager zulassen,
in denen Monster in Menschengestalt ihr Unwesen treiben? Jeder Mensch,
sofern er gerecht empfinden kann oder gar gütig ist,
würde – wenn er denn die Macht dazu hätte
– dem Ausbruch an Zerstörung und roher Gewalt
sogleich Einhalt gebieten. Der Allmächtige tut dies aber
nicht. Somit sind solche
Menschen, und das sind wohl die meisten von uns, offenbar keine
Ebenbilder Gottes, der – sollte er denn
existieren – dem Treiben auf Erden tatenlos zusieht.
[…]
Am Anfang war das Wort, behaupten die traditionell Glaubenden. Aber das
ist falsch, sagen die Empiristen: Am Anfang war und ist
nämlich die Erfahrung. Denn die Wahrheit rührt von
keinen Autoritäten her, sondern sie ist allein durch genaues
Beobachten, gemeinsames, kluges Experimentieren und nüchternes
Nachdenken zu erkennen."
Anmerkung
Hervorhebung im Streminger-Zitat stammt vom Autor
der Site.
Beitrag eines römischen
Amtsträgers
Manche werden sich noch an die umstrittene Ernennung des
österreichischen Priesters Gerhard Wagner zum Weihbischof von
Linz erinnern. Joseph Aloisius Ratzinger (*1927)
hatte diesen ultrakonservativen Kleriker Anfang 2009, gegen den
Widerstand österreichischer Bischöfe, ins Bischofsamt gehoben. Wagner
war u. a. dadurch aufgefallen, dass er den Hurrikan Katrina, der in 2005 den
Süden der USA, vor allem New Orleans, verwüstet
hatte, als Strafe Gottes für das sündige Leben der
betroffenen Menschen erklärte. Für Wagner und seine
Gesinnungsgenossen war dieses Naturereignis also Ausdruck der
Gerechtigkeit ihres unendlich gütigen Gottes.
Anmerkung
Dass Wagner, unter dem Druck der Öffentlichkeit und aufgrund
der großen Zahl von Kirchenaustritten, Ratzinger etwa zwei Wochen später
bat, seine Ernennung zurückzunehmen, sei hier lediglich am
Rande erwähnt.
Wagner und andere Ewiggestrige
hatten sich schon im Zusammenhang mit der gewaltigen Tsunami-Katastrophe am 2. Weihnachtsfeiertag
2004 ganz ähnlich geäußert. Mehr
oder weniger unausgesprochen, hatte damals auch die Theodizee-bezogene
Diskussion zeitweise wieder Hochkonjunktur. Ich erinnere mich an eine
Fernseh-Runde, in der etwa folgende Fragen aufgeworfen wurden: Wie
konnte Gott das zulassen? Warum habe gerade ich einen nahestehenden
Menschen verloren? etc. etc. Ich erinnere mich an keine Einzelheiten
mehr, aber daran, dass auch der beteiligte führende Theologe
einer regionalen evangelischen Kirche keine plausiblen Antworten wusste
und einen eher verwaschenen Eindruck hinterließ.
Christliche Theologie, insbesondere
in ihrer römischen Spielart, erklärt das
Übel bzw. die in der Welt erfahrbaren zahlreichen Leiden
insbesondere mit der Sündhaftigkeit der Menschen, die die von
ihrem «Gott» gewährte Freiheit
missbrauchten.
Viele christliche Theologen und von
ihnen (noch) abhängige "Gläubige" wissen(!)
auch sehr genau, wer oder was «Gott» ist,
kann, will oder nicht
will. Und sie wissen meist auch, wann
und warum er in das Weltgeschehen oder in Einzelschicksale eingreift
oder nicht. Um ihre (Rest-)Unsicherheit bei der Beurteilung
göttlichen Verhaltens zu überspielen,
äußern sie dann etwa, dass Gottes Wege oder Gedanken
andere seien als die der Menschen oder dass wir das Geheimnis Gottes
nie ergründen würden etc. etc. Im Übrigen
versäumen sie nicht darauf hinzuweisen, dass es, "nach der
Wiederkehr des Herrn", im paradiesischen Jenseits die alle irdischen
Leiden ausgleichende Gerechtigkeit geben werde.
"Die Natur ist so"
Nach meiner Erinnerung ließ sich der
katholische Theologe Eugen Drewermann
(*1940) in einem Gespräch über die Tsunami-Katastrophe in 2004 nicht
auf eine fruchtlose Theodizee-bezogene Diskussion ein, sondern
erklärte kurz und bündig: "Die Natur ist so".
– Drewermanns
Bemerkung, eine schlichte Binsenweisheit, war immerhin eine
Zeitungsnotiz wert.
Verursacht wurde dieser todbringende
Tsunami bekanntlich dadurch, dass
sich aufgestaute Spannungen in einer unter dem Indischen Ozean
verlaufenden Bruchzone, wo sich die Indisch-australische Platte unter
die Eurasische Platte schiebt,
plötzlich und schlagartig lösten. Ein Vorgang, der
sich auch an anderen Stellen in der Erdkruste immer wieder ereignen
kann und tatsächlich ereignet.
Was für Katastrophen
verursachende Naturkräfte gilt, gilt in gleicher Weise
für Krankheiten und andere "Schicksalsschläge": Sie
gehören zu den natürlichen Gegebenheiten der uns
umgebenden Welt. Die Tatsache, dass sie von Menschen nicht beherrscht,
noch nicht einmal vorhergesehen werden können, führt
zu einem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins:
Auslöser für die Suche nach Hilfen jenseits
menschlicher Möglichkeiten.
In der Zeit vor der Entwicklung der
Naturwissenschaften haben die Menschen Naturphänomene immer
mit Dämonen oder Göttern in Verbindung gebracht.
Ihnen standen keine anderen Erklärungsmuster zur
Verfügung. Kräfte und Eigenschaften, die zuvor auf
verschiedene Gottheiten verteilt waren, wurden in Vorderasien vor etwa
3500 Jahren dann auf eine Gottheit projiziert.
Das Christentum, das dort seine Wurzeln hat, übernahm vor
nahezu zweitausend Jahren diesen Glauben an den einen
und einzigen «Gott» und an
dessen unüberbietbare Eigenschaften Allmacht, Allweisheit,
Allgüte, Gerechtigkeit etc.
Publik-Forum
8·2008 enthielt einen Beitrag des slowakischen evangelischen
Theologen Karol
Nandrásky (1927-2016). Unter dem Titel Der
sich häutende Gott setzte er sich kritisch mit
dogmatisch fixierten Glaubenslehren des organisierten Christentums
auseinander. Den folgenden Gedankengang daraus finde ich erfrischend
klar und einleuchtend:
"Man muss die absurde dogmatische
Erklärung abweisen, die in das natürliche Geschehen
– als Prinzip der Auslegung der Natur – Gedanken
von »Strafe« und
»Gerechtigkeit« einträgt. Die Gesetze, die
im Naturgeschehen herrschen, »prämieren
nicht« und »bestrafen nicht«. Sie sind
weder »moralisch« noch
»unmoralisch«."
"Es führt kein Weg
zurück …"
Aus den zahlreichen Übeln in der Welt
kann man zwar nicht zwingend ableiten, dass es keinen Gott gibt. Aber
sie nähren große Zweifel an der Existenz jenes
Gottes, den sich die Theologen vor langer Zeit ausgedacht haben und
ihren "Gläubigen" heute immer noch als Grundpfeiler ihres
christlichen Glaubens vermitteln.
Die Theologin Dorothee Sölle
(1929-2003) hat dies möglicherweise ähnlich gesehen,
als sie in ihrem Buch Atheistisch
an Gott glauben festhielt:
"Es führt kein Weg
zurück zum Kindervater, der Wolken, Luft und Winden Wege, Lauf
und Bahn gibt."
Ich weiß nicht, ob Dorothee Sölle
das, was sie in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in ihrem
Buch so klar formulierte, auch auf einem Kirchentag jener Zeit
geäußert hätte. Auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010
in München hat dies jemand mit ganz ähnlichen Worten
getan. Wie Publik-Forum in seiner Ausgabe
10·2010 berichtet, fand auf dem Kirchentag, im Zentrum »Juden
und Christen im Dialog«, ein Forum unter der Frage
»Heute Glauben?« statt.
Einer der Teilnehmer war der jüdische
Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik
(*1947). Publik Forum schreibt darüber u. a.:
"Der Jude, Professor für
Pädagogik in Frankfurt, hält es für nicht
möglich, »nach den schlimmen Erfahrungen des 20.
Jahrhunderts weiter von einem Gott zu reden, der in der Welt
handelt«."
In einer weiteren zitierten
Äußerung, einer salopp zugespitzten Formulierung,
wird Brumlik
noch deutlicher:
»Den Glauben, dass Gott
in die Geschichte eingreift, den können wir uns
abschminken«.
Fazit
Aus den oben dargestellten Überlegungen
zur sog. Theodizee ergibt sich für
mich zwingend folgende Frage: Die Liebe und die Gerechtigkeit dessen,
den oder was wir »Gott« nennen, sind offenkundig
schon im Diesseits "nicht begründbar und
schlechthin nicht zu halten" (Helmut Groos). Wie
glaubwürdig ist dann die vom Christentum allen "Gerechten" im Jenseits
in Aussicht gestellte Wiedergutmachung –
für die im "irdischen Jammertal" erlittenen Ungerechtigkeiten?
Eine plausible Antwort auf diese
Frage fand ich beim Philosophen
Joachim Kahl (*1941), in einem Beitrag
für die Ausgabe
204 der EZW-Texte:
"Wenn Gott überhaupt
einen Zustand ohne Schmerz, ohne Leid, ohne Tod schaffen kann, warum
dann so spät und nicht von Anfang an? Warum nur für
wenige und nicht für alle? Warum zuvor die eigenen
Geschöpfe durch ein Meer von Blut und Tränen waten
lassen? Die Antwort kann nur lauten: Lassen wir uns nicht
länger von den Hirngespinsten einer religiösen
Phantasie in die Irre führen! Statt die Welt zu
verrätseln, sollten wir ihr nüchtern ins Angesicht
schauen. Oft genug ist die Wirklichkeit bitter. Im Glauben an Gott ist
sie bitter und absurd."
Ich stelle fest, dass es sich auch
hier, ganz analog zu anderen Themenfeldern christlicher Theologie, um
die Diskussion eines künstlich geschaffenen Problems handelt:
Ein theologisches Konstrukt genannt «Gott»
– Ergebnis theologischer Spekulation
– wurde von fantasiebegabten Theologen mit Ehrfurcht
gebietenden Attributen ausgestattet. Und letztere erfordern zu ihrer
Verteidigung bzw. "Rechtfertigung" ganz zwangsläufig eine
Unzahl weiterer Spekulationen
– ein absurdes Unterfangen.
Wichtige
Gedanken über das, was wir
«Gott» nennen, aus den letzten 2500
Jahren
Der vorchristliche griechische
Philosoph und Religionskritiker Xenophanes
von Kolophon (um 570-um 480 v. Chr.) vertrat
die Meinung, nicht die Götter hätten die Menschen
erschaffen, sondern die Menschen die Götter. Im
Übrigen näherte er sich dem Thema satirisch (gefunden
bei Klaus-Peter Jörns):
»Die
Äthiopier behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig
und schwarz, die Thraker, blauäugig und blond.«
»Wenn aber
die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten
und mit den Händen malen könnten und Bildwerke
schaffen wie Menschen, so würden die Pferde die
Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, die
Rinder in der von Rindern, und sie würden Statuen
meißeln ihrer eigenen Körpergestalt
entsprechend.«
Beim Historiker Rolf Bergmeier (*1940)
fand ich ein Zitat, das die Position des athenischen Philosophen Protagoras
(490-411 v.Chr.) zu den "Göttern" widerspiegelt:
»Von den
Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder dass es sie
gibt, noch, dass es sie nicht gibt, noch was für eine Gestalt
sie haben; denn vieles hindert Wissen hierüber: die Dunkelheit
der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens.«
Protagoras weist sich mit dieser
Haltung wohl als einer der ersten Agnostiker
der Weltgeschichte aus.
Bergmeier erwähnt im selben
Zusammenhang auch ein Wort des Stoikers
Panaitios:
"Der Stoiker Panaitios (180-110 v.
Chr.) ergänzt im zweiten vorchristlichen Jahrhundert: Er
selbst komme ganz gut ohne Gott aus, aber wer den allbelebenden,
sonnenverwandten Weltgeist (Logos)
unter dem Namen Zeus anbeten wolle, solle dies
doch gerne tun."
Vom deutschstämmigen
französischen Philosophen Paul Henri
Thiry Baron d'Holbach (1723–1789) ist
eine sehr persönliche Äußerung
über das, was wir »Gott«
nennen, überliefert. In seinem 1770 erschienenen
Werk Système de la Nature schreibt er
(entnommen den 29
Thesen des Materialismus nach d'Holbachs "System der Natur"):
"Wenn ein Gott
existierte, wenn Gott ein vernünftiges, gerechtes, gutes Wesen
wäre: Was hätte ein tugendhafter Atheist zu
fürchten, der, während er im Augenblick des Todes
für immer zu entschlafen glaubt, sich einem Gott
gegenübergestellt sähe, den er zu seinen Lebzeiten
verkannt und missachtet hätte?
»O
Gott«, würde er sagen, »der du dich deinem
Kinde nicht gezeigt hast! Unvorstellbare Kraft, die ich nicht zu
entdecken vermochte! Verzeihe, wenn mein begrenzter Verstand dich nicht
hat erkennen können. Konnte ich denn dein spirituelles Wesen,
das meine Sinne der Erfahrung nicht unterwerfen konnten, mit ihrer
Hilfe ausfindig machen? Mein Geist konnte sich nicht der
Autorität einiger Menschen fügen, die über
dein Wesen ebenso wenig aufgeklärt waren wie ich und die sich
nur darin einig waren, mich herrisch aufzufordern, ihnen die Vernunft,
die du mir gegeben hattest, zu opfern. Aber – o Gott
– wenn du deine Geschöpfe liebst, so habe ich sie
ebenso geliebt wie du. Wenn dir die Tugend gefällt: Mein Herz
hat sie immer verehrt. Ich habe den Betrübten
getröstet. Niemals habe ich dem Armen das Seinige genommen.
Ich war gerecht, gut und mitfühlend«."
Der Philosoph und Religionskritiker Ludwig
Feuerbach (1804-1872) bestätigte die
Erkenntnis, zu der der griechische Philosoph Xenophanes von Kolophon
schon etwa 2300 Jahre vor ihm gelangt war (s. oben):
"Denn nicht Gott schuf den
Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel steht, sondern der
Mensch schuf, wie ich im Wesen
des Christentums zeigte, Gott nach seinem Bilde."
Der Theologe Franz
Overbeck (1837-1905) betrachtete gegen Ende seines Lebens den
"Gott des Christentums" auf satirisch-kritische Weise. Seine
unnachahmliche Würdigung ist dem aus seinem Nachlass
herausgegebenen Buch Christentum
und Kultur entnommen:
"Der Gott des Christentums ist der
Gott des Alten Testaments. In seiner reifen Jugend verkündeten
Himmel und Erde die Ehre dieses Gottes. Kein Wunder, dass er sich
allmählich zu einem Sultan auswuchs, der sich im Alter die
Zeit damit vertrieb, eine Vasensammlung anzulegen und die ihm
zusagenden Töpfe durch Aufnahme in die Sammlung zu
»ehren«, die anderen, die meisten, denn es gefielen
ihm wenige, zu zerschlagen. Diese Geschichte hat dieser Gott, wie alle
seinesgleichen die ihrige, nur in den Köpfen seiner Verehrer
erlebt. Man denke aber bei dieser Geschichte an die der vielen kleinen
Götter, die in den Köpfen der Menschen groß
werden, und was aus ihnen schließlich im Dunste des ihnen
gespendeten Weihrauchs werden mag."
Friedrich
Nietzsche (1844-1900), der mit dem Theologen
Franz Overbeck (s. o.) eng befreundet war, äußerte
sich im 18. Kapitel seines Buches Der
Antichrist über den "christlichen
Gottesbegriff":
"Der
christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als
Spinne, Gott als Geist – ist einer der korruptesten
Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt
vielleicht den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des
Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens
abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja
zu sein. In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die
Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des
»Diesseits«, für jede Lüge vom
»Jenseits«! In Gott das Nichts
vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!"
Dem Physiker Albert
Einstein (1879-1955), ebenso wie anderen großen
Wissenschaftlern, wurde und wird immer wieder eine besonder Beziehung
zu dem, was wir «Gott»
nennen, nachgesagt. Dies geschieht meist mit dem Hinweis,
dass diese großen Forscher bei ihrem Vorstoss in die Tiefen
der atomaren Strukturen unseres Kosmos ganz persönliche
"Gotteserfahrungen" gemacht hätten. Bei Albert Einstein wird
dies häufig festgemacht an dem Zitat "Gott würfelt
nicht". Es handelt sich um eine Verkürzung von Gedanken
Einsteins in einem Brief an seinen Physikerkollegen Max
Born (1882-1970) (s. hier). Das Einsteinsche
Gottesverständnis lässt sich daraus schwerlich
zweifelsfrei ableiten. Tatsächlich hat sich Einstein gegen das
in der Öffentlichkeit gezeichnete Bild seiner
"religiösen Überzeugungen" gewehrt. In einem Brief
vom 24. März 1954 schrieb er:
"Es war natürlich eine
Lüge, was Sie über meine religiösen
Überzeugungen gelesen haben, eine Lüge, die
systematisch wiederholt wird. Ich glaube nicht an einen
persönlichen Gott und ich habe dies niemals geleugnet, sondern
habe es deutlich ausgesprochen. Falls es in mir etwas gibt, das man
religiös nennen könnte, so ist es eine unbegrenzte
Bewunderung der Struktur der Welt, so weit sie unsere Wissenschaft
enthüllen kann."
In einem Brief, den er am 3. Januar
1954 an den Philosophen Eric Gutkind geschrieben hatte, sind weitere
kritische Anmerkungen zur Religion enthalten:
"Das Wort Gottes ist für
mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen,
die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger, aber doch reichlich
primitiver Legenden, welche doch ganz schön kindisch sind.
Keine Interpretation, wie feinsinnig sie auch sein mag, kann das
(für mich) ändern. [...]
Für mich ist die jüdische Religion wie jede andere
der Inbegriff des kindischsten Aberglaubens."
Anmerkung
Die vorausgehenden Einstein-Zitate fand ich hier.
Im Buch Woran glaubt ein Atheist?
des französischen Philosophen André Comte-Sponville
(*1952) stieß ich auf ein Zitat, dass zeigt, wie
souverän Einstein
auf eine sehr persönliche, naiv gestellte, Frage
reagierte:
"»Glauben
Sie an Gott, Herr Professor?« Auf diese Frage eines
Journalisten antwortete
Einstein ganz schlicht: »Sagen Sie mir erst, was Sie unter
Gott verstehen; dann
sage ich Ihnen, ob ich daran glaube.«"
Da über das, was wir
«Gott»
nennen nichts Konkretes oder Nachprüfbares ausgesagt
werden
kann, ist der Begriff seit jeher fantasievollen Spekulationen
ausgesetzt. Ein einheitliches Verständnis gibt es nicht. Das
konnte selbst durch die von der
"Offenbarungsreligion" Christentum verkündeten Dogmen nicht
erreicht werden. Daher war
diese nüchterne Reaktion für den Physiker Einstein wohl die
einzig plausible.
In seinem Buch Gott ist anders
zitiert der anglikanische Bischof A. T. Robinson (1919-1983) eine
Äußerung des englischen Biologen,
Philosophen und Schriftstellers Julian
Huxley (1887-1975):
»Die
Hypothese 'Gott' hat
heutzutage keinen Nutzwert mehr für die Erklärung der
Natur, sie steht nur allzu oft einer besseren und genaueren
Erklärung im Wege. Gott lässt sich heute eher mit
einem kosmischen Fabelwesen vergleichen als mit der Gestalt eines
Herrschers.
Für einen gebildeten
Menschen wird der Glaube an einen solchen Gott bald ebenso
unmöglich sein wie der Glaube daran, dass die Erde eine
Scheibe ist, dass Fliegen aus dem Nichts entstehen, dass Krankheit eine
göttliche Strafe ist oder dass der Tod etwas mit Zauberei zu
tun hat. Götter wird es allerdings immer geben, einmal, weil
ganz bestimmte Leute an ihnen interessiert sind, oder weil
träge Gemüter ihnen Unterkunft in ihrem Denken
gewähren, oder sie werden von Politikern als Werkzeuge
gebraucht oder sie dienen als Refugium für
unglückliche und einfältige Menschen.«
Erich Fromm
(1900-1980), der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker, Philosoph und
Sozialpsychologe, analysierte im Rahmen seines umfangreichen Werkes u.
a. die Entwicklung des Gottes- und des Menschenbildes im Verlaufe der
jüdischen Geschichte (s. hier).
Seine Gedanken regen dazu an über entsprechende Entwicklungen
im Christentum nachzudenken. Grundlage für das christliche
Gottesbild war schließlich der jüdische Monotheismus.
"Die
Entwicklung des Gottesbildes und des Menschenbildes beginnt im Alten
Testament mit einem autoritären Gott und einem gehorsamen
Menschen. Doch selbst in dieser autoritären Struktur sind die
Samen von Freiheit und Unabhängigkeit bereits zu finden. Von
allem Anfang an soll man Gott aus keinem anderen Grund gehorchen, als
dass man daran gehindert werden soll, Götzen zu gehorchen. Die
Verehrung des einen Gottes bedeutet die Negierung der Verehrung von
Menschen und Dingen.
In der
Entwicklung der biblischen und nachbiblischen Gedanken kann man
verfolgen, wie dieser Same sich weiter entwickelt. Gott, der
autoritäre Herrscher, wird zu einem konstitutionellen
Monarchen, der selbst an die von ihm verkündeten
Grundsätze gebunden ist. Aus dem anthropomorph geschilderten Gott
wird ein namenloser Gott und schließlich ein Gott, von dem
keine Wesensattribute auszusagen sind. Der Mensch wird aus einem
gehorsamen Diener zu einem freien Menschen, der seine Geschichte selbst
macht, ohne das Gott in sie eingreift, und der einzig geleitet wird von
der prophetischen Botschaft, die er entweder annehmen oder verwerfen
kann.
Der Möglichkeit, sich den Menschen unabhängig von
Gott vorzustellen, waren jedoch Grenzen gesetzt; das gleiche gilt
für die Möglichkeit, den Gottesbegriff selbst
völlig aufzugeben. Die alten Vorstellungen sind für
eine Religion, welche Formulierungen für ein einigendes
Prinzip und Symbol zu finden sucht, mit dem sie ihre Struktur
«zementieren» und ihre Gläubigen
zusammenhalten kann, nur natürlich. Daher vermochte die
jüdische Religion den letzten logischen Schritt nicht zu
vollziehen, «Gott» aufzugeben und ein neues Bild
vom Menschen zu errichten als einem Wesen, das auf dieser Welt allein
ist und sich trotzdem auf ihr zu Hause fühlen kann, wenn es
ihm gelingt, mit seinen Mitmenschen und mit der Natur zur Harmonie zu
gelangen."
Anmerkung
Hervorhebung im
vorausgehenden Zitat
stammt vom Autor der Site.
Bei Erich Fromm (1900-1980)
fand ich auch eine plausible Vorstellung von der Gefahr der
"Entfremdung des Menschen von seinen eigenen Kräften" (s. hier) durch den Glauben an das,
was wir «Gott»
nennen:
"Die Entfremdung von
seinen eigenen Kräften gibt dem Menschen nicht nur das
Gefühl sklavischer Abhängigkeit von Gott; sie macht
ihn sogar schlecht. Er wird ein Wesen ohne Glauben an seine Mitmenschen
oder an sich selbst, ohne Erfahrung seiner eigenen Liebeskraft und
seines eigenen Vernunftvermögens. Die Folge ist die Trennung
zwischen dem «Heiligen» und dem
«Weltlichen». In seinem weltlichen Tun handelt der
Mensch ohne Liebe; in jenem Bezirk seines Lebens, der der Religion
vorbehalten ist, fühlt er sich als Sünder (der er
auch ist, denn ohne Liebe leben heißt in Sünde
leben) und versucht, etwas von seiner verlorenen Menschlichkeit durch
die Gottbeziehung zurück zu gewinnen. Gleichzeitig
müht er sich um Vergebung, indem er seine eigene Hilflosigkeit
und Unwürdigkeit bekennt. So artet sein Streben, Vergebung zu
erwerben, gerade in jene Haltung aus, aus der die Sünde
stammt. Er ist in ein schmerzliches Dilemma geraten. Je mehr er Gott
preist, desto leerer wird er. Je leerer er wird, desto
sündiger fühlt er sich. Und je sündiger er
sich fühlt, desto mehr preist er seinen Gott – und
desto weniger ist er imstande, zu sich selbst zurückzufinden."
Im Kapitel Das
Christentum oder die Verewigung einer frühen Theologie
seines Buches Die
Zukunft des Unglaubens schreibt der Philosoph und
Schriftsteller Gerhard
Szczesny (1918-2002):
"Die Läuterung des
zornigen und gewalttätigen Stammesgottes der Juden zum milden
Patriarchen und Vater der Christen ändert nichts am
Grund-Wesenszug dieses Gottes. Er ist und bleibt ein
außerhalb des Weltzusammenhanges beheimateter Dämon,
dessen unerforschliche Entscheidungen den Menschen an seine Nichtigkeit
erinnern. Da aber die Völker ihre Religionen nicht erdenken,
um sich ihrer Verlorenheit zu vergewissern, sondern um der Ohnmacht und
dem Elend ihrer Existenz zu entkommen, musste zwischen dem
unbegreiflichen Herrscher-Gott und den Angehörigen des von ihm
auserwählten Volkes die Möglichkeit einer
Kommunikation gefunden werden. Gott wurde der Wille zugeschrieben, sich
einzelnen, besonders begnadeten Menschen gelegentlich aus unbekannten
Gründen und unter mysteriösen Umständen
kundzutun."
Die katholische Theologin Uta
Ranke-Heinemann (*1927) kritisiert in ihrem Buch Nein und Amen
die Überschreitung naturgegebener Grenzen menschlicher
Vernunft und Erkenntnisfähigkeit bei der dogmatischen
Fixierung des christlichen Gottesbildes. Sie beschreibt ihre Sicht so:
"»Das, was
man von Gott erkennen kann [...], ... wird seit Erschaffung der Welt an
den Werken der Schöpfung durch das Denken
wahrgenommen«, sagen also die Christen selbst, weil es in
ihrer Bibel steht. Aber sie halten sich nicht daran. Den Christen
genügt solche Gotteserkenntnis nicht. Sie wollen mehr von Gott
erkennen, als man von Gott erkennen kann. Sie wollen nicht die
gottgegebenen Naturgesetze denkend wahrnehmen, sondern an Wunder
glauben. Darum errichten sie ihr christliches
Märchengebäude und schauen sogar hinter das Universum
direkt auf Gott selbst, ja sogar in Gott hinein (Dreifaltigkeit).
Jedenfalls behaupten sie, das zu können, dank ihrer
christlichen Sonderoffenbarung.
Nun darf zwar jeder Mensch so viel fantasieren wie er will. Aber er
darf nicht sein Phantombild Gottes allen anderen Menschen
aufdrängen."
Der
ehemalige katholische Priester und Hochschullehrer Peter
de Rosa (*1932)
befasste sich u. a. mit dem Gottesverständnis des "modernen
Menschen" und mit dem "Reden über Gott":
"Was Nietzsche mit prophetischer
Deutlichkeit sah, war, dass die Welt, wie sie gegenwärtig
verstanden wird, den modernen Menschen daran hindert, an den Gott der
Vergangenheit zu glauben. Im vorwissenschaftlichen Zeitalter war es
möglich, an einen Gott zu glauben, der sich auf Gebete oder
die Bedürfnisse seiner Gläubigen hin einmischte. Doch
das ist vorbei. »Dass kleine Mucker und
Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, dass um
ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen
werden – eine solche Steigerung jeder Art von Selbstsucht ins
Unendliche, ins Unverschämte kann man
nicht mit genug Verachtung brandmarken.« (Antichrist, 43.).
[…]
Unser Ziel ist
nicht, das Reden über Gott abzuschaffen, sondern seine
Unzulänglichkeit bewusst zu machen und seine Eignung anhand
seiner Fähigkeit zu beurteilen, uns mit unseren Mitmenschen
und dem Universum in Harmonie zu bringen.
Es gibt zum Beispiel einen tiefen
moralischen Aspekt im Gottesglauben. Grausamkeit, Gier, Mord,
Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und so fort spiegeln Gott nicht, denn
sie sind nicht in Harmonie mit dem Universum; sie zerstören
unser Zuhause und unsere Beziehungen zueinander."
Der katholische Theologe und
Kirchenkritiker Horst
Herrmann (1940-2017) beteiligte sich an dem von Karlheinz Deschner (1924-2014) herausgegebenen
Buch Woran ich
glaube. In seinem Beitrag wird u. a. sein
Gottesverständnis deutlich. Darüber hinaus bringt er
darin die Hoffnung auf einen veränderten Umgang mit dem, was
wir «Gott» nennen, zum Ausdruck:
"Ich hoffe, dass der
willfährig gottlose Gott, den sich die Kleriker gehalten
haben, nicht mehr als Möglichkeit zur Befreiung des Menschen
ausgegeben werden kann. Von einem solchen Gott kommt keine Freiheit. Er
ist, selbst Schöpfung aus Angst, Mit-Schöpfer
erniedrigender Angst unter den Menschen."
Schlussbemerkungen
»Ebenbildlichkeit«
von «Gott» und dem Menschen?
Ein weiteres Wort von Erich Fromm (1900-1980)
über das was wir «Gott»
nennen empfinde ich, auf dem Weg zur eigenen
Positionsbestimmung, als sehr hilfreich:
"«Gott»
ist für mich eine der vielen poetischen Ausdrucksweisen
für den höchsten Wert im Humanismus und keine
Realität an sich."
Nicht zuletzt dieser Gedanke Erich
Fromms lässt mir jenen, im organisierten Christentum, immer
noch weit verbreiteten infantilen Glauben an die "Ebenbildlichkeit" von
«Gott» und dem Menschen als völlig
absurd erscheinen. Diese aus der jüdischen
Mythologie, einer längst vergangenen archaischen Zeit,
übernommene Vorstellung war mitverantwortlich für die
Herausbildung der Illusion, der Mensch stünde im Zentrum des
Universums und könne über alles um ihn herum nach
Gutdünken verfügen – eine wahnwitzige
christliche Glaubensmeinung von dogmatischem Rang und mit
katastrophalen Folgen.
Dieses infantile anthropozentrische Weltbild ist in
Verbindung mit den nicht weniger infantilen christlichen
Erwähltheitsfantasien ganz wesentlich mitverantwortlich
für den egoistischen, rücksichtslosen Umgang des
Menschen mit seinen Mitgeschöpfen und mit den begrenzten
Ressourcen der Erde. Um den längst absehbaren verheerenden
Folgen dieses Verhaltens für die Zukunft der Natur und der
Menschheit entgegenzuwirken, bedarf es dringend eines grundlegenden
Wandels des kollektiven Bewusstseins oder anders ausgedrückt:
eines umfassenden Paradigmenwechsels.
In Gedanken Erich
Fromms findet sich so etwas wie eine Vision von diesem
überlebenswichtigen Paradigmenwechsel. Diese Vision taucht bei
ihm auf im Zusammenhang mit der Beschreibung der Entwicklungsgeschichte
des jüdischen Gottesbildes (s. oben).
M. E. lässt sich aus seinen Worten eine plausible
Handlungsempfehlung ableiten für den unabdingbaren
Paradigmenwechsel. Diese Empfehlung bedeutet nicht weniger als
"[...], «Gott»
aufzugeben und ein neues Bild vom Menschen zu errichten als einem
Wesen, das auf dieser Welt allein ist und sich trotzdem auf ihr zu
Hause fühlen kann, wenn es ihm gelingt, mit seinen Mitmenschen
und mit der Natur zur Harmonie zu gelangen."
Anmerkungen
- Ein Kuriosum am Rande: die persönliche
Glaubensmeinung des "Apostels" Paulus zur "Gottebenbildlichkeit". (s. hier)
- Ein weiteres Argument gegen die
Gottebenbildlichkeit: s. oben
Abschied
Ich habe nichts gefunden, womit dieses Kapitel angemessener beendet
werden könnte, als mit den letzten Sätzen aus dem
Buch Gottesvergiftung
des Psychoanalytikers Tilmann
Moser (*1938). In Ihnen kommt eine Haltung zum Ausdruck, zu
der Moser nach sehr schmerzhaften persönlichen Erfahrungen
gelangt war. Mich beeindrucken insbesondere seine nüchterne,
aufgeklärte und überzeugende Art und Weise, mit der
er vom tradierten Gottesverständnis Abschied nimmt, sowie sein
optimistischer Blick in die Zukunft, in eine Zukunft ohne
"Krücke":
"Aber ich wollte dir
ja sagen, inwieweit du, die große Krankheit, auch dein Gutes
gehabt hast: Dich überstanden zu haben gibt mir
Selbstbewusstsein; von der riesigen Krücke nicht erschlagen
worden zu sein, ein Gefühl von Kraft. Zutrauen werde ich nie
mehr zu dir haben können. Aber ich weiß auch, dass
du anderen freundlicher begegnet bist. Soweit sie dich brauchen, um
nicht noch mehr zu leiden, werde ich nicht gegen
dich sprechen. Es genügt mir, dass ich
dich nicht mehr brauche. Wie viel Gewicht dir andere belassen wollen,
darin will ich ihnen nicht dreinreden.
Aber was wird an deine
Stelle treten, die riesigen Leerstellen füllen, wo du dich
ausgebreitet hattest? Nicht alle müssen gefüllt
werden. Das Haus kann schrumpfen, es war unnötig
groß. Und was du für dich an wunderbaren
Eigenschaften gepachtet hattest, werde ich bei den Menschen
wiederfinden. Wenn ich in manche Gesichter sehe, empfinde ich keinen
Verlust mehr, und menschliche Gesichter werden deines ersetzen, weil
deines unmenschlich war. Meine Augen lernen sehen, seit du mir nicht
mehr den Horizont verdunkelst."
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