Jesus
Inhalt
Vorbemerkungen
Jesus
– Jesus
Christus – Christus: Drei
Namen, die von den meisten Christen synonym, je nach eigenem Geschmack,
für ihren (vermeintlichen) Religionsstifter benutzt werden.
Eine etwas genauere Betrachtung führt allerdings zu einer
deutlichen Unterscheidung. Der ursprüngliche jüdische
Name Jesus
bezeichnet den "historischen Jesus", d. h. einen Menschen, der
– wahrscheinlich – vor rund 2000 Jahren im
spätantiken Palästina geboren wurde und dort im Alter
von ungefähr 30 Jahren einem politischen Mord zum Opfer fiel. Jesus Christus und Christus sind die
Bezeichnungen für eine "mythische Person" (Martin
Dibelius) bzw. für den neuen
"christlichen Gott", also für eine von den frühen
Christen geformte "Kunstfigur" (Hubertus Halbfas)
antik-hellenistischen Zuschnitts.
Der Umfang der über den
Menschen Jesus
verfügbaren historischen Fakten ist außerordentlich
dürftig. Daher lässt sich m. E. mit Fug und Recht
sagen: Jesus
ist "der große Unbekannte des Christentums" (Uta Ranke-Heinemann). Andererseits
kann kaum bezweifelt werden, dass in den überlieferten, zwar
weitgehend der Fantasie der frühen Christen entsprungenen,
mythischen Texten dennoch hier und da "die Spur eines wirklichen
Menschen" (Peter de Rosa) zu finden oder
zumindest zu erahnen ist.
Unter den mir bisher ansatzweise
bekannten Umständen ist es unvermeidlich, dass die
"Kunstfigur" Christus
in den folgenden Abschnitten die Hauptrolle spielen wird.
Wie unter den anderen
Menüpunkten dieser Website, wird auch hier nur eine begrenzte
Zahl von subjektiv ausgewählten Teilaspekten beleuchtet. Neben
historischen und exegetischen
Fragen wird die eine oder andere, mir als irrational erscheinende,
theologische Glaubensmeinung über die "Kunstfigur" Christus
angesprochen.
Die subjektiv getroffene Auswahl führt
zwangsläufig dazu, dass ich im Folgenden auf einige, mir besonders
widersinnig erscheinende, christliche Glaubensinhalte mit
übernatürlichem Charakter, wie "Jungfrauengeburt",
"Auferstehung", "Himmelfahrt", "Menschwerdung Gottes in Christus" (lat.
Inkarnation)
und andere nicht näher eingehen werde. M. E. brächte ihre
kritische Analyse auch keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn.
Zwei
christliche Glaubensvorstellungen, zwar ebenfalls von mythischen und
übernatürlichen Elementen durchsetzt, werden wegen
ihrer zentralen Bedeutung für die christliche Religion im
Folgenden dennoch etwas eingehender betrachtet: Die "Nah-Erwartung
des Reiches Gottes" bzw. die Erwartung des (wieder-)kommenden
«Herrn» und die "Heilsbedeutung" des
"Sühnetodes Christi".
Die Frage
nach der Geschichtlichkeit Jesu – hat Jesus gelebt?
Es hat wohl während der
ganzen Geschichte des Christentums immer einzelne eigenständig
denkende Menschen gegeben, die daran zweifelten, dass die Texte des
Neuen Testaments, insbesondere die vier Evangelien, historisch
verlässliche Fakten enthielten. Seit der
Frühaufklärung, um die Wende vom 17. zum 18.
Jahrhundert, wuchs die Zahl der "aufgeklärten" Menschen, die
sich kritisch äußerten. Es ist kaum
überraschend, dass im Zuge dieser Kritik auch die
Geschichtlichkeit Jesu, der Hauptperson dieser Schriften, in Zweifel
gezogen wurde.
Es traten dann im 19. Jahrhundert
und bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts namhafte
Theologen und Gelehrte in Deutschland und Frankreich sowie in anderen
Ländern Europas auf, die ihre begründeten Zweifel
vortrugen oder die Geschichtlichkeit Jesu sogar radikal leugneten. Wer
sich hierüber detaillierter informieren möchte, sei
auf die ersten Seiten der "Kritischen
Kirchengeschichte" des literatur- und kirchenkritischen Schriftstellers Karlheinz Deschner (1924-2014) oder
auf entsprechende Abschnitte der Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung von Albert Schweitzer (1875-1965)
verwiesen.
Gründe
für die Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu
Die
Gründe für die Zweifel an der historischen Existenz
Jesu ergaben sich u. a. aus der Tatsache, dass Paulus, der Verfasser
der ältesten Schriften im Neuen
Testament, kaum etwas Nennenswertes über das Leben Jesu
berichtet. Entweder gab es nichts Konkretes darüber zu
berichten oder es hat ihn nicht interessiert.
Was
die Zweifel aber wohl noch eher förderte, war der Umstand,
dass es, über die neutestamentlichen Schriften
hinaus, keine beweiskräftigen Zeugnisse
zeitgenössischer Historiker gab. Besonders erstaunlich ist
dabei, dass sich nicht nur bei den römischen, sondern
insbesondere auch bei den jüdischen Historikern nichts
über Jesus findet. Die Schriften des bekannten
jüdischen Historikers Flavius Josephus (37/38-nach 100),
der Johannes den Täufer, Pilatus und Herodes erwähnt,
enthalten zwar auch eine Passage über Jesus, in der seine
Wundertaten und seine Auferstehung bezeugt sind. Diese wurde jedoch
längst als christliche Fälschung entlarvt.
Wahrscheinlich ist sie erst im 3. Jahrhundert eingefügt
worden.
Karlheinz Deschner zieht folgendes
Fazit:
"Es spricht also manches
dafür, dass Jesu Wirkung auf seine Umgebung geringer war als
wir glauben. […]
Schon den antiken Christen
erschien Jesu historische Bezeugung derart dürftig, dass sie
ein Schreiben von ihm an den König
Abgar Ukhama von Edessa (4 v.- 50 n. Chr.), einen Brief des Pilatus an Kaiser
Tiberius und andere ähnliche Produktionen
fälschten."
Christliche Theologie interessiert
sich nicht für den historischen Jesus
Bei keinem der Verfasser der im NT gesammelten Schriften lässt
sich ein Interesse an historisch korrekten Informationen über
den Menschen Jesus erkennen. Berücksichtigt man entsprechende
Tendenzen in der damaligen Gesellschaft, so erscheint es als nicht
sonderlich ungewöhnlich, dass sich die unterschiedlichen
Schreiber stattdessen einem Mythos, dem Mythos vom Gottmenschen
Christus, verschrieben.
Die Transformation des Menschen
Jesus zur Kunstfigur Christus beginnt bei Paulus. Sie setzt sich fort
über die drei synoptischen Evangelien und erreicht ihren
Höhepunkt im Johannesevangelium, in dem Christus
schließlich gleichgesetzt wird mit dem präexistenten
»Logos« (s. auch hier). Dieser Prozess der
Vergottung des Menschen Jesu war eine Folge der Konkurrenz zwischen den
diversen antik-hellenistischen Religionen bzw. Mysterienkulten, in
denen die Auffassung vorherrschte, dass nur
«Götter» den Menschen die
»Erlösung« bzw. das
»Heil« bringen konnten. Das frühe
Christentum war nichts anderes als ein Mysterienkult unter anderen.
Die Vertreter der jeweils
tonangebenden Theologie haben über alle Zeiten hinweg bis in
unsere Tage Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu nie zugelassen. Sie
haben sich für den Menschen Jesus dennoch nicht interessiert.
Ein Theologe aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sei hier
exemplarisch angeführt, mit dessen Glaubensmeinungen sich m.
E. viele Theologen von heute, ohne jede geistige Verrenkung, noch immer
identifizieren könnten. Es ist der Theologe Martin Kähler
(1835-1912). Er hielt 1892 einen Vortrag mit dem Titel Der sogenannte historische Jesus und
der geschichtliche biblische Christus. Darin sagt
er:
"Der sogenannte historische Jesus
ist für die Wissenschaft nach dem Maßstabe moderner
Biografie ein unlösbares Problem; denn die vorhandenen Quellen
reichen nicht aus und die ersetzende Kunst ist diesem Problem nicht
gewachsen."
Er gibt an anderer Stelle mehr als
deutlich zu erkennen, dass sich für ihn
persönlich daraus jedoch kein
Problem ergibt. Er bekennt:
"Ich sehe diese ganze
»Leben-Jesu-Bewegung« für einen Holzweg
an."
Kähler stellt dann seine
Überzeugung bzw. seinen Glauben in
typischer, ganz und gar unkritischer, Denkungsart und Sprache der
Theologie dagegen:
"Der geschichtliche Christus ist
der geglaubte und gepredigte Christus, das Fleisch gewordene Wort."
Und er setzt noch eins drauf:
"Der biblische und also auch der
geschichtliche Christus ist der offenbare Gott in seiner
erlösenden Handlung."
Die Fantasie Kählers war
damit durchaus noch nicht erschöpft. Ihren "Gipfel" erklomm
sie dann mit der Feststellung:
"Christus als die
Selbstoffenbarung Gottes ist nie zu trennen von der Geschichte, deren
Gipfel er ist."
Das ist natürlich eine
typische Glaubensmeinung aus dem theologischen Denk-Getto, aus einer
Sphäre also, in der weder "gerader Menschenverstand" (Franz Overbeck) noch
intellektuelle Redlichkeit eine wesentliche Rolle spielen. Und ein
Maßstab, wie er sich z. B. in einem Wort des
niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga (1872-1945) findet,
lässt sich schon gar nicht anlegen:
"Geschichte ist die geistige Form,
in der sich Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt."
Nicht
Jesus, sondern Christus – die Hierarchie setzt auf den
Placeboeffekt
Erich
Fromm (1900-1980) reflektierte in seinem Essay Das Christusdogma
sozialpsychologische Aspekte der Entwicklung des frühen
Christentums. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf der Rolle, die Jesus
bzw. Christus dabei spielte, bzw. auf der Rolle, die dieser zentralen
Gestalt von den führenden Köpfen der neuen Religion
zugewiesen wurde. Fromm machte deutlich, dass der Gallionsfigur des
Christentums im Rahmen der Überlieferung eine entscheidende
Wandlung widerfuhr: "Aus dem zum Gott gewordenen Menschen wird der
Mensch gewordene Gott." Parallel dazu verlief eine ebenso bedeutende
Wandlung der Religion in enger Wechselbeziehung mit der Gesellschaft:
Aus der Religion "der untersten unterdrückten Schichten" wurde
eine Religion "der Führer und Geführten zugleich" und
zwar "unter der Führung der herrschenden Klasse" (mehr s. hier).
Für die beiden, sich
gegenseitig bedingenden, Wandlungen war die hier diskutierte Frage nach
der Geschichtlichkeit Jesu ohne Belang. Erich Fromm bestätigt
dies vom Standpunkt der Sozialpsychologie lapidar (s. Fußnote auf S. 37):
"Das Problem der
Historizität Jesu braucht uns in diesem Zusammenhang nicht zu
beschäftigen. Selbst wenn die urchristliche
Verkündigung das Werk einer einzelnen Persönlichkeit
gewesen wäre, so ist die Tatsache ihrer gesellschaftlichen
Wirkung nur aus der Klasse, an die diese Verkündigung
gerichtet war und von der sie aufgenommen wurde, zu verstehen, und nur
das Verständnis von deren psychischer Situation ist
für uns hier wichtig. Es ist dabei gleichgültig, ob
sie sich eine reale Persönlichkeit, die ihren
Wünschen entspricht, zum Führer wählt, oder
das Bild eines Führers, wie sie ihn sich wünscht,
fantasiert."
Am Beispiel des Christentums stellt
Fromm also fest, dass es für die jeweiligen Gläubigen
einer Religion gleichgültig ist, ob der Gegenstand ihres
Glaubens eine reale Persönlichkeit oder ein entsprechendes,
nur in ihrer Fantasie existierendes, Bild ist. Die Wirkung auf die
"psychische Situation" der Gläubigen ist dieselbe. Nach dieser
Erkenntnis kann ebenso lapidar gesagt werden: In der Medizin bezeichnet
man das analoge Phänomen schlicht als Placeboeffekt.
Albert Schweitzer stellt eine
"religionsphilosophische Frage"
Ein namhafter Theologe, dem "intellektuelle Redlichkeit", zumindest in
seinen wissenschaftlichen Studien, m. E. nicht
abgesprochen werden kann, war Albert Schweitzer (1875-1965).
Dies ist in seiner 1906 erschienenen umfangreichen Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung spürbar. Er
äußert darin erstaunliche Gedanken und
bürstet dabei gegen den gewohnten theologischen "Strich". Im
Abschnitt, in dem er sich mit den radikalen Leugnern, u. a. mit dem
Philosophen Arthur Drews (1865-1935), und mit
den theologischen Verteidigern der Geschichtlichkeit Jesu befasst, kann
man Folgendes lesen (s. S. 512/513):
"Darum geht etwas wie ein Misston
durch all dieses zuversichtliche Widerlegen hindurch. Es wirkt
niederdrückend, dass die Theologie ihre geschichtliche
Behauptung auf Leben und Tod verteidigen muss, weil davon ihre Religion
abhängt.
Dazu kommt, dass vom Standpunkt
des strengen wissenschaftlichen Denkens aus sowohl die positive wie die
negative Ansicht überhaupt nicht auf zwingende Art zu beweisen
sind. Im letzten Grunde bleibt jede geschichtliche Behauptung, die sich
auf vergangene, von uns nicht mehr direkt nachzuprüfende
Zeugnisse stützen muss, eine Hypothese. […]
Darum ist die
religionsphilosophische Frage viel wichtiger als alles geschichtliche
Beweisen und Widerlegen. Das moderne Christentum muss von vornherein
und immer mit der Möglichkeit einer eventuellen Preisgabe der
Geschichtlichkeit Jesu rechnen. Es darf also seine Bedeutung nicht
künstlich dahin steigern, dass es alle Erkenntnis auf ihn
zurückführt und die Religion
»christozentrisch« ausbaut. Der Herr kann immer nur
ein Element der Religion sein; nie aber darf er als Fundament
ausgegeben werden.
Anders ausgedrückt: Die
Religion muss über eine Metaphysik, das heißt eine
Grundanschauung über das Wesen und die Bedeutung des Seins,
verfügen, die von Geschichte und überlieferten
Erkenntnissen vollständig unabhängig ist und in jedem
Augenblick und in jedem religiösen Subjekt neu geschaffen
werden kann. Besitzt sie dieses Unmittelbare und Unverlierbare nicht,
so ist sie Sklave der Geschichte und muss sich in knechtischem Geiste
fortwährend gefährdet und bedroht sehen."
Im
Kapitel 25 Schlussbetrachtung formuliert
Schweitzer folgendes Fazit seiner umfangreichen Forschungen:
"Der Jesus von
Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches
verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werk die
Weihe zu geben, hat nie existiert. Er ist
eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von
der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde." (S. 620)
Anmerkungen
- Hervorhebung stammt vom Autor der Site.
-
'Er'
am Beginn des zweiten Satzes ist eine Korrektur vom Autor der Site. Im Text der vorliegenden Ausgabe der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung steht, wohl
versehentlich, 'Sie'.
Vorstellbar
ist, dass Albert Schweitzer aus seinen Forschungen folgende, sich aus meiner
Sicht geradezu aufdrängende, Schlussfolgerung hätte ziehen können: sich vom Christentum zu verabschieden.
Tatsächlich hat er dies nicht getan. Das war ihm, den ich für einen der größten
christlichen Humanisten in der europäischen Geschichte halte, das war dieser
Ausnahmepersönlichkeit offenbar nicht möglich. Ich finde dies außerordentlich
erstaunlich. Denn mit seiner vernichtenden
Kritik entlarvte er die von Theologen entwickelte Vorstellung von der Zentralfigur christlichen Glaubens als pures
Fantasieprodukt.
Er war offenbar nicht im
Stande das theologische Denkgetto (s.
hier) zu verlassen. Stattdessen baute er sich innerhalb dieses Denkgebäudes
sein privates Refugium. Abweichend von seiner sonst eher klaren Denk- und
Ausdrucksweise, beschreibt er die darin gewonnenen Einsichten eher
"verschwurbelt":
"Im letzten
Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. Keine Persönlichkeit der
Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtung oder durch Erwägungen über
ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden.
Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines
gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung
und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr
wiederfinden. In diesem Sinne ist überhaupt jedes tiefere Verhältnis zwischen
Menschen mystischer Art. Unsere Religion, insoweit sie sich als spezifisch
christlich erweist, ist also nicht so sehr Jesuskult als Jesusmystik.
Nur so schafft Jesus
auch Gemeinschaft unter uns. Er tut es nicht als Symbol oder irgendetwas Derartiges.
Sofern wir untereinander und mit ihm eines Willens sind, das Reich Gottes über
alles zu stellen, um diesem Glauben und Hoffen zu dienen, ist Gemeinschaft
zwischen ihm und uns und den Menschen aller Geschlechter, die in demselben
Gedanken lebten und leben. (S. 629)
[…]
Als ein Unbekannter
und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die
nicht wussten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir
nach! Und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet.
Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich
offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen
und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie
erfahren, wer er ist …" (S. 630 /
die letzten Zeilen der letzten Seite)
Ich
finde es außerordentlich bedauerlich, dass der kritische Geist Albert
Schweitzer den möglichen Schritt vom christlichen Humanisten zum säkularen
Humanisten nicht ging. Er, der im Hauptteil seines Buches so rational verfuhr, verfing
sich am Ende seiner Schlussbetrachtung
im Netz irrationaler theologischer Fantasien …
Annahme der Existenz des
"historischen Jesu"
Wie aus den bisherigen Überlegungen deutlich wurde, ist die
Geschichtlichkeit Jesu für die Glaubenspraxis des
organisierten Christentums ohne jede Bedeutung. Dennoch halte ich es
für sinnvoll und notwendig, eine Antwort auf die Frage nach
der realen Existenz des Menschen Jesu zu suchen, zumal dann, wenn es
der Anspruch an intellektuelle Redlichkeit unmöglich macht,
einer Kunstfigur auch nur den geringsten Einfluss auf das eigene
Bewusstsein zuzugestehen.
Da – bis auf weiteres
– wohl keine der gegensätzlichen Positionen in der
Lage sein wird, überzeugende Beweise vorzulegen, neige ich dem
pragmatischen Ansatz zu, der Position mit der etwas
größeren Wahrscheinlichkeit den Vorzug zu geben. Der
Grad der angenommenen Wahrscheinlichkeit stützt sich
insbesondere auf die Ergebnisse der Analyse von Jesus-Worten und -taten
in den überlieferten Texten des NT. Theologen haben
Prüfkriterien entwickelt, mit deren Hilfe es möglich
wurde, eher "echte" von eher "unechten" Jesus-Worten und -taten zu
unterscheiden. Nach Auffassung des Theologen Gerd Lüdemann (*1946)
lässt sich insbesondere daraus die Wahrscheinlichkeit
der historischen Existenz Jesu herleiten:
"Der
entscheidende Grund dafür, die historische Existenz Jesu
anzunehmen, ergibt sich aus der Einzelanalyse der
vorhandenen Jesus-Texte selbst. Sie hat nicht nur die meisten von ihnen
als unecht, sondern auch einen überschaubaren Kern als echt
erwiesen. Im Zug der Analyse schälten sich Methoden heraus,
authentische und nichtauthentische Texte voneinander zu trennen."
Anmerkung
Diese Feststellung stammt aus dem Reader zu einem
Workshop Lüdemanns mit dem Thema Hat Jesus gelebt?.
Dieser Workshop fand am 31.05.2008 in Göttingen statt.
Der folgende Abschnitt befasst sich
etwas ausführlicher mit echten und unechten Jesusworten und
-taten.
Echte und
unechte Worte und Taten Jesu
Es entspricht der langen Tradition
des organisierten Christentums, alle "Worte Jesu" immer so zu zitieren,
als habe er sie selber gesprochen. Damit wird den Zuhörern
oder Lesern suggeriert, dass es sich um authentische Aussagen des
historischen Jesus handele. Analog wird mit den Jesus zugeschriebenen
(Wunder-)Taten verfahren. Korrekt wäre es, stets darauf
hinzuweisen, dass ihm die Mehrzahl dieser Worte und Taten von den
spätantiken Schreibern, Abschreibern, Nacherzählern
oder Dichtern der neutestamentlichen Texte in den Mund gelegt bzw.
zugeschrieben worden sind.
Wie schon im vorausgehenden Kapitel
erwähnt, haben "historisch-kritische" Theologen durch eine
detaillierte Analyse der Texte gezeigt, dass zwischen den vielen
unechten und den wahrscheinlich echten Worten und
Taten Jesu unterschieden werden kann. Die Worte und Taten Jesu, die
für diese Analyse in Frage kommen, sind im Wesentlichen in den
ersten vier Büchern des NT, also in den Evangelien zu finden,
die die Namen der möglichen, uns jedoch völlig
unbekannten, Urheber Matthäus, Markus, Lukas und Johannes
tragen.
Im Folgenden wird die
Echtheits-/Unechtheits-Problematik in der christlichen
Überlieferung eher stichwortartig und mit wenigen Beispielen
angerissen. Für weitergehende Informationen sei hier auf die
Bücher der Theologen Herbert
Braun und Gerd
Lüdemann verwiesen.
Echt oder unecht –
für die frühen Christen ohne Bedeutung
Der evangelische Theologe Herbert Braun (1903-1991), der in
den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts an der
Universität Mainz Neues Testament lehrte und manchem seiner
Kollegen als »Ketzer« galt, hat sich in seinem Buch
Jesus –
der Mann aus Nazareth und seine Zeit sehr
gewissenhaft mit der hier angesprochenen Problematik
auseinandergesetzt. Er weist auf zweierlei hin:
- "… die einzelnen
Evangelisten haben deutlich umrissene theologische Absichten und
Zielsetzungen, die sie dem mündlich oder schriftlich ihnen
überlieferten Stoff aufprägen; das heißt,
sie lassen Jesus in einer ihrer theologischen Überzeugung
gemäßen Weise reden."
- "Die christliche Gemeinde war,
bis in den Anfang des zweiten Jahrhunderts hinein, von der
Überzeugung getragen, vom heiligen Geist spezielle
Sprüche und Worte als Weisungen zu empfangen. […]
Der urchristliche, im Geist redende Prophet sagt also Worte des
erhöhten Herrn."
Die
unter 2. angesprochene Quelle von,
höchstwahrscheinlich, unechten
Jesus-Worten und -Taten wird in der theologischen Literatur, zur
Unterscheidung von älterer Überlieferung, auch als
"Gemeindebildung" bezeichnet. In dem so bezeichneten Prozess war der
historische Jesus längst verblasst, es wirkte darin
ausschließlich die erdachte Gestalt des "erhöhten
Herrn", d. h. des Gottmenschen Christus.
Herbert Braun identifiziert
darüber hinaus die "urchristliche Grundeinstellung" als
wesentlichen Grund dafür, dass wir es heute mit echten
und unechten Worten und Taten Jesu zu tun haben:
"Da es den ersten Christen aber
auf den Inhalt der Worte ankam, machten sie keinen Unterschied zwischen
Worten, die wirklich von dem geschichtlichen Jesus gesprochen wurden,
und zwischen solchen Worten, die ein christlicher Prophet in einer
konkreten Lage als Sprüche Jesu zu Gehör brachte. So
werden wir uns nicht wundern, dass von dieser urchristlichen
Grundeinstellung her in der Tradition in beträchtlichem
Umfange Worte als Jesusworte überliefert werden, die auf diese
zweite Quelle, den im Geist sprechenden urchristlichen Propheten,
zurückgehen. Die so von einem christlichen Propheten
vorgebrachten »Worte Jesu« mögen die
Grundeinstellung Jesu angemessen wiedergeben. Für uns aber,
die wir hier nach dem fragen, was der geschichtliche Jesus wirklich
gesagt hat, müssen sie als »unecht«
gelten. Das ist kein Werturteil; es ist eine historische Feststellung."
Anhand Jesu »Gebot der
Feindesliebe« (s. Mt 5,44) zeigt Herbert Braun beispielhaft
auf, welches Kriterium für dessen Echtheits- oder
Unechtheits-Nachweis in Frage kommt: Ein Jesuswort ist wahrscheinlich
echt, wenn es "jüdischem Denken widerspricht". Er
führt weiter aus:
"Hier ist mit großer
Wahrscheinlichkeit die Annahme gerechtfertigt, dass wir in solch einem
Spruch der Tradition ein Wort aus dem Munde Jesu, ein echtes Jesuswort
vor uns haben. Ich sagte: »mit großer
Wahrscheinlichkeit«. Denn ausgeschlossen ist es auch in
diesem Falle nicht, dass ein judenchristlicher Überlieferer
die Art Jesu gut begriffen, aber den Spruch gleichwohl selber
formuliert hat; dass solch ein Wort zwar typisch für Jesus,
aber trotzdem – was die Formulierung anlangt –
unecht ist. Ich hoffe die Situation der Forschung ist aus alledem dem
Leser grundsätzlich klar geworden: eine absolute Sicherheit
gibt es nicht; aber bei entsprechender Vorsicht kann das Urteil einen
mehr oder minder hohen Grad der Wahrscheinlichkeit erreichen."
Es spricht für die
intellektuelle Redlichkeit Herbert Brauns, dass er ganz
unmissverständlich klarstellt: "Eine absolute Sicherheit gibt
es nicht". Daraus leitet sich m. E. die große Verantwortung
für alle Theologen ab, die sich mit der Interpretation von
Jesus-Worten und -Taten befassen. Nach meiner Erfahrung sind sich
insbesondere die Theologen auf den Kanzeln dieser Verantwortung kaum
bewusst. Sie gehen in ihren Predigten sehr unbekümmert, um
nicht zu sagen: leichtfertig, mit den einschlägigen
Textpassagen aus dem Neuen Testament um.
"Schöpferische
Produktivität der Gemeinde"
Aus den bisherigen Betrachtungen ist schon deutlich geworden, dass die
ursprünglichen Evangelientexte, im Rahmen eines Prozesses, der
mit dem Begriff "Gemeindebildung" umschrieben wird, vielfach um unechte
Jesusworte ergänzt wurden. Einen weiteren Hinweis darauf fand
ich beim Theologen Martin Dibelius (1883-1947). In
einem Nachtrag zu Dibelius' Werk Die Formgeschichte des Evangeliums
geht Gerhard Iber auf Neuere Literatur zur Formgeschichte
ein. U. a. erwähnt er auch zwei – damals –
neuere Arbeiten von Martin Dibelius. Hier ein paar bezeichnende
Sätze daraus:
"In einer eingehenden Analyse der
Gethsemaneperikope
erläutert er die Entstehung eines nicht zum
ursprünglichen Bestand gehörenden Teils der
Leidensgeschichte aus Elementen der Gemeindetradition
im Rahmen vor allem des MK- und Lk-Evangeliums. Beispielhafte Analyse
bietet auch der Aufsatz über »Die
Bergpredigt«. Er sucht einerseits den ursprünglichen
Wortlaut und den theologischen Gehalt der hier zusammengestellten
Jesusworte zu ermitteln und andererseits die der Paränese
dienende Stilisierung dieser [...] Worte zu verdeutlichen. In beiden
Arbeiten tritt zutage, was es bedeutet, wenn DIBELIUS von der schöpferischen
Produktivität der Gemeinde spricht."
Anmerkung
Hervorhebungen
im vorausgehenden Zitat stammen vom Autor der Site.
Ruft man sich in Erinnerung, dass
die unechten bzw. "erfundenen Jesusworte" nach
heutigem Verständnis Fälschungen sind, stellt sich
die Frage, ob Dibelius dieses Verständnis auch schon hatte.
Ich habe meine Zweifel: Hätte er der m. E. eher positiv
besetzten Wortbildung "schöpferische Produktivität
der Gemeinde" dann nicht irgendein relativierendes Adjektiv
voranstellen müssen? Wer weiß, vielleicht war seine
Feststellung ja von einem schelmischen Augenzwinkern begleitet ...
Das "Fluchwunder"
– eine unechte Tat Jesu
Bei Bertrand Russel (1872-1970), in
seinem Essay Warum ich
kein Christ bin, und auch bei anderen Autoren fand
ich kritische Betrachtungen der Geschichten von den "Gadarener
Säuen" (Die Heilung der zwei besessenen Gadarener in Mt 8,
28-34) und von der "Verfluchung des Feigenbaums".
Eine unnachahmliche
Würdigung "der Geschichte von den Schweinen und den
Dämonen" ist schon von einem der bedeutendsten Kritiker des
frühen Christentums, von dem neuplatonischen Philosophen Porphyrios
(234-frühes 4. Jh.), überliefert. In seiner aus
Fragmenten teilweise rekonstruierten und vom Theologen Adolf von Harnack (1851-1930)
übersetzten Schrift Gegen
die Christen urteilt er kurz und bündig:
"O
Fabel, o Geschwätz, o wahrhaft groteske
Lächerlichkeit!"
Ich war also zunächst eher
zögerlich, mich ebenfalls zu diesen beiden "Wundertaten" Jesu
zu äußern. Ich bin dann jedoch dem besonderen
"Charme" der Geschichte vom beklagenswerten Feigenbaum erlegen,
insbesondere dem Reiz der, in einem wichtigen Punkt, unterschiedlichen
Schilderungen, die die Schreiber, Abschreiber oder
Nacherzähler der mit den Namen Markus und Matthäus
verknüpften Evangelien hinterlassen haben. In meiner "Stuttgarter Senfkornbibel"
von 1955 liest sich die Geschichte bei Markus (Mk 11,12-14. 20-24) so:
»Verfluchung
des Feigenbaums.
11. Und
der Herr ging ein zu Jerusalem und in den Tempel, und er besah alles;
und am Abend ging er hinaus gen Bethanien mit den Zwölfen.
12. Und des andern Tages, da sie von Bethanien gingen, hungerte ihn.
13. Und er sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte;
da trat er hinzu, ob er etwas darauf fände. Und da er
hinzukam, fand er nichts denn nur Blätter; denn es war noch nicht Zeit, dass
Feigen sein sollten.
14. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Nun esse von dir niemand
eine Frucht ewiglich! Und seine Jünger hörten das.
[…]
Von der Macht des Gebets.
20. Und am Morgen gingen sie vorüber
und sahen den Feigenbaum, dass er verdorrt war bis auf die Wurzel.
21. Und Petrus gedachte daran und sprach zu ihm: Rabbi, siehe, der
Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.
22. Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Habt Glauben an Gott.
23. Wahrlich ich sage euch: Wer zu diesem Berg spräche: Hebe
dich und wirf dich ins Meer! Und zweifelte nicht in seinem Herzen,
sondern glaubte, dass es geschehen würde, was er sagt, so
wird's ihm geschehen, was er sagt.
24. Darum sage ich euch: Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubet
nur, dass ihr 's empfangen werdet, so wird's euch werden.«
Anmerkung
Hervorhebung stammt vom Autor der Site.
Die parallele Fundstelle im
Matthäusevangelium ist Mt 21,18-22 (ebenfalls aus der Senfkornbibel von
1955):
»Verfluchung
des Feigenbaums
18. Als er aber des Morgens wieder in die Stadt
ging, hungerte ihn;
19. und er sah einen Feigenbaum an dem
Wege und ging hinzu und fand nichts daran denn allein Blätter
und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir hinfort nimmermehr eine Frucht!
Und der Feigenbaum verdorrte alsbald.
20. Und da das die Jünger sahen, verwunderten sie sich und
sprachen: Wie ist der Feigenbaum so bald verdorrt?
21. Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Wahrlich ich sage euch:
So ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein
solches mit dem Feigenbaum tun, sondern, so ihr werdet sagen zu diesem
Berge: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer! so wird's geschehen.
22. Und alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr glaubet,
werdet ihr's empfangen.«
Anmerkung
Die Verfasser des dritten synoptischen, mit dem Namen Lukas
verknüpften, Evangeliums verzichteten ganz auf die Weitergabe
des "Fluchwunders".
Den Schreibern, Abschreibern oder
Nacherzählern des Matthäusevangeliums muss das im
älteren Markusevangelium
beschriebene schäbige Verhalten Jesu wohl Unbehagen
bereitet haben. Anders ist
nicht zu erklären, dass sie bei der Übernahme der
Geschichte zumindest die Jesu Handeln besonders disqualifizierende
Feststellung
»denn es war noch nicht Zeit, dass Feigen sein
sollten« wegließen. Um dem
erfundenen Geschehen eine gewisse Plausibilität zu geben,
bemühten die unbekannten Verfasser in beiden
Überlieferungen ihre Fantasie und legten Jesus
Äußerungen über die "Macht des Gebets"
sowie über die Berge versetzende Kraft des Glaubens in den
Mund.
In der theologischen Literatur fand
ich für das erfundene Geschehen so merkwürdige
Bezeichnungen wie "Strafwunder" und "Fluchwunder". Was ich dort
ebenfalls fand war die Gleichsetzung des Feigenbaums mit "Israel".
Letztere scheint mir der, die antijüdische Tendenz in den
neutestamentlichen Texten gut nachvollziehenden, Interpretationskunst
fantasiebegabter moderner Theologen geschuldet.
Abschließend sei angemerkt
– was sich beinahe schon erübrigt – dass
es sich um eine unechte Tat Jesu handelt. Das
ergibt sich schlüssig aus einem der Unechtheitskriterien, die
ich beim Theologen Gerd Lüdemann (*1946)
fand: "Durchbrechung von Naturgesetzen".
Anmerkung
Das zitierte Unechtheitskriterium stammt aus dem
Reader zu einem Workshop Lüdemanns mit dem Thema Hat
Jesus gelebt?. Dieser Workshop fand am 31.05.2008 in
Göttingen statt.
Die
"Ich-bin-Reden" im unechten Johannesevangelium
Da
das sog. Johannesevangelium schon im 19. Jahrhundert als "eine rein
ideale Komposition ohne geschichtlichen Halt" (Ferdinand Christian
Baur) entlarvt wurde, erscheint es mir als gerechtfertigt, es
insgesamt
als unecht zu bezeichnen. Vom
Jesus-Jünger gleichen Namens stammt es ohnehin nicht.
Aus dieser Sicht
erübrigt es sich m. E. auch, die Jesus darin zugeschriebenen
Worte und Taten detailliert zu betrachten. Der Theologe Gerd Lüdemann (*1946) hat
dies dennoch getan und z. B. die im 4. Evangelium enthaltenen sog.
"Ich-bin-Reden" Jesu einzeln analysiert. Es überrascht nicht,
dass er in seinem Buch Der
erfundene Jesus allesamt als unecht
identifiziert.
Die Fundstellen dieser "Reden" im
Johannesevangelium sind:
6,35b.48-51 |
»Ich bin das Brot
des Lebens.« |
8,12 |
»Ich bin das Licht der Welt.« |
10,7b-10 |
»Ich bin die Tür der
Schafe.« |
10,11-16 |
»Ich bin der gute Hirte.« |
11,25-26 |
»Ich bin die Auferstehung und das
Leben.« |
14,4-7 |
»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben.« |
15,1-8 |
»Ich bin der wahre Weinstock.« |
Der fantasiebegabte "Dichter" des
Johannes-Evangeliums, seine Abschreiber oder "nachträglichen
Ergänzer" (Gerd Lüdemann) müssen diese Worte
wohl in geradezu wahnhaften Geisteszuständen formuliert haben.
Die in den "Reden" zum Ausdruck kommende Anmaßung ist nicht
zu überbieten.
Der Philosoph Joachim Kahl (*1941) kommt daher
in seinem Buch Weltlicher
Humanismus zu einer ebenso plausiblen wie
vernichtenden Aussage:
"Heilslehrer,
die von sich selbst behaupten, »Ich bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben«, sind der Gefahr der
Selbstverabsolutierung erlegen. Sie verkennen die Vielfalt der Wege,
die Fülle der Wahrheitsaspekte, die Mannigfaltigkeit der
Lebensentwürfe. Ihr Ruf in die Nachfolge und in die
Jüngerschaft lockt in eine Sackgasse."
Jesus wird hier, wie an vielen
anderen Stellen auch, zum "Sprachrohr" diverser Interessenvertreter des
frühen Christentums, zum willfährigen "Instrument"
also, im Konkurrenzkampf mit den etablierten Religionen der
Spätantike. Schon ein flüchtiger Blick auf die
geschichtliche Entwicklung des organisierten Christentums zeigt, dass
bereits die alte Kirche das Selbstverständnis entwickelte,
alleinige Heilsbringerin zu sein. Entsprechend suggerierte sie dies
ihren Gläubigen. Die darin zum Ausdruck kommende
"Selbstverabsolutierung" dauert, in verschiedenen christlichen
Konfessionen, bis heute an. In dieses Bild passt auch das Wort von Augustinus (354-430), des wohl
einflussreichsten Vordenkers der alten Kirche:
"Ich
würde dem Evangelium nicht glauben, wenn mich nicht die
Autorität der Kirche dazu bewöge."
Fazit:
Viele Worte und Taten Jesu – "fromme Fiktionen vergangener
Zeiten"
Der Theologe Gerd
Lüdemann (*1946) schreibt in der Einleitung zu
seinem Buch Der
erfundene Jesus:
"Wichtig bleibt die Einsicht, dass
die Evangelien des Neuen Testaments überwiegend erfundene
Jesusworte enthalten."
Im Schlusskapitel "Erfundene
Jesusworte und die Suche nach der Wahrheit" beschreibt er dann sehr
plausibel das Dilemma, in dem sich das organisierte Christentum
befindet:
"Den heutigen Betrachter, der nach
zuverlässigen Informationen über Jesus – nach
Wahrheit – im Neuen Testament sucht, beschleicht ein mulmiges
Gefühl. Die frühen Christen vertraten ein
leidenschaftliches Wahrheitspathos und taten Lügen –
als Bestandteil der von ihnen vermeintlich überwundenen
bösen Welt – in den Bann. Dessen ungeachtet
gebrauchten sie als religiöse Richtschnur die Evangelien des
Neuen Testaments, die größtenteils aus erfundenen
Jesusworten bestehen. Bis heute gelten diese Sprüche innerhalb
der christlichen Kirchen als Gotteswort, obwohl sie durch den Erweis
ihrer Unechtheit seit langem diskreditiert sind.
Zwar waren die Erfinder unechter
Jesusworte davon überzeugt, dass Jesus wirklich so gesprochen
hatte. Sie handelten daher nicht in betrügerischer Absicht,
sondern meinten, einer höheren Wahrheit zu dienen. Doch
ändert das nichts daran, dass diese Christen objektiv die
Unwahrheit gesagt haben und, da ihre Jesusworte als Teil einer Heiligen
Schrift bis heute wirken, auch in der Gegenwart weiter
»lügen« dürfen.
Daher ist klar: Wer den Prozess
der massenhaften Erfindung von Jesusworten durchschaut, wird sie als
fromme Fiktionen vergangener Zeiten werten und den hinter ihnen
stehenden religiösen Anspruch nur noch belächeln. Und
da sie als Worte des »Herrn« in der Gegenwart
– wider alle Vernunft – weiter offizielle
Glaubensgrundlagen der Kirchen sind, ist es notwendig, dass die
historisch-kritische Bibelwissenschaft den Wahnwitz eines solchen
Gebrauchs offen legt. Mein Buch ist nur ein kleiner Schritt in dieser
Richtung."
Dass die Lüdemannsche
Beschreibung des unkritischen Gebrauchs 'gezinkter' Glaubensgrundlagen
in den Kirchen selbst noch im 21. Jahrhundert zutrifft, ist
erschütternd: Ungefähr 250 Jahre nach der
Aufklärung und mehr als 150 Jahre nach der Einführung
der "historisch-kritischen Methode" in die Erforschung der
überlieferten Texte finde ich diese Tatsache nicht nur als
unglaublich, sondern als zutiefst beschämend. Bei
näherem Hinsehen entpuppt sie sich, was nun nicht mehr
überrascht, als die natürliche Folge der beharrlichen
Weigerung der (akademischen) Theologen ihr selbst gewähltes
Denk-Getto zu verlassen.
Das ist zwar bedauerlich und
verachtenswert, andererseits aber nicht weiter verwunderlich, steht dem
theologischen Denken in diesem "Theotop" doch nur ein von Dogmen streng
begrenzter Vorrat an Denk-Optionen zur Verfügung. Diese
konstitutive Beschränktheit hindert die fantasiebegabten
Getto-Insassen aber nicht daran, ihre
Interpretationen der erfundenen
"Glaubensgrundlagen" in ebenso dickleibigen wie
überflüssigen Werken zu verewigen, die mittlerweile
ganze Bibliotheken füllen. Und dabei können diese
grandiosen "Denker" ganz unbekümmert ihren Hobbys
frönen, werden sie doch von der Gesellschaft, aus welchen
Motiven auch immer, uneingeschränkt toleriert und
großzügig finanziert.
Jesu
Naherwartung des Reiches Gottes – was daraus wurde
Von den Überlieferern, den
Schreibern, Abschreibern, Nacherzählern oder Dichtern der
frühchristlichen Schriften wurden Jesus Worte über
das baldige Weltende, über das Kommen des Reiches Gottes bzw.
über die bevorstehende eigene Wiederkunft in den Mund gelegt.
Dieser Jesus weissagte zudem, dass die angekündigten "letzten
Dinge" noch zu Lebzeiten mancher seiner Zuhörer geschehen
würden.
Eines dieser Worte, vom Theologen Gerd
Lüdemann (*1946) als unecht
eingestuft, stammt aus dem 4. Evangelium und steht dort am Anfang einer
der sog. "Abschiedsreden" Jesu. Der "Dichter" dieses Textes, der
unbekannte Johannes, lässt seinen Jesus
im Kapitel 16, Vers 16 sagen:
»16 Noch eine
kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine
kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.«
Der johanneische Jesus spricht hier
zu seinen Jüngern und kündigt ihnen seinen Tod und
seine Wiederkunft an. Beide Ereignisse würden nur
»eine kleine Weile« auf sich warten lassen. Es
handelt sich hier um eine Glaubensmeinung, die offenbar schon von den
ersten Christen verbreitet wurde. Dies lässt sich u. a. daraus
ableiten, dass, bereits 50 bis 70 Jahre vor dem Johannes des 4.
Evangeliums, ein anderer Autor ähnliche Vorstellungen
niederschrieb. Es handelt sich um Paulus, den einzigen Autor
neutestamentlicher Texte, der uns bekannt ist.
In seinem als echt geltenden ersten Brief an die
Thessalonicher, zugleich die älteste Schrift im NT (um 50 n.
Chr.), steht in Kapitel 4, in den Versen 15-18:
»15 Denn das sagen
wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und
übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, denen nicht
zuvorkommen werden, die entschlafen sind.
16 Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Befehl ertönt,
wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen,
herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus
gestorben sind, auferstehen.
17 Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich
mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem
Herrn entgegen; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit.
18 So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.«
Jesu
Vorhersage seiner baldigen Wiederkunft – eine Falschmeldung
Viele theologische Autoren, sowohl konservative
als auch kritische, haben sich mit dem Ausbleiben der "Wiederkunft des
Herrn", mit der "Parusieverzögerung",
auseinandergesetzt. Am radikalsten hat sich wohl David Friedrich Strauß
(1808-1874), einer der berühmtesten Theologen des 19.
Jahrhunderts, dazu geäußert. Albert Schweitzer (1875-1965)
sagte über ihn in seiner Geschichte der
Leben-Jesu-Forschung, dass er "nicht der
größte und nicht der tiefste unter den Theologen,
aber der wahrhaftigste" war. Mit dem "Gang des Fortschritts in der
Erforschung des Lebens Jesu" verbindet Schweitzer die Vorstellung von
zwei Perioden: "vor Strauß und nach Strauß."
Über das Straußsche Werk Das Leben Jesu
– kritisch bearbeitet von 1837 schreibt er:
"Als literarisches Werk
gehört Straußens erstes Leben-Jesu zum
vollendetsten, was die wissenschaftliche Weltliteratur kennt.
Über vierzehnhundert Seiten, und kein Satz zuviel; ein
Zerlegen bis in die geringsten Details und kein Sichverlieren in
Kleinigkeiten; der Stil einfach, reich an Bildern, zuweilen ironisch,
aber immer vornehm und würdig."
In dem Buch Der gefälschte Glaube
von Karlheinz Deschner (1924-2014) fand
ich, im Zusammenhang mit dem "urchristlichen Dogma vom nahen Weltende",
die oben angesprochene radikale Äußerung von David Friedrich Strauß:
»Es
fällt mir nicht ein, zu bestreiten, dass Jesus ein
vorzüglicher Mensch gewesen; was ich behaupte ist nur dies:
Nicht um dessen willen, was er war, sondern um dessen willen, was er
nicht war, nicht um des Wahren willen, das er lehrte, sondern um einer
Vorhersage willen, die nicht eingetroffen, also nicht wahr gewesen ist,
hat man ihn zum Mittelpunkt einer Kirche, eines Kultus gemacht. Nachdem
wir erkannt haben, dass er das nicht gewesen, dass das nicht wahr ist,
um dessen willen man ihn dazu gemacht hat, ist für uns der
Grund und, sofern wir wahrhaftig sein wollen, auch das Recht hinweg
gefallen, einer solchen Kirche anzugehören.«
Es drängen sich folgende
Überlegungen auf: Wenn Jesus von göttlicher Herkunft
war, ausgestattet mit Allmacht und Allwissenheit, ist von vornherein
auszuschließen, das ihm ein Irrtum unterlaufen sein
könnte. Dann erscheint es plausibler anzunehmen, dass er seine
Zuhörer bewusst getäuscht habe. In der antiken
griechischen Götterwelt z. B. war dies ein durchaus
vorstellbares Geschehen. Nach dem Verständnis der
frühen Christen war ihr
«Gott» jedoch allen anderen Göttern weit
überlegen. Er war für sie zweifelsohne ein
vollkommenes Wesen. Auf diesem Hintergrund scheidet, für
Christen allemal, die Annahme einer Täuschung ebenso aus wie
die eines Irrtums. Da sich die Vorhersage seiner baldigen Wiederkunft
nicht erfüllte, verbleibt also nur eine
vernünftige Schlussfolgerung: Der historische Jesus, aus dem
spätantike religiöse Enthusiasten die "Kunstfigur"
des göttlichen Christus schufen, war in Wirklichkeit
vielleicht ein "vorzüglicher Mensch" mit ein paar neuen Ideen,
aber eben nur ein Mensch unwissend und irrend,
wie alle anderen Menschen auch - vor ihm und nach ihm.
Albert Schweitzer (1875-1965)
richtete eine unmissverständliche Mahnung an alle christlichen
Apologeten,
die versucht sein könnten, sich um unbequeme Einsichten
herumzudrücken:
"Alle Versuche, dem
Eingeständnis zu entgehen, dass Jesus eine Vorstellung von dem
Reich Gottes und seinem baldigen Kommen besaß, die
unerfüllt blieb und von uns nicht übernommen werden
kann, bedeuten
Verfehlungen gegen die Wahrhaftigkeit."
Anmerkungen
- Hervorhebung im
Schweitzer-Zitat stammt vom Autor der Site.
- Das Zitat fand ich im Buch der Glaube
eines Ketzers des deutsch-amerikanischen
Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980).
Das
Reich Gottes blieb aus – dafür kam die Kirche!
Das vom "erfundenen" Jesus vorausgesagte baldige Kommen des Reiches
Gottes sowie die damit einhergehende eigene Wiederkunft –
noch zu Lebzeiten mancher seiner Zuhörer – traten
jedenfalls nicht ein. Die wichtigste Ausgangshypothese
frühchristlichen Glaubens blieb unbestätigt. Das
Ausbleiben der verheißenen Wiederkunft des
«Herrn» bedeutete für das Urchristentum
demzufolge den Entzug seiner Grundlage und damit die Infragestellung
seiner Existenzberechtigung. Die Selbstauflösung der lokalen
christlichen Gemeinden wäre daher eine nahe liegende
Konsequenz gewesen. Wie die Geschichte des Christentums lehrt, wurde
diese jedoch nicht gezogen. Der Gemeinplatz "das Reich Gottes blieb
aus, dafür kam die Kirche", umschreibt treffend die Folge
dieser Verweigerungshaltung.
Schon Paulus, der zwar davon
ausging, dass er das Kommen des Reiches Gottes noch erleben
würde, sprach von einem ungewissen, nur dem
«Herrn» bekannten, Zeitpunkt. In seinem als echt
geltenden ersten Brief an die Thessalonicher, verwendet er das
berühmte Bild vom »Dieb in der Nacht« (1
Th 5,2):
»2 denn ihr selbst
wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der
Nacht.«
Jahrzehnte nach Paulus Tod legten
die Schreiber des Matthäusevangeliums, nun aber mit dem Wissen
um die "Parusieverzögerung",
Jesus Worte mit ganz ähnlichem Sinngehalt in den Mund:
Aufgrund des unbekannten Zeitpunktes der Wiederkunft des
«Herrn» sei es klug, stets auf sein Kommen
vorbereitet zu sein. Es handelt sich um das Gleichnis »von
den klugen und törichten Jungfrauen«, die auf den
»Bräutigam« warten. Es steht im Kapitel
25, in den Versen 1-13:
»1
Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen, die ihre Lampen
nahmen und gingen hinaus, dem Bräutigam entgegen.
2 Aber fünf von ihnen waren töricht, und
fünf waren klug.
3 Die törichten nahmen Lampen, aber sie nahmen kein
Öl mit.
4 Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren
Gefäßen, samt ihren Lampen.
5 Als nun der Brätugam lange ausblieb, wurden sie alle
schläfrig und schliefen ein.
6 Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen: Siehe, der
Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen.
7 Da standen diese Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen fertig.
8 Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von
eurem Öl, denn unsre lampen verlöschen.
9 Da antworteten die klugen und sprachen: Nein, sonst würde es
für uns und euch nicht genug sein; geht aber zum Kaufmann und
kauft für euch selbst.
10 Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die
bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür
wurde verschlossen.
11 Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprache: Herr,
Herr, tu uns auf!
12 Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne
euch nicht.
13 Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.«
Die hier gleichnishaft beschriebene
»Hochzeit« der »klugen
Jungfrauen« mit dem «Herrn» steht
für den Eingang der Gläubigen
in das "ewige Leben". Die »törichten
Jungfrauen«, d. h. die Ungläubigen,
werden gnadenlos ausgegrenzt. Der guten Ordnung halber sei noch
angemerkt, dass dieses Gleichnis zu den unechten
Jesusworten zählt (Gerd Lüdemann).
Auf diesem Hintergrund wird
nachvollziehbar, dass Jesus später Worte in den Mund gelegt
wurden, die dazu führen mussten, dass
die Rolle des "Heilsbringers" vom ausbleibenden
«Herrn» auf die Kirche überging. Ein gutes
Beispiel dafür enthält der aus dem 2. Jahrhundert
stammende"unechte
Markusschluss". In Mk 16,16, heißt es:
»16 Wer da glaubt und
getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird
verdammt werden.«
Hier wird den Hörern oder
Lesern suggeriert, dass allein die Kirche ihnen zur (ewigen) Seligkeit
verhelfen könne: durch die Vermittlung des Glaubens an
Christus und den Vollzug der Taufe. Die weitestgehend unkritische
Haltung der Gläubigen gegenüber diesem
anmaßenden Auftreten verhalf schon der frühen Kirche
zu einer einzigartigen Machtposition. Die, neben den positiven
Verheißungen für die Gläubigen und/oder
Getauften, fast ebenso häufig ausgesprochene Verdammung der
Ungläubigen stabilisierte diese Postion zusätzlich.
Im Buch Der
Jesuswahn des Theologen Heinz-Werner Kubitza (*1961) fand ich eine
sehr treffende weitergehende Betrachtung der aus dem Markus-Evangelium
zitierten Textstelle. Für ihn enthält diese Stelle
"Eines
der Unworte der Bibel, das es an primitiver Deutlichkeit nicht fehlen
lässt. Es wird jedoch von den Gläubigen
in seiner grundsätzlichen Inhumanität nicht erkannt,
was daran liegt, dass der Gläubige sich selbst auf der guten
Seite wähnt und das Schicksal der anderen weniger in seinen
Blick gerät.
Der Glaube an Jesus wurde alsbald
ein solches Kriterium, mit dem man sich von anderen abgrenzte und
andere ausgrenzte. […] Bei aller vorgetragenen
Menschenfreundlichkeit im Wirken Jesu sind doch auch schon bei ihm
Tendenzen zur Ausgrenzung eindeutig vorhanden. Die Kirche konnte darauf aufbauen."
Anmerkung
Hervorhebungen im
Zitat stammt vom Autor der Site.
Göttliche
Verheißungen und Verdammungen – Erfindungen der
frühen Kirche
Die in den Schriften des NT immer wieder auftauchende enge
Verknüpfung von Verheißungen und Verdammungen
erreicht ihren "Gipfel" wohl in einem Abschnitt des
Matthäusevangeliums, der die Überschrift
»Vom Weltgericht« trägt.
Selbstverständlich handelt es sich auch hier, in Mt 25, 31ff,
um "unechte Jesusworte":
»31
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle
Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit.
32 und alle
Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie
voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken
scheidet,
33 und er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die
Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten:
Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch
bereitet ist von Anbeginn der Welt!
35 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt zu essen gegeben. Ich bin
ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.
36 Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank
gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis
gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden die Gerechten antworten und sagen: Herr wann haben wir
dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? oder durstig und
haben dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen?
oder nackt und haben dich gekleidet?
39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und
sind zu dir gekommen?
40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich,
ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen
meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zu seiner Linken: Geht weg von mir,
ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und
seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen
gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken
gegeben.
43 Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank
und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir
dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder
krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was
ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch
nicht getan.
46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten
in das ewige Leben.«
Diese im Matthäusevangelium
überlieferte Glaubensmeinung unterscheidet sich in ihrer
Qualität kaum von archaischen Fantasien
frühjüdischer Theologen im Alten Testament.
Bekanntlich handelt es sich dort um Fantasien, in denen zwar fiktive,
aber äußerst grausame Strafmaßnahmen des
jüdischen Stammesgottes «Jahwe»
gegenüber Götzendienern, Ungläubigen
und/oder Feinden Israels verherrlicht werden.
Beim Lesen dieses Textes
drängt sich bei mir der Begriff "Psychoterror" ins
Bewusstsein. Dieses Folterinstrument, das äußerlich
kaum sichtbare Spuren hinterlässt, nutzten die Kirchen
über unendlich lange Zeiträume zur Stabilisierung
ihrer Macht. – Wirft man einen Blick in den Katechismus der
römischen Konfession (KKK),
kann man den Eindruck gewinnen, dass die vatikanischen Verfasser das o.
g. Folterinstrument auch heute noch zu schätzen wissen (s. hier).
Darüber hinaus lassen die
zitierten Bibelworte in meinem Bewusstsein das ganz und gar
unerträgliche Bild eines Jesus entstehen, der die "Selektion"
auf der "himmlischen Rampe" befehligt.
Die Verfasser der zitierten
abstrusen Texte wussten nicht, was sie schrieben, ahnten nicht, welche
belastende Hypothek sie dem Christentum mitgaben. In den Kirchen,
abgesehen von christlich-fundamentalistischen Kreisen, werden heute
zwar nur noch ausgewählte, weniger
anstößige, Texte aus dem NT zitiert und in
Gottesdiensten ausgelegt. Die Kirchen nehmen also durchaus
Rücksicht auf jene ihrer "Gläubigen" oder genauer:
auf jene ihrer Mitglieder, die allzu archaisch-infantile
Glaubensmeinungen nicht mehr widerspruchslos übernehmen
wollen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die
'ausgeblendeten' Texte ja immer noch vorhanden sind.
In den von Norbert Hoerster (*1937) im Jahr
1984 herausgegebenen Texten zur Religionskritik
findet sich auch ein Essay des Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980). In
diesem trifft er, mit satirischen Zwischentönen, eine
für diesen Zusammenhang sehr plausible Feststellung:
"Die Theologie weist in weiten
Bereichen große Ähnlichkeit mit einem Puzzlespiel
auf: Die Verse der Heiligen Schrift sind die einzelnen Stücke;
das fertige Bild aber bestimmt die jeweilige Konfession, wobei ein
gewisser Interpretationsspielraum zugelassen wird. Was das Spiel so
witzlos macht, ist die Tatsache, dass man durchaus nicht alle
Stücke zu benutzen braucht und jedes nicht passende
Stück einfach umfunktionieren kann, sofern man ein
»dieses bedeutet« hinzufügt. Man nennt das
Exegese."
Notwendige Abschiede
Ich wünschte mir, dass die führenden Köpfe
der Kirchen endlich ihr intellektuelles Gewissen befragten und
öffentlich darlegten, von welchen der tradierten
archaisch-infantilen christlichen Glaubensvorstellungen sie sich
endlich zu verabschieden gedächten.
Vor allem aber müssten sich
die Köpfe der Kirchen von dem, in den zitierten Texten
gezeichneten, Gottesbild verabschieden. Was ist das für ein
Gott, der seine "Kinder" völlig im Ungewissen lässt
über den Zeitpunkt des "Jüngsten Gerichts"? Was ist
das für ein Gott, der die "Gesegneten", aufgrund ihres
gottgefälligen Verhaltens während ihres Erdenlebens
von begrenzter Dauer, in die "ewige
Seligkeit" aufnimmt und die "Verfluchten", wegen ihrer Verfehlungen
während einer ebenso begrenzten
Zeitspanne, in das "ewige Feuer" schickt?
– Es handelt sich, analog zum "erfundenen Jesus", um einen erfundenen
Gott, der völlig verzichtbar ist.
"Die mythische Eschatologie ist
erledigt"
Der Philosoph und Theologe Helmut Groos (1900-1996)
begründete, in seinem 1987 erschienenen Buch Christlicher Glaube und intellektuelles
Gewissen, seine endgültige Abkehr vom
Christentum. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, sich im zweiten Teil
seines Buches, unter der Überschrift Der
Christliche Glaube erneut auf dem Prüfstand, noch
einmal sehr eingehend und fundiert mit den wesentlichen christlichen
Glaubensvorstellungen auseinander zu setzen. Im Kapitel Der
Kommende befasst er sich mit den eschatologischen
Aspekten der christlichen Überlieferung. Er beschreibt die
Bemühungen diverser Theologen, die darin zum Ausdruck kommende
"christliche Zukunftshoffnung" zu rechtfertigen oder zu widerlegen. Er
zeigt auf, dass es denjenigen, die sie unbedingt erhalten wollen, nur
durch die Preisgabe von Logik und "elementarster Erkenntnistheorie"
gelingt.
Helmut Groos nennt u. a. auch Rudolf Bultmann (1884-1976), einen
namhaften Theologen seiner Zeit, der sich mit dem "eschatologischen
Glaubensbereich" kritisch auseinandersetzte. Für ihn lag
diesen Glaubensvorstellungen ein "mythisches Weltbild" zugrunde. Nach
einer kurzen Aufzählung verschiedener Elemente der
christlichen Eschatologie
kommt Groos, unter Verwendung von Bultmann-Zitaten, zu folgender
Einschätzung:
"In
der Tat: Man braucht diese eschatologischen Motive nur so
aufzuzählen, um den mythischen Charakter des Ganzen mit
Händen zu greifen. Außerdem lassen sie sich einzeln
»leicht auf die zeitgeschichtliche Mythologie der
jüdischen Apokalyptik
und des gnostischen
Erlösungsmythos zurückführen«.
Jedenfalls ist diese mythologische Vorstellungsweise »dem
modernen Menschen fremd geworden«. »Wir
können die Vorstellung vom Kommen Christi auf den Wolken des
Himmels ehrlicherweise nicht mehr vollziehen.«
Hiernach erübrigt sich
eine weitere Auseinandersetzung. »Die mythische Eschatologie
ist« nach Bultmann »im Grunde durch die einfache
Tatsache erledigt, dass Christi Parusie
nicht, wie im Neuen Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat,
sondern dass die Weltgeschichte weiterlief und – wie jeder
Zurechnungsfähige überzeugt ist –
weiterlaufen wird«."
Diese klaren Aussagen heben sich
sehr wohltuend ab von allen theologisch-kryptischen Denkfiguren der
Verteidiger der jahrtausendealten archaisch-infantilen christlichen
Glaubensmeinungen.
Kam mit Jesus
eine neue Ethik in die Welt? – Neu oder nicht
neu: Hat sie das sittliche Verhalten der Menschen positiv
verändert?
Wegen seines Umfangs ist dieser
wichtige Teilaspekt der Glaubensinhalte des Christentums auf eine
eigene Seite ausgelagert:
>>> Ethik
<<<
Vom
Menschen Jesus zur "Kunstfigur" Christus
Der
Prozess der Vergottung Jesu zum neuen Gott
Christus begann wahrscheinlich schon sehr bald nach seiner Ermordung,
um die Mitte des ersten Jahrhunderts. Im 2. Jahrhundert war seine
Gottheit, ausgestattet mit Eigenschaften, die von anderen antiken
Gottheiten entlehnt wurden, schon zu einem stabilen Element
urchristlicher Tradition geworden. Es entsprach der Mentalität
und dem beschränkten Erkenntnishorizont
spätantik-hellenistischer Menschen zu glauben bzw.
für wahr zu halten, dass nur ein Gott denen, die an ihn
glaubten, "Erlösung" bringen konnte.
Auf dem ersten allgemeinen Konzil in Nicäa
(325) wurde dann die Gottheit Christi, also die göttliche
Natur des ehemaligen Wandercharismatikers Jesus aus Nazareth,
beschlossen – beschlossen! –
und als göttliche Wahrheit
verkündet. Wer diese Wahrheit nicht anerkannte bzw. sich
weigerte sie zu glauben, wurde von der katholischen Kirche "verdammt" (s. hier) oder gar mit dem Tode
bedroht! (s. hier)
Letzteres geschieht heute zwar nicht mehr, dennoch ist die vor
annähernd sechzehnhundert Jahren beschlossene "Wahrheit" auch
in den heutigen Kirchen immer noch zentraler Glaubensinhalt.
Prozess
der Vergottung Jesu im Neuen Testament
Im Buch Was
sich im Christentum ändern muss des
amerikanischen Theologen und ehemaligen anglikanischen Bischofs John Shelby Spong (*1931) fand ich
einen Hinweis auf einen speziellen Aspekt des Vergottungsprozesses in
den Schriften des NT: In den maßgeblichen Schriften
erfährt der Zeitpunkt der Zuerkennung der Gottessohnschaft in
der ›Biografie‹ Jesu Christi eine stetige
Zurückdatierung. Es lässt sich vermuten, dass von den
frühchristlichen Verfassern jeweils eine weitere Steigerung
der Glaubwürdigkeit der Jesu zugeschriebenen Gottnatur
beabsichtigt war.
Der fortschreitende
Vergottungsprozess ist schon in den ältesten Schriften des NT,
in den Briefen des Paulus, dokumentiert. Im als echt
geltenden Brief an die Römer heißt es im 1. Kapitel
(Text in revidierter Fassung
von 1984):
»1 Paulus, ein
Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert, zu predigen das
Evangelium Gottes,
2 das er zuvor verheißen hat durch seine
Propheten in der heiligen Schrift,
3 von seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn, der geboren ist aus
dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch,
4 und nach dem Geist, der heiligt, eingesetzt
ist als Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten.«
Anmerkung
Hervorhebung
stammt vom Autor der Site.
Für Paulus beginnt die
Gottessohnschaft Jesu »durch die Auferstehung von den
Toten«. D. h. mit diesem der Fantasie der frühen
Christen entsprungenen Ereignis "offenbarte" sich ihm dessen Gottnatur.
Darüber hinaus sei hier noch auf den als unecht geltenden Brief an die Kolosser bzw. an die Gemeinde in Kolossä (s. hier)
hingewiesen, der vermutlich nach dem Tod des Paulus (um 64) geschrieben
wurde. In krassem Widerspruch zum Brief an die Römer (s. oben) heißt es in Kol 1,15-17:
»15 Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
16 Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
17 Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.«
Vielleicht kannte Paulus eine derartirg Auffassung, hat sie sich aber nicht zu Eigen
gemacht. Der Brief an die Römer gilt als "Testament des Paulus" (Gerd Theißen).
Daher
kann wohl angenommen werden, dass er darin die abschließende
Fassung seiner persönlichen Glaubensmeinung hinterließ.
Im seinem Buch Die Krisis des Christentums
schreibt der berühmte Altphilologe Wilhelm Nestle (1865-1959):
"Mit der Lehre des Paulus von
Christus beginnt der verhängnisvolle Prozess der Vergottung
Jesu, in dessen Verlauf die kultische Verehrung Christi immer mehr an
die Stelle der Nachfolge Jesu trat."
Nach der ausführlicheren
Betrachtung der Glaubensmeinung des Paulus und einer davon abweichenden
Glaubensmeinung einiger seiner "Freundinnen und Freunde" folgt eine
tabellarische
Zusammenfassung der einschlägigen Überlieferungen in
chronologischer Folge (Texte in revidierten Fassung von 1984).
Zeitraum (n.
Chr)
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Quelle
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Gottessohnschaft,
göttliche Natur
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55/56 |
Brief des
Paulus an die Römer (1,1-4)
»4 …, eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft
durch die Auferstehung von den Toten.«
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mit der Auferstehung
|
nach 70 |
Markusevangelium
(1,9-11)
»9 Und es begab sich zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in
Galiläa kam und ließ sich taufen von Johannes im
Jordan.
10 Und alsbald, als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass sich der
Himmel auftat und der Geist wie ein Taube herabkam auf ihn.
11 Und da geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an
dir habe ich Wohlgefallen.«
|
mit der Taufe
|
80-100 |
Matthäusevangelium
(1,18ff)
»20 …, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn
im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich
nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat,
das ist von dem heiligen Geist.«
Anmerkung
Die bei Matthäus auftauchende
Geschichte von der jungfräulichen Geburt wird jetzt Teil der
Tradition.
|
mit der Empfängnis
("Geistzeugung") |
80-100 |
Lukasevangelium
(1,26ff)
»34 Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da
ich doch von keinem Mann weiß?
35 Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der heilige Geist wird
über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird
dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren
wird, Gottes Sohn genannt werden.«
Anmerkung
Die Einsetzung in die Gottessohnschaft erfolgt
bei Lukas wie bei Matthäus, jedoch ist "seine Darstellung
konkreter und geschichtlicher."
|
mit der Empfängnis
("Geistzeugung") |
100-120 |
Johannesevangelium
(1,1ff)
»1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und
Gott war das Wort
2 Dasselbe war am Anfang bei Gott.
3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts
gemacht, was gemacht ist.
[…]
14 Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine
Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.«
Anmerkung
In den Sach- und Worterklärungen im
Anhang meiner Bibel (mit Konkordanz) steht u. a. "Ist Jesus das
›Wort‹, so wird damit bezeugt, dass in ihm
wirklich Gott selbst den Menschen begegnet."
|
schon bevor die Welt existierte (Präexistenz)
|
In
den bisherigen Ausführungen zum Prozess der Vergottung Jesu spiegeln
sich einmal mehr Fantasie und
Erfindungsgabe der frühchristlichen Verfasser der zitierten
Schriften. Sie sind gleichzeitig ein sehr anschauliches Beispiel
für die häufig sehr unterschiedlichen bzw.
widersprüchlichen Überlieferungen im Neuen Testament (NT), der "Heiligen Schrift" des
Christentums.
Diese
Tatsache ist für christliche Theologen jedoch kein Problem, insbesondere für
die der römischen Konfession. Gehen doch letztere sogar davon aus, dass Gott
persönlich "der Urheber [Autor] der
Heiligen Schrift" (KKK 105) ist. Da für sie diese spekulative Glaubensmeinung dogmatischen Charakter hat, fällt es
ihnen auch nicht schwer, bezogen auf das NT, folgende spekulative Schlussfolgerung hinzuzufügen: "Diese Schriften bieten uns
die endgültige Wahrheit der göttlichen Offenbarung"
(KKK 124). Angesichts solcher geistiger Verirrungen fallen einem nur noch
Superlative ein: Hier zeigen sich ein nicht mehr zu steigerndes Ausmaß an theologischer
Chuzpe und Anmaßung, sowie das Fehlen der leisesten Spur von intellektueller
Redlichkeit. – (mehr zu den einschlägigen
KKK-Artikeln s. hier).
Der
oben schon erwähnte anglikanische Bischof John Shelby Spong (*1931) äußerte
sich, bezogen auf die urchristlichen Vordenker, distinguierter, wenngleich er
sich einen subtilen satirisch-sarkastischen Unterton nicht verkneifen konnte:
"Man könnte
versucht sein anzunehmen, dass es keinen früheren Zeitpunkt
als die Empfängnis geben kann. Denkt man so,
unterschätzt man den Scharfsinn der frühen
christlichen Theologen.
Im zehnten
Jahrzehnt der christlichen Zeitrechnung war Jesu Identität mit
Gott vollständig geworden, dass man von ihm sagen konnte, er
habe diese Identität sogar vor seiner Empfängnis und
seiner Geburt."
Die
entscheidende Wandlung der Vorstellungen von Jesus
Erich
Fromm (1900-1980) hat den Prozess der Vergottung Jesu in
seinem Essay Das
Christusdogma aus sozialpsychologischer Sicht
ausführlich erörtert. Dieser Essay trägt den
Untertitel Eine psychoanalytische Studie zur
sozialpsychologischen Funktion der Religion. Damit ist bei
Fromm der thematische Rahmen deutlich weiter gespannt als in dem hier
angestrebten Format. Dennoch finden sich bei ihm Gedanken, die in
diesem Zusammenhang sehr hilfreich sind. Insbesondere arbeitet Fromm
eine wichtige Wandlung der frühchristlichen Vorstellung von
Jesus im Laufe des Vergottungsprozesses heraus. Vordergründig
betrachtet vollzieht sich diese Wandlung auf dem Weg von der
Glaubensmeinung des Paulus, über Zwischenstufen bei den
Verfassern der synoptischen Evangelien, zu der
ganz anderen Vorstellung der Verfasser des Johannesevangeliums.
Letztere war dann die Ausgangsbasis für das "Christusdogma"
der Folgezeit, das schließlich auf den Konzilien des 4. und
5. Jahrhunderts in seine endgültige, für alle Zukunft
gültige, Form "gegossen" wurde.
Die Frage nach den Vorstellungen der ersten Christen
von Jesus beantwortet Fromm mit einem Zitat aus dem Werk
des Theologen Adolf von Harnack (1851-1930):
»Der Inhalt des Glaubens
der Jünger Jesu und die gemeinsame Verkündigung,
welche sie untereinander verband, lässt sich in folgende
Sätze zusammenfassen: Jesus von Nazareth ist der von den
Propheten verheißene Messias. – Jesus, nach dem
Tode durch göttliche Auferweckung zur Rechten Gottes
erhöht, wird demnächst wiederkommen und das Reich
sichtbar errichten. – Wer an Jesum als den Christ glaubt, in
der Taufe die Sündenvergebung empfangen hat und in die
Gemeinde aufgenommen ist, Gott als Vater anruft, und in Kraft des
Geistes Gottes nach den Geboten Jesu lebt, ist ein Heiliger Gottes und
darf als solcher des ewigen Lebens und des Anteils am himmlischen Reich
gewiss sein.«
Schon um die Wende vom 1. zum 2.
Jahrhundert n. Chr. setzte eine Entwicklung ein, die zu einer
entscheidenden Wandlung
der Vorstellungen von Jesus führte. Diesen
Prozess beschreibt Erich Fromm so:
"So wie sich das Christentum in
jeder Hinsicht in den ersten drei Jahrhunderten seines Bestehens
gewandelt und eine neue, der ursprünglichen entgegengesetzte
Religion geworden war, so auch in Hinsicht auf den Glauben und die
Vorstellung von Jesus. Im frühen Christentum herrschte die adoptianische Lehre,
d. h. der Glaube, dass der Mensch Jesus zu Gott erhoben worden sei. Die
Auffassung vom Wesen Jesu geht mit der fortschreitenden Entwicklung der
Kirche immer mehr zum pneumatischen
Standpunkt über. Nicht ein Mensch wird zu Gott erhoben,
sondern ein Gott lässt sich zu den Menschen herab. Das ist die
Grundlage der neuen Christusvorstellung, bis sie dann in der vom Nizänischen
Konzil angenommenen Lehre des Athanasius ihren
Höhepunkt findet: Jesus, der Sohn Gottes, aus dem Vater vor
allen Weltzeiten geboren, eines Wesens mit dem Vater."
Fromm ergänzt seine
Beschreibung der sich vollziehenden Wandlung um sozialpsychologische
Aspekte:
"Das frühe Christentum
war autoritäts- und staatsfeindlich. Es befriedigte in der
Fantasie die revolutionären, vaterfeindlichen Wünsche
der untersten unterdrückten Schichten. Das Christentum, das
dreihundert Jahre später zur offiziellen Religion des
römischen Imperiums erhoben wurde, hat eine völlig
andere Funktion. Es soll eine Religion der Führer und der
Geführten zugleich sein, der herrschenden Klassen und der von
ihnen Beherrschten. Das Christentum erfüllt die Funktion, die
Kaiser- und Mithraskult nicht
annähernd so gut erfüllen konnten, die
große Masse in das absolutistische System des
römischen Imperiums einzuordnen. Die revolutionäre
Situation, wie sie bis in das zweite Jahrhundert nach Christus
geherrscht hatte, war verschwunden. Es tritt der wirtschaftliche
Rückgang ein. Das Mittelalter begann sich zu entwickeln. Die
wirtschaftliche Situation führte zu einem System von sozialen
Bindungen und Abhängigkeiten, das politisch im System des
römisch-byzantinischen Absolutismus gipfelte. Das neue
Christentum stand unter der Führung der herrschenden Klasse.
Das neue Jesusdogma war von ihr und ihren intellektuellen Vertretern,
nicht von der Masse geschaffen und formuliert. Das Entscheidende war
die Wandlung von der Vorstellung des zu Gott erhobenen Menschen zu der
von dem zum Menschen gewordenen Gott."
Der
neue «Gott» Christus – Schirmherr eines
absolutistischen Systems
Die eben angesprochene besondere Eignung des Christentums, "die
große Masse in das absolutistische System des
römischen Imperiums einzuordnen", hatte noch eine andere
wichtige Veränderung zur Voraussetzung: den Aufbau der Kirche.
So entstand in den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ein
autoritär-hierarchisches System innerhalb der christlichen
Gemeinschaft, das ein "Spiegelbild der absolutistischen Monarchie des
römischen Imperiums" war (s. hier).
Für die herrschende Klasse,
zu der ab dem Beginn des 4. Jahrhunderts – nicht mehr nur im
Einflussbereich der Kirche, sondern im gesamten römischen
Imperium – selbstverständlich auch die
Angehörigen der verschiedenen kirchlichen Hierarchiestufen
gehörten, war eine sehr vorteilhafte Situation entstanden: Sie
konnte ihren Herrschaftsanspruch vom neuen «Gott»
Christus, dem Weltenherrscher, herleiten. Er war ein perfektes
Instrument im Dienste von Machtentfaltung und Machterhaltung.
Der Theologe Gerd
Lüdemann (*1946) sieht diese Instrumentalisierung
Christi bis heute andauern. Gleichzeitig legt er überzeugend
dar, dass die Kirchen mit ihrer tradierten Legitimation von Herrschaft
zunehmend Probleme bekommen:
"Denn welches Verhältnis
besteht zwischen dem Mann aus Nazareth und dem Weltenherrscher, zu dem
ihn erst die späteren Gemeinden gemacht haben und als der er
in der Kirche auch heute bekannt wird? Trotz der sich
verändernden gesellschaftlichen Situationen über die
Jahrhunderte hinweg ist doch der alte Machtanspruch des Christentums
auf eine Anteilhabe an dieser Weltherrschaft noch heute anzutreffen.
Dies geschieht, wie bereits erwähnt, in der schlichten
Rezitation von Glaubensformeln, welche die Herrschaft Christi
über Tod und Leben bekennen. Konnte dieser eigene
Machtanspruch im Römischen Reich und durch das Mittelalter
hindurch noch dazu dienen, die weltliche Herrschaft zu legitimieren,
falls diese sich kirchenfreundlich verhielt, steht dieser Anspruch
heute vor einem schweren Problem: der demokratischen statt der
religiösen Legitimation von Herrschaft, der funktionalen
Differenzierung innerhalb unserer modernen Gesellschaften und dem Ende
des christlichen Monopols auf dem religiösen Markt."
Anmerkung
Das Zitat stammt aus dem Reader zu einem Workshop
Lüdemanns zum Thema Die Weihnachtsgeschichten der
Bibel – Fiktionen, Fakten, Fantasien, der am 1.
Dez. 2003 stattfand.
Jesus
Christus – der Heiland der Welt?
Im
jüdischen Glauben spielte die Vorstellung von dem eines Tages
erscheinenden »Messias«, dem
»Erlöser« des Volkes Israel, eine wichtige
Rolle. Dabei wurde der »Messias« mit dem
»Gottessohn« gleichgesetzt. Für die
allerersten Christen, die ausnahmslos jüdischer Herkunft
waren, galt Jesus als der von den Propheten
verheißene »Messias«. Im Zuge der
Ausbreitung des Christentums über Palästina hinaus,
wurde im griechischen Sprachraum aus dem »Messias«
der neue Eigenname »Jesus Christus« bzw.
»Christus«. Parallel dazu wurde der »Sohn
Gottes« selber zum »Gott«. Daher ist es
nicht verwunderlich, dass ursprünglich dem jüdischen
Stammesgott bzw. dem christlichen (Vater-)Gott zugeschriebene Titel
oder Eigenschaften auf »Jesus Christus«
übertragen wurden. Einer dieser schon in der
jüdischen Bibel gebrauchten Titel war
»Heiland«.
Anmerkung
Die Übersetzung des Wortes
»Messias« (hebräisch: Maschiach) ins
Griechische ergab »Christos«. Später
setzte sich die noch heute gebräuchliche lateinische Form
»Christus« durch.
Im Folgenden sind einige der im
Alten und im Neuen Testament enthaltenen Stellen zitiert, an denen der
Titel »Heiland« in Verbindung mit
»Gott« oder mit »(Jesus)
Christus« erscheint (Zitate sind dem Bibeltext in der
revidierten Fassung von 1984
entnommen):
Psalm 85,5:
»hilf uns, Gott unser Heiland, …!«
Jesaja 43,11:
»Ich, ich bin der Herr, und außer mir ist kein
Heiland.«
Brief des Paulus an die Philipper
3,20:
»Unser Bürgerrecht ist im Himmel; woher wir auch
erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus.«
Lukas 2,11:
»denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist
Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«
Der ehemalige katholische Priester Peter de Rosa (*1932) weist darauf
hin, dass schon Paulus »Christus« die Rolle des
»Heilands« zuschrieb. In seinem Buch Der Jesus-Mythos
schreibt er:
"Die Vorstellung vom einzigen
Erlöser der Menschheit geht nicht auf Jesus zurück.
Paulus hat sie aus dem Gedanken entwickelt, dass die Menschheit eins
sei in Adam, der fiel, und eins in Christus, der auferstand. Er machte
Christus zum Heiland aller Menschen, selbst derer, die vor ihm gelebt
hatten. Die hellenischen Anhänger Jesu sahen ihn zum Teil als
göttlich an, weil dies die Universalität der
Erlösung erklärte."
Und die katholische Theologin Uta Ranke-Heinemann (*1927) zeigt
in Ihrem Buch Nein
und Amen, dass die Vorstellung von einem
göttlichen »Heiland« nicht nur
jüdische Wurzeln hatte:
"Jesus war nicht der erste
Heiland. Der griechische Gott der Heilkunde, Asklepios,
lateinisch Aesculapius, der ebenfalls »Erlöser der
Welt« […] genannt wurde, dessen Heiligtum in Epidaurus
seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. das Lourdes
der Antike war, überzog seit dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.
die damalige Welt mit einem Netz von fast einem halben Tausend von
Kultfilialen und Heilzentren, darunter z. B. auf Kos.
Seine Tempel hingen voller Votivtafeln von dankbaren Geheilten, mit
Angabe der Krankheit und des Heilmittels, das der Gott dem Kranken im
Traum eines Heilschlafs geoffenbart hatte."
Es zeigt sich auch hier, dass die
christlichen Glaubensinhalte keine original christlichen "Erfindungen"
sind, sondern wohl ausnahmslos aus dem Gedankengut viel
älterer antiker Kulturen des Orients und des
griechisch-römisch geprägten Mittelmeerraums entlehnt
wurden.
Anmerkung
In
diesem Zusammenhang wird deutlich, wie sehr die römische
Konfession, bei der suggestiven Beeinflussung ihrer Gläubigen,
bis heute auf die Wirkung archaischer Kulte
setzt. Die meisterhaft inszenierte Darbietung von Illusionen ist so
wirksam, dass die ahnungslosen "Schäfchen", in Lourdes und an
vielen anderen Kultstätten und Heiligtümern weltweit,
gar nicht mehr wahrnehmen, wie geschickt ihnen die von Rom ausgesandten
"Hirten", so ganz nebenbei und ohne Skrupel, das Geld aus der Tasche
ziehen – zum Wohle der "Una
Sancta".
Mir fällt hier ein Wort des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa (1888-1935) ein:
"Der Katholizismus ist der am besten organisierte Christismus, da er
von allen Christismen der heidnischste ist." (s. auch hier)
Vernichtende Kritik an der Vergottung Jesu
Im Buch Das Unheilige in der Heiligen Schrift des Theologen Gerd Lüdemann (*1946) fand ich Folgendes:
"Aber der vergottete
Christus hat mit Jesus wenig zu tun. Das ahnen heutzutage immer mehr
Christenmenschen, und darum wissen inzwischen wieder viele
Kirchenfunktionäre. Darum gilt der Satz uneingeschränkt:
»Die Leiche im Keller des Christentums ist der vergottete Jesus
selbst« (Türcke 1996: 144)." (S. 123)
Meinung eines
frühen Kritikers über die Vergottung Jesu
Abschließend sei hier die Meinung eines
prominenten Christentums-Kritikers des 4. Jahrhunderts zitiert, die ich
im Buch Der
gefälschte Glaube von Karlheinz Deschner (1924-2014) fand.
Der römische Kaiser
Julian (331-363), der von manchen als "Intellektueller auf
dem römischen Kaiserthron" bezeichnet wird, und der sich sehr
gründlich mit dem Christentum auseinandergesetzt hatte,
äußerte sich ganz unmissverständlich
über die Vergottung Jesu:
»Ihr seid so elend, dass
ihr nicht einmal dem treu bleibt, was die Apostel euch
überliefert haben … Weder Paulus noch
Matthäus, noch Lukas, noch Markus haben Jesus Gott zu nennen
gewagt. Vielmehr hat zuerst der wackere Johannes sich erkühnt,
diese Bezeichnung zu gebrauchen, da er bemerkte, das bereits eine
große Menge in vielen hellenischen und italischen
Städten von dieser Krankheit ergriffen sei … Dieses
eine Übel geht auf Johannes zurück. Wer aber
könnte gebührend seinen Abscheu
äußern über die vielen, die ihr noch hinzu
erfunden habt?«
Unter dem Hauptmenüpunkt Historisches, im
Abschnitt Dogmen und andere Glaubensmeinungen,
sind weitere Aspekte der Vergottung Jesu angesprochen (s. hier).
Sühnetod
Christi – Versöhnung mit Gott,
Erlösung der Gläubigen?
Die Erörterung dieses
zentralen christlichen Glaubensinhaltes ist wegen ihres Umfanges auf
eine eigene Seite ausgelagert:
>>> Kreuz
<<<
Schlussbemerkungen
Unglaubwürdige
Glaubensinhalte – eine späte persönliche
Erkenntnis
Was haben meine Recherchen ergeben? Ich stelle
fest, dass der Mensch Jesus, der mit einiger Wahrscheinlichkeit
tatsächlich gelebt hat, für mich "der große
Unbekannte des Christentums" geblieben ist. Die Theologin Uta Ranke-Heinemann (*1927) gibt
in ihrem Buch Nein
und Amen Auskunft darüber, warum dies
auch gar nicht anders sein könne:
"Denn die Evangelien eignen sich
tatsächlich nicht als Grundlage einer Jesusbiografie. Die
Evangelien haben Jesus verfremdet. Nicht den Menschen Jesus und sein
reales Leben wollten sie darstellen, ihre Absicht ist vielmehr die
Interpretation seiner Gestalt unter theologischen Leitideen wie
Vergöttlichung und Sühneopfer. Und damit ist
für sie z. B. Jesu menschlich psychologische Entwicklung
– unerlässlich für jede Jesusbiografie
– gleichgültig geworden. Jesus ist also, was sein
konkretes Leben betrifft, der große Unbekannte des
Christentums. Er ist als Mensch in dem theologischen Gebäude,
mit dem man ihn überbaute, verloren gegangen oder abhanden
gekommen. Mancher mag das bedauern."
Ganz ähnlich
äußert sich der Philosoph Joachim Kahl (*1941). Dass "der
sogenannte historische Jesus" (Martin Kähler) bis heute, trotz aller Bemühungen,
nicht identifiziert werden konnte, erklärte er in seinem Buch Das Elend des Christentums
kurz und bündig so:
"[...], da er hoffnungslos unter
dem Schutt der Legenden und Mythen der Urchristenheit begraben liegt."
Über den "biblischen
Christus" (Martin Kähler)
weiß ich nun mehr. Wer von Jesus spricht, begeht, bewusst
oder unbewusst, einen Etikettenschwindel: Seit nahezu zweitausend
Jahren kann ehrlicherweise immer nur von »Christus«
die Rede sein. Ich habe eine Vorstellung davon, wie diese "Kunstfigur" (Hubertus Halbfas), unter
den gesellschaftlichen Randbedingungen der Spätantike,
entstanden ist. Darüber hinaus habe ich eine Vorstellung
davon, auf welch fragwürdige und widersprüchliche
Überlieferung das organisierte Christentum bis heute seine
"Verkündigung" der "Heilsbedeutung Christi" gründet.
Ich kann jetzt nachvollziehen, was der Theologe Hans Conzelmann (1915-1989) mit
der folgenden Feststellung meinte:
"Die Kirche lebt davon, dass die
Ergebnisse der wissenschaftlichen Leben-Jesu-Forschung in ihr nicht
publik sind."
Das neue Wissen löste
Staunen bei mir aus. Ein Staunen darüber, dass ich in meiner
eigenen Vergangenheit diese Figur tatsächlich einmal
für "wahr" gehalten habe. Und ich verstehe immer weniger, dass
die Kirchen diesem Kunstprodukt bis heute, ganz unverhohlen, um nicht
zu sagen: unverfroren, eine zentrale Rolle in den von ihnen
verbreiteten Glaubensmeinungen zugestehen. Daran ändert auch
die Tatsache nichts, dass manche "Gläubige" von ihren
"spirituellen Erfahrungen" mit dieser Figur sprechen.
Mir scheint, dass die
führenden Köpfe der Kirchen, nach wie vor, bewusst
oder unbewusst, nicht auf ihre Anteilhabe an der dem neuen christlichen
Gott zugeschriebenen "Weltherrschaft" verzichten wollen. Da verwundert
es nicht, dass der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf (*1948)
erst kürzlich äußerte (FAZ vom 19.05.2009):
"Eine irritierende Entwicklung
lässt sich beobachten: Je mehr die tiefe Glaubenskrise und die
schleichende Erosion der beiden Volkskirchen sichtbar werden, desto
mehr setzen viele Kirchenführer auf Klerikalmacht."
Ich bin überzeugt davon,
dass das arrogante, ganz und gar unglaubwürdige, ja geradezu
lächerliche Gebaren mancher Vertreter der Kleriker-Kaste den
Prozess des stetigen Niedergangs des organisierten Christentums nicht
nur nicht aufhalten, sondern nachhaltig beschleunigen wird.
Die
Geschichte Jesu Christi – Symbol der Liebe?
Das oben schon erwähnte Buch Religionskritik
enthält auch einen Beitrag des deutsch-amerikanischen
Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980).
Kaufmann, der einer zum Christentum übergetretenen
jüdischen Familie entstammte und im Alter von 11 Jahren zur
Religion seiner Vorfahren zurückgekehrt war, setzt sich darin
kritisch mit wesentlichen Aspekten des Christentums auseinander.
Für den hier betrachteten Zusammenhang vermitteln einige
seiner Gedanken über den (unfreiwilligen)
Stifter und die ihm nachgefolgten Vordenker der christlichen Religion
wichtige, nachvollziehbare Einsichten:
"Man könnte einwenden,
dass die Geschichte Jesu das denkbar beste Symbol der Liebe darstellt.
Aber tut sie das? Man betrachte diese Geschichte einmal so, wie sie
für jemanden erscheint, der nicht als gläubiger
Christ von vornherein vom Christentum eingenommen ist: Gott bewirkte,
dass eine mit Joseph verlobte Jungfrau seinen eigenen Sohn empfing, und
dieser Sohn musste, nachdem verraten und gekreuzigt, wieder
auferstehen, damit alle jene (und nur jene)
gerettet werden können, die zum einen diese Geschichte glauben
und zum anderen getauft werden und bei regelmäßigen
Gelegenheiten das essen und trinken, was nach ihrer eigenen
Überzeugung das Fleisch und Blut dieses Sohnes –
bzw. nach einigen Konfessionen lediglich Symbol seines Fleisches und
Blutes – ist. Der Rest der Menschheit dagegen erleidet ewige
Qualen; ja, nach Auffassung zahlreicher christlicher Bekenntnisse und
Glaubenslehrer sind die davon Betroffenen von Anfang an von Gott
für die Verdammnis vorherbestimmt.
Vielleicht würde man sich
trotz alledem für das Christentum entscheiden, wenn man den
großen Christen, die nach Jesus kamen, höchste
Bewunderung entgegenbringen könnte. Aber Petrus
und Paulus, Athanasius und Augustinus,
Luther und Calvin scheinen mir trotz all
ihrer nicht zu leugnenden Verdienste viel weniger bewundernswert als Hosea
und Micha, Jesaja und Jeremias,
Hillel und Akiba
oder auch Buddha, Sokrates
und Spinoza. Der mittelalterliche
jüdische Philosoph Maimonides
glaubte zum Unterschied von dem unter seinem Einfluss stehenden Thomas von Aquin weder an die
ewige Verdammnis noch daran, dass Ketzer hingerichtet werden
müssen."
In seinem Buch Der Glaube eines Ketzers
vertieft Walter Kaufmann seine, in den vorgenannten Zitaten
enthaltenen, Gedanken über das (vermeintlich) christliche
Prinzip der Liebe und über die diesem Prinzip diametral
entgegenstehende Glaubensmeinung von der Prädestination:
"Es ist eine Ironie des Schicksals
– obgleich es Parallelen gibt – , dass Jesu
Ablehnung aller Formeln und Regeln innerhalb einer Generation dem
– noch heute nicht abgeschlossenen – Versuch
weichen musste, präziseste Dogmen auszuarbeiten. Es ist
doppelt ironisch, weil nach den Evangelien Jesus ständig gegen
Heuchelei gewettert hat: Durch die Evangelien sind die Wörter
Pharisäer und Heuchler Synonyme geworden. Und doch ist die in
einem Legalismus,
der Liebe und Gerechtigkeit betont, mögliche Heuchelei ein
Splitter im Vergleich mit der Heuchelei, die sich breitmachen kann, wo
Dogmen und Sakramente im Mittelpunkt stehen. Wenn, »wer mich
isset, um meinetwillen« leben wird (Johannes 6,57), warum
sollte man sich die Mühe machen, seine Feinde zu lieben?
[...]
Als Paulus der alten Auffassung, dass dem reuigen Sünder
vergeben werde, den Rücken wandte und die Lehre von der
Prädestination aufgriff, gab er damit die Idee der Gleichheit
und Brüderlichkeit aller Menschen auf. Um nochmals Troeltsch zu zitieren:
»Der prädestinationische Gedanke zerbricht den Nerv
der absoluten und abstrakten Gleichheitsidee«, und von da an
werden »Ungleichheiten … positiv aufgenommen in
den soziologischen Grundgedanken des Wertes der
Persönlichkeit«."
In den letzten Zitaten Kaufmanns
wird eine, dem organisierten Christentum – von Anfang an
– innewohnende Problematik erkennbar, die es den Christen
schwer macht ungeheuchelte »Liebe zu
üben«: die geradezu institutionalisierte
Widersprüchlichkeit der überlieferten
Glaubensmeinungen und die knechtische Vergötzung
urchristlicher "Autoritäten". Gleichzeitig legt er hier
kräftige Wurzeln
christlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz
frei.
Die Überlegungen Kaufmanns
verwundern niemand, der auch nur ein minimales Wissen vom Christentum,
von seinen zentralen Glaubensmeinungen und seinen historischen und
aktuellen Vordenkern hat. Für mich ist er ein
glaubwürdiger Religionskritiker, weil er als Jude auch seine
eigene Religion kritisch würdigt und diese am Ende ebenfalls
als nicht akzeptabel ablehnt.
Kann
man zu einem "unsicheren Fantasieprodukt" beten?
Der Pädagoge und Theologe Gustav Wyneken (1875-1964)
enthüllt in seinem Buch Abschied
vom Christentum m. E. den Kern der
Fragwürdigkeit christlichen Glaubens, wenn er sagt:
"Besonders schwierig wird es, mit
der viel berufenen Liebe zu Jesus einen klaren Sinn zu verbinden. Jesus
ist eine geschichtliche Persönlichkeit, uns bekannt, wie wir
gesehen haben, durch eine höchst fragwürdige
Überlieferung. Kann man eine literarische Gestalt lieben, ihr
vertrauen, zu ihr beten? Muss nicht dem allen immer die Bedingung
vorgeschaltet bleiben: vorausgesetzt, dass die Überlieferung
wahr ist? Es ist, wie wir gesehen haben, mindestens keine
Selbstverständlichkeit. In Wahrheit ist und bleibt es ein
unsicheres Fantasieprodukt, das hier zum «Gott»
erhoben wird, selbst dann, wenn die (widerspruchsvolle und
lückenreiche) Überlieferung in den
Hauptzügen wahr wäre."
Hier drängen sich
Parallelen zu "literarischen Gestalten" eines modernen Genres, der Fantasy,
auf. Das Angebot dieser Literaturgattung umfasst unzählige
märchen- und mythenhafte "Kunstfiguren", die in bizarren
Traumwelten agieren.
Ein Anonymus der
– wahrscheinlich im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts
– die religionskritische Schrift Traktat über die drei
Betrüger verfasste, formulierte darin
eine ganz ähnliche, noch radikalere, Position zu der vom
Christentum um seine Zentralfigur gesponnenen mythischen
Erzählung als Gustav Wyneken:
"Kein wahrer Gelehrter wird die
Wahrheit zu verletzen meinen, wenn er feststellt, das die Geschichte
Jesu Christi ein verachtungswürdiges Märchenª
und sein Gesetz bloß ein Hirngespinst ist, das durch
Unwissenheit verbreitet, vom eigennützigen Interesse erhalten
worden ist und von der Tyrannei unter Schutz gestellt wird.
ª So
urteilte Papst Leo X., wie es aufgrund dieses bekannten wie
kühnen Wortes (in einem Jahrhundert, in dem der philosophische
Geist noch so wenige Fortschritte gemacht hatte) den Anschein hat: Man
weiß seit unvordenklichen Zeiten, sprach er zum
Kardinal Bembo, welchen Nutzen uns dieses Märchen
eingetragen hat."
Anmerkungen
- "Die drei Betrüger" des Anonymus sind Mose, Jesus und Mohammed.
- Leo X. (1475-1521) bestieg den
Papstthron im Jahr 1513.
- Pietro Bembo (1470-1547) war
zeitweise ein enger Mitarbeiter Leos X., wurde aber erst 1539 zum
Kardinal erhoben.
Mir ist nicht bekannt, ob Johann Wolfgang von
Goethe (1749-1832) die eben erwähnte Schrift aus der
Frühaufklärung
oder den Leo X. zugeschriebenen Ausspruch kannte, jedenfalls gibt es
von ihm zum hier beleuchteten Thema folgende
Äußerung:
"Das Märchen von Christus
ist Ursache, dass die Welt noch 10000 Jahre stehen kann und niemand
recht zu Verstande kommt, weil es ebensoviel Kraft des Wissens, des
Verstandes, des Begriffes braucht, um es zu verteidigen, als es zu
bestreiten."
Der
erfundene Weltenherrscher – "eine tragikomische Figur"
In seinem Buch Weltlicher Humanismus
macht Joachim Kahl (*1941) deutlich, wie
unglaubwürdig und "geschrumpft" die Zentralfigur des
Christentums erscheint, wenn man sie auf dem Hintergrund neuerer
wissenschaftlicher Erkenntnisse über Ausdehnung und Struktur
des Kosmos betrachtet. Er bezieht sich dabei u. a. auf eine
"christologische Pathosformel" in einem unechten
Jesuswort aus dem Matthäusevangelium:
"Unser Wissen über den
Aufbau des Weltalls untergräbt nicht nur die christliche
Schöpfungslehre. Der christliche Erlösermythos steht
nicht wesentlich glaubwürdiger da. Gott sei Mensch geworden
und habe die Welt erlöst durch den
Opfertod Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha, so geschehen auf einem
winzigen Planeten, der Erde, angesiedelt im Arm einer
gewöhnlichen Spiralgalaxie. Es gibt Abermilliarden solcher
Galaxien.
Vor solcher Kulisse wirken
christologische Pathosformeln wie die aus dem
»Missionsbefehl« geradezu lächerlich:
»Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf
Erden.« (Matthäus-Evangelium 28,18). Der
vermeintliche Herr und Richter der Welt, der alsbald
zurückkehren wollte, schrumpft zusammen zu einer
tragikomischen Figur aus dem Lande Liliput."
Jesus
von Nazareth – die am meisten überschätzte
Figur der Weltgeschichte?
Der kritische Theologe Heinz-Werner
Kubitza (*1961) fasst in seinem Buch Der Jesuswahn in
überzeugender Weise zusammen, wie die "Figur", um die sich im
Christentum alles dreht, eigentlich zu sehen ist. Dabei spannt er den
Bogen vom weitestgehend unbekannten historischen Jesus von
Nazareth zur "Kunstfigur" Christus:
"Jesus von Nazareth muss gesehen
werden als einer von vielen Vertretern eines apokalyptisch bestimmten
Judentums. Über seine Kindheit und Jugend ist nichts bekannt,
die wundersamen Legenden über seine Geburt verdienen diese
Bezeichnung eigentlich nicht, denn es findet sich in ihnen kein
historischer Kern. Allesamt sind sie fromme Erfindungen,
[…]. Sie verdanken ihre Existenz dem verständlichen
Wunsch, den religiösen Führer auch mit einer
bedeutenden Geburt und Kindheit auszustatten.
[…]
Der Kern der Verkündigung Jesu ist die Lehre von der
unmittelbar bevorstehenden Gottesherrschaft, die Wende der Geschichte
durch ein Eingreifen Gottes und die Aufrichtung einer nicht jenseitig,
sondern irdisch gedachten Königsherrschaft Gottes.
[…] Denn das Reich Gottes ist nicht gekommen, es ist auch
nach 2000 Jahren nicht da. Jesu Prophezeiung war Falschprophetie.
[…]
Wir haben das Leben eines frühjüdischen
Apokalyptikers vor uns, der ganz und gar im Judentum lebte und als Jude
am Kreuz gestorben ist. Es
ist das historische Grundmissverständnis der christlichen
Kirchen, dass dieser Jesus von Nazareth auch nur irgendetwas mit dem
Christentum zu tun hat. Und es ist eines der
historischen Generalparadoxa, dass ausgerechnet er zur Stifterfigur
einer Kirche wurde, die das Judentum mehr als alle anderen Religionen
bekämpft und unterdrückt hat.
[…]
Es ist grotesk und Ausdruck einer ungeschichtlichen
Gefühlsduselei, dass heute überall auf der Welt
fromme Christen in Bibelkreisen der Frage nachgehen, wie seine Worte
»heute zu verstehen sind«, was er uns
»gerade heute sagen will«, und dass sein Wort
allsonntäglich von den Kanzeln »für uns
heute« ausgelegt wird. Dieser
Jesus kannte uns nicht, wir waren weit außerhalb seines
Horizonts. Er hatte kein Wort für uns.
[…]
Der paulinische Einfluss und die Dominanz des Heidenchristentums,
später dann die altchristlichen Konzilien haben das Ihrige
getan. Am Ende stand ein Christusbild, welches mit dem historischen
Jesus nicht mehr das Geringste zu tun hatte. Die Kirchen glauben
an eine von ihnen selbst geschaffene Fiktion und halten diesen Glauben
für eine Tugend.
[…]
Soll ein solcher Jesus für die heutige Zeit zum
Maßstab werden, ein Gerichtsprediger,
Höllenverkünder, ein religiöser Radikalist
und Fundamentalist? Oder soll man sich in unserer Gesellschaft nicht
doch eher an Werte wie Toleranz und Meinungsfreiheit halten? Sind
dieser Jesus und die angeblich in seiner Lehre transportierten Werte
wirklich so wichtig für ein menschliches Zusammenleben, wie
uns das die Kirchen seit zweitausend Jahren predigen? […]
Sieht man Jesus in den Grenzen seiner Religion, seiner eigenen
Religion, wird schnell seine Begrenztheit deutlich, bei allen durchaus
positiven Anschauungen, die dieser Apokalyptiker auch gehabt hat. Jesus von Nazareth dürfte
die am meisten überschätzte Figur der Weltgeschichte
sein."
Anmerkung
Hervorhebungen im
Zitat stammen vom Autor der Site.
Der
historische Jesus – geistesgeschichtlich missbraucht?
Am Ende dieses Menüpunktes folgt ein
weiteres Wort des Theologen Heinz-Werner Kubitza (*1961). Er
beschreibt in seinem o. g. Buch kurz und eindrücklich den
unrühmlichen Missbrauch des historischen
Jesus. Dieser wurde von Paulus (†65) und den
weiteren – unbekannten – Schöpfern der
neuen Religion begonnen und wird in den verschiedenen christlichen
Konfessionen bis heute unverdrossen fortgesetzt:
"Der historische Jesus war ein
Jude unter Juden, […]. Das sein Leben
herhalten musste, um seine jüdische
Religion aus den Angeln zu heben, hätte er sicher nicht
verwunden. Die Beförderung Jesu von einem frommen Juden zum
ersten Christen war nicht weniger als eine geistesgeschichtliche
Vergewaltigung. Nur gut, dass Jesus dies nicht mehr erleben musste."
Während
wir nicht mit allerletzter Sicherheit sagen
können, dass der Mensch Jesus gelebt
hat, wissen wir eines mit absoluter Sicherheit:
Der nach ihm benannte »biblische
Jesus« alias »Christus« hat nie
existiert. Er ist ein Fantasieprodukt spätantiker
religiöser Enthusiasten.
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