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Schriftzug: Den Opfern christlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz
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Diese Geschichte hat dieser Gott, wie alle seinesgleichen die ihrige, nur in den Köpfen seiner Verehrer erlebt.

Der Theologe
Franz Overbeck (1837-1905)

Nach Schweitzer hat Jesus wie fast alle Juden seiner Zeit geglaubt, Gott könne aus freien Stücken einem reuigen Sünder vergeben, ohne dass der Opfertod Jesu oder sonst eine Vermittlung notwendig sei. Schweitzer gehört zu den Menschen, »die es mit ihrer Vorstellung von Gott nicht vereinen können, dass es eines Opfers bedurfte, um Sünden vergeben zu können«.

Der dt.-amerik. Philosoph
Walter Kaufmann (1921-1980)

Evangelische und katholische Christen, in vielem uneins, sind in der Bedeutung des Blutes für die Erlösung in unerbittlicher Blutsbrüderschaft verbündet. Auf diese Hinrichtung legen sie Wert, auf sie wollen sie nicht verzichten. Erlösung der Menschen ohne Blut ist nach ihnen nicht möglich. […]
Die Christen sollten nicht einen Galgen verherrlichen, sondern sie sollten sich sensibilisieren für den Terror der Todesstrafe, der Kriege, der Gewalt, der Folter, der militärischen Vergeltungsschläge. Sie sollten, nachdem sie schon die Tötung Christi nicht mehr verhindern können, ihr wenigstens nicht noch nachträglich zustimmen.

Die kath. Theologin
Uta Ranke-Heinemann (*1927)

Ein »Muss« für den Tod Jesu zu behaupten, um durch ihn Vergebung und Versöhnung mit Gott und damit auch eine Rechtfertigung zu erlangen, ist ein theologisches Konstrukt, das die Hinrichtung Jesu unbedingt als Heilsgeschehen deuten möchte.
[…]
Dass überall auf der Welt nach Sühne gerufen wird, ist wahr, aber dadurch wird die Welt nicht besser, sondern geschieht immer wieder neues Unrecht, geschehen immer neue Übergriffe auf das Leben anderer. Dass das Christentum dafür eine Mitverantwortung trägt, ist evident und bedarf theologischer Konsequenzen.

Der Theologe
Klaus-Peter Jörns (*1939)

 

 

 

 

Sühnetod Christi – Versöhnung mit Gott, Erlösung der Gläubigen?


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Inhalt

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Vorbemerkungen

Nach verschiedenen Anläufen ist die ursprüngliche Motivation, mich mit dem sog. »Sühnetod Christi« ausführlicher zu befassen, merklich geschwunden: Je länger ich mich mit ihm auseinandersetze, desto absurder erscheint er mir. Es kommt hinzu, dass bei diesem zentralen Bestandteil christlichen Glaubens übernatürliche Ereignisse, wie die »Inkarnation« (Fleisch- bzw. Menschwerdung) «Gottes» in Christus, die »Auferstehung« bzw. »Auferweckung« Christi von den Toten und die »Himmelfahrt« Christi stets mitgedacht werden müssen. Im Übrigen kann ich das in christlichen Gottesdiensten gefeierte »Abendmahl« nur noch als das sehen, was es trotz aller theologischer Schönfärberei in Wirklichkeit immer war und heute noch ist: ein archaisches Opfermahl.

Um zu verstehen, was heute niemand mehr verstehen kann, wäre es unumgänglich, sich in die Bewusstseinsstruktur und in die Denkgewohnheiten spätantiker Menschen hineinversetzen zu können – das gilt natürlich ebenso für andere Teilaspekte der christlichen Mythologie.

Wie an anderer Stelle schon dargelegt, gibt es keine absolute Sicherheit, bestenfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass der "historische" Jesus wirklich gelebt hat. Diese Relativierung gilt dann natürlich auch für seine im NT geschilderte Hinrichtung am Kreuz und für andere Elemente seiner neutestamentlichen ›Biografie‹. Die Zweifel an der geschichtlichen Wahrheit dieses Geschehens werden zusätzlich genährt durch die Tatsache, dass der Kreuzestod z. B. auch dem römischen Gott Mithras widerfuhr.

Die ersten Verfasser der im Neuen Testament überlieferten Schriften, die Jesus nicht persönlich kennengelernt hatten, waren am Menschen Jesus nicht interessiert, dazu war die Faktenlage einfach zu dürftig. Sie konstruierten und beschrieben stattdessen von Anfang an eine mythische Gestalt: die "Kunstfigur" Christus. Was lag diesen Verfassern näher, als sich an diversen Göttern spätantiker Mysterien-Kulte zu orientieren und sie als Vorlage für das Design ihres neuen Gottes zu nutzen.

Und selbst im 21. Jahrhundert scheuen sich die Theologen dies klarzustellen. Kaum verwunderlich, denn sie gingen damit ein zweifaches Risiko ein: Erstens drohte der Einsturz ihres aus irrationalen Glaubensmeinungen bzw. Illusionen hoch aufgetürmten religiösen Ideengebäudes, und zweitens sägten sie damit an dem komfortablen Ast, auf dem sie es sich so urgemütlich eingerichtet haben.

Und noch etwas muss hier erneut klargestellt werden: Die vor einigen Jahren in verschiedenen protestantischen Landeskirchen aufgeflammte und derzeit noch anhaltende Diskussion des hier behandelten Themas wird von diversen Theologen mit Formulierungen wie »Kreuzestod Jesu«, »Sühnetod Jesu«, »Opfertod Jesu«, die »umstrittene Deutung des Todes Jesu als ein Gott versöhnendes Opfer« oder »Jesus von Nazareth starb am Kreuz den Sühnetod für unsere Sünden« umschrieben – ein seit fast zweitausend Jahren praktizierter Etikettenschwindel. Der Name eines weitestgehend unbekannten Menschen jüdischer Herkunft wurde und wird skrupellos missbraucht – ob aufgrund einer längst erstarrten Tradition oder aus schlichter Gedankenlosigkeit ist dabei völlig belanglos. Nur im rein hypothetischen Fall, dass jemand in diesem Zusammenhang auf den Namen Jesus nicht verzichten und intellektuell redlich bleiben wollte, wäre die Verwendung von Wortkombinationen wie »der erfundene Jesus« (Gerd Lüdemann), »der biblische Jesus« oder »der überlieferte Jesus« einigermaßen akzeptabel.

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Mit Paulus fing alles an

Wenn es um den Sühnetod Christi geht, kommt man an Paulus († um 65) nicht vorbei. Er hat in seinen Briefen theologische Grundaussagen dazu formuliert, die den meisten Theologen auch heute noch wichtigste Orientierungshilfe sind. Da das Weltbild des Juden Paulus von der alttestamentlichen Mythologie geprägt war, ist es kaum verwunderlich, dass er Querverbindungen zwischen den im Alten Testament überlieferten Mythen und eigenen Gedanken über seinen neuen »Herrn« Christus konstruierte. Hierbei spielte in seinem Denken u. a. der »Sündenfall« Adams eine entscheidende Rolle (Röm 5,12f/s. unten).

Anmerkung
Auf den »Sündenfall« gründet sich bekanntlich auch die Lehre von der »Erbsünde«. Augustinus (354-430) beglückte das Christentum mit diesem grotesken theologischen Konstrukt, und die Kirche hat es in der Folgezeit, neben anderen Instrumenten, ausgiebig zu psychoterroristischen Zwecken genutzt.

Im Folgenden lasse ich drei Autoren zu Wort kommen, die sich intensiv mit der paulinischen Theologie befasst haben. Zum Verständnis der bei Wilhelm Nestle (1865-1959), Karlheinz Deschner (1924-2014) und Hubertus Halbfas (*1932) ausgewählten Zitate hier einige exemplarische Stellen aus dem Paulusbrief an die Römer (Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984):

Röm 1,5
»5 Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden, …«

Röm 3,24f
»24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
25 Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, …«

Röm 4,25
»25 welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt.«

Röm 5,8-12,18
»8 Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
9 Um wieviel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind!
10 Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wieviel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.
11 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.
                                  Adam und Christus
»12 Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.
[…]
18 Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt.«

Röm 8,32
»32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - …«

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Wilhelm Nestle über die Theologie des Paulus
In seinem Buch Die Krisis des Christentums, im Kapitel Das Evangelium des Paulus, beleuchtet der Altphilologe und Philosoph Wilhelm Nestle (1865-1959) u. a. die Wurzeln der paulinischen Weltanschauung. Danach entwickelte Paulus "seine C h r i s t u s m y s t i k und seine Theologie" aus der Kenntnis "jüdischer Apokalypsen". Die von Paulus fantasierte "Mystik besteht in dem Sterben und Auferstehen mit Christus". Nach Nestle unterscheiden sich "Mystik" und "Theologie" des Paulus hinsichtlich ihrer Wirkungsmächtigkeit deutlich:

"Von ungleich größerer geschichtlicher Wirkung war die paulinische T h e o l o g i e, in der das Evangelium Jesu zu einem E r l ö s u n g s m y t h u s umgeschaffen wurde. Denn in dieser Theologie wird der Christus nur dazu Mensch, um die Menschen von der ganzen gegenwärtigen Welt durch seinen Tod und seine Auferstehung zu erlösen und sie ewigem Leben in einem neuen Aeon zuzuführen. Deshalb bildet Christus, der aus dem jüdischen Messias zum Weltheiland wird, den Wendepunkt der Heilsgeschichte und seine Wiederkunft das Ende der Welt und den Anbruch des Gottesreichs."

Für Paulus hatte "mit dem Erscheinen Christi" das in der jüdischen Religion streng zu befolgende "mosaische Gesetz" seine Gültigkeit verloren. Die für die Ausbreitung des Christentums folgenreiche Konsequenz, die er daraus zog, beschreibt Nestle so:

"Paulus aber setzte nun an die Stelle des Gehorsams gegen das Gesetz den »G l a u b e n s g e h o r s a m«. Dieser bezog sich vor allem auf den Glauben an den stellvertretenden O p f e r t o d  C h r i s t i, durch den er den Zorn Gottes beschwichtigt und den Menschen, Juden wie Heiden, die ihnen mangelnde Gerechtigkeit vor Gott erwarb und sie so vor der Verurteilung zu ewiger Verdammnis im Endgericht schützte."

Hätte sich Paulus damit nicht gegen die (jüdisch-christliche) Urgemeinde durchgesetzt, "wäre das Christentum eine jüdische Sekte geblieben und niemals eine Weltreligion geworden."

Anmerkungen
- Hervorhebung im Nestle-Zitat stammt vom Autor der Site.
Nestle bezieht sich hier auf Röm 1,5 und 3,24f.
- Im Zusammenhang mit dem paulinischen "Erlösungsmythus" verweist Nestle auf ein Thema, das eine weitergehende Betrachtung verdiente, die an dieser Stelle aber nicht möglich ist:

"Die Erlösung der Menschheit durch Christus erfährt nun aber bei Paulus eine starke Einschränkung durch die Lehre von der P r ä d e s t i n a t i o n (Vorherbestimmung). Sie gilt nämlich nur den von Gott »Auserwählten«, und zwar gehören diese, genau besehen, ihrerseits wieder nur der letzten vor dem Anbruch des messianischen Reiches lebenden Generation an."

Nestles Ausführungen basieren insbesondere auf Römer 8,28f:

»28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.
29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene ist unter vielen Brüdern.«

Mit Bezug auf den Propheten Jesaja (10,22) fährt Nestle fort:

"Dieser hat auch schon vorausgesehen, dass von Israel nur ein kleiner Rest werde gerettet werden. Diese letztere Bemerkung verrät uns auch die Quelle dieser furchtbaren Lehre: Es ist die durch die alttestamentlichen Propheten vorbereitete spätjüdische Eschatologie."

Immer wieder zeigt Nestle auf, dass Paulus "noch tief im jüdischen Denken" steckt, auch wenn er "das unbestreitbare Verdienst hat, das Christentum vom Judentum losgelöst zu haben":

"Er kommt nicht los von dem zornigen Judengott, der »versöhnt« werden und dem ein Opfer fallen muss, wenn er Sünde vergeben soll, und wäre es das Blut seines eigenen Sohnes. Jüdisch ist auch sein ethischer Pessimismus, der in seiner Lehre von der Sünde zum Ausdruck kommt und der ihn im Tod nicht einen Naturvorgang, sondern der »Sünde Sold« erblicken lässt." (s. auch hier)

Auf dem Hintergrund der oben skizzierten paulinischen Glaubensmeinungen analysiert Wilhelm Nestle das "Verhältnis von Jesus zu Paulus". Dabei ist aber leider nicht erkennbar, mit welchem Jesus er Paulus vergleicht. Es wird auch nicht deutlich, ob Nestle mit den Ergebnissen der historisch-kritischen Schriftforschung vertraut war und die Unterscheidung zwischen echten und unechten Jesusworten kannte. Daher unterstelle ich, dass er seinen Vergleich auf jene Jesus-Gestalt und die ihr zugeschriebenen Glaubensaussagen stützte, die in den Jahrzehnte nach Paulus Tod verfassten neutestamentlichen Schriften, vornehmlich in den vier Evangelien, beschrieben werden.

Auch wenn ich dem von Nestle und den folgenden Autoren angestellten Vergleich allenfalls den Wert einer akademischen Übung zubilligen kann, finde ich ihn insoweit interessant, als er exemplarisch die vielen Widersprüche in den überlieferten neutestamentlichen Schriften aufzeigt:

"Fragt man nach dem V e r h ä l t n i s  v o n  J e s u s  z u  P a u l u s, so kann man es kaum besser formulieren als mit den Worten: »Paulus dient seinem Herrn Jesus Christus zwar mit größtem Eifer, aber nicht in Jesu Sinn«. Paulus beruft sich nie auf die Autorität des geschichtlichen Jesus. […] Zwar ist auch nach Paulus »die Liebe des Gesetzes Erfüllung« und niemand hat die Liebe höher und schöner gepriesen als er in dem berühmten Hymnus des ersten Korintherbriefs. […] Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass nach Paulus das Beherrschende im christlichen Bewusstsein nicht die Liebe, sondern der G l a u b e (Pistis) ist. Die Liebe ist also nichts Unmittelbares, wie bei Jesus, sondern etwas Mittelbares als eine F r u c h t  d e s  G l a u b e n s, wie alle anderen christlichen Tugenden auch." […] Bei den Worten Jesu befindet man sich fast immer in der Sphäre eines natürlichen, unverbildeten, rein menschlichen Denkens; das Herz sagt ja dazu und der Verstand spricht nicht dagegen. Bei Paulus dagegen herrscht ein verkünsteltes, von fantastischen Voraussetzungen und besonders von einer ganz absurden Gottesvorstellung […] ausgehendes Denken, das sich nicht selten in Rabulistik verliert. Jesus war ein religiöser Genius, Paulus ist der erste christliche Theologe; ja man wird ihn vielleicht noch richtiger einen Theosophen nennen. Ihn zu einem großen Denker machen zu wollen, ist verlorene Liebesmühe. Nicht im Denken, sondern im Willen und in der Glut der Leidenschaft liegt seine Stärke.
P a u l u s  i s t  a l s o  n i c h t  d e r  F o r t s e t z e r  d e s  E v a n g e l i u m s  J e s u,  s o n d e r n  e r  h a t  e i n  a n d e r e s  E v a n g e l i u m,  d a s  E v a n g e l i u m  v o n  J e s u s, das er unmittelbar von Gott empfangen zu haben vermeint, a n  d e s s e n  S t e l l e  g e s e t z t […]. Den Inhalt dieses Evangeliums bildet der Glaube an die Erlösung durch Tod und Auferstehung Jesu Christi, des Sohnes Gottes."

Anmerkungen
- Zu Beginn des eben eingefügten Textabschnittes zitiert Nestle seinen Freund, den Theologen und Philosophen Christoph Schrempf (1860-1944).
- Den von Nestle erwähnten "Hymnus" - »Das hohe Lied der Liebe« - findet man im 1. Korintherbrief, im 13. Kapitel.

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Karlheinz Deschner über die "Erlösungslehre" des Paulus
In seinem 1988 erschienenen Buch Der gefälschte Glaube beschreibt Karlheinz Deschner (1924-2014) u. a. den Einfluss des Paulus auf den Prozess der Vergottung des Menschen Jesus zum Gott Christus. Diesem neuen Gott wurde dann die Rolle des ersehnten »Erlösers« für alle Menschen, die an ihn glaubten, auf den Leib geschrieben. – Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, was ich in diesem Zusammenhang ebenfalls bei Karlheinz Deschner fand: Paulus hat Christus nie mit Gott gleichgesetzt. Er war darin ein Vertreter der "subordinatianischen Christologie". Die »Wesensgleichheit« des Sohnes mit dem Vater war ihm daher fremd. Diese wurde erst etwa zweihundertsiebzig Jahre später in Nicäa (325) beschlossen(!).

Die nachfolgend zitierten Abschnitte hat Karlheinz Deschner aus seiner schon 1962 erstmals veröffentlichten "kritischen Kirchengeschichte" Abermals krähte der Hahn entlehnt:

"Nach allem, was von Jesus überliefert wird, lag seinem Denken die paulinische Erlösungslehre völlig fern. Verkündet er doch den »Vater«, der nicht erst durch sühnende Mittlerschaft dem bereuenden Sünder vergibt, sondern jedem, der selbst zur Vergebung und Umkehr bereit ist; der den Sünder, wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, sogar sucht. Jesus macht Sündenvergebung nicht abhängig von seinem Tod, sondern, wie er im Vaterunser und an anderen Stellen lehrt, einzig vom vergebenden Verhalten des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen. Wäre sein Tod von ihm als notwendig für Erlösung und Sündenvergebung erachtet worden, hätte er sagen können, der Kelch möge an ihm vorübergehen; und »Deine Sünden sind dir vergeben«? Die Erlösungstheorie entstand erst, als das überraschende Ärgernis des Kreuzestodes – »in Wahrheit ein Unglücksfall und nichts weiter« – die Christen zu einer Umdeutung zwang. Damit aber wurde die ursprüngliche Lehre nicht nur gewandelt, sondern entwertet."

In seiner Antwort auf die Frage "Woher also bezog Paulus die Erlösungstheorie?" legt Karlheinz Deschner dar, aus welchen Quellen Paulus in seiner spätantik-hellenistischen Umwelt schöpfen konnte:

"Schon den Primitiven war die Abwaschung der Sünde durch einen Blutbrauch bekannt. Uralt ist aber auch der Glaube an die Erlösung der Menschheit durch den »Sohn«. So wurde in der altbabylonischen Religion Marduk von seinem Vater Ea zu den Menschen gesandt, um sie zu retten Auch Herakles und Dionysos waren solche auf die Erde herabgekommene Erlösungsgötter. Im Mithraskult wusch das auf den Gläubigen träufelnde Blut eines getöteten Stieres die Sünde ab. Im Sanskrit bedeutet das Wort für »religiös verehren« (aradh) eigentlich »versöhnen«, »Zorn stillen«.

Altbekannt war in der Antike auch die Vorstellung vom König, der für sein Volk leidet und stirbt. […] Um 200 schreibt Kirchenvater Tertullian: »Der Diana der Skythen, dem Merkur der Gallier und dem Saturn der Afrikaner war es in der Heidenwelt vergönnt, sich durch Menschenopfer versöhnen zu lassen; dem lateinischen Jupiter zu Ehren wird noch heute mitten in Rom Menschenblut vergossen.« Um die Mitte des 3. Jahrhunderts bezieht sich auch Origines klar auf jenen typisch antiken Gedanken vom König und Gerechten, der für die Vergehen seines Volkes leidet und stirbt, wenn er von den »vielen Erzählungen der Griechen und Barbaren« spricht, »die davon handeln, dass einige für das allgemeine Wohl gestorben sind, um ihre Städte und Völker von den Übeln zu befreien, die sie bedrückten«. Manchmal tötete man bei solchen Versöhnungsakten auch Verbrecher, wie noch später im griechischen Rhodos und in Massilia. […]

Derartige Bräuche waren Paulus bekannt, der selbst einmal darauf anspielt und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen umso leichter aufgreifen konnte, als man auch Jesus als Verbrecher hingerichtet hatte. Und wie das Blut all der vor ihm geopferten Menschen sühnende Kraft besaß, so auch das seine. Immer wieder predigt Paulus von Versöhnung (katallagé) und Erlösung (apolýtrosis), von dem Sühnemittel »in seinem Blute«, der Erlösung »durch sein Blut«, der Friedensstiftung »durch sein am Kreuz vergossenes Blut«. Der Gedanke, Gott könnte vielleicht auch ohne »offizielle« Satisfaktion eine Schuld vergeben, kommt ihm offenbar gar nicht."

Deschner ergänzt, Paulus seien "selbstverständlich auch die Sühnegedanken des Alten Testaments […] vertraut" gewesen. Er betont, dass die diversen Sühnetraditionen damals "so geläufig gewesen" seien, "dass die Evangelien für Jesu Sühnetod überhaupt keine weitere Erklärung geben …." Deschner wirft dann, mit Blick auf die Menschheitsgeschichte, die berechtigte Frage nach der Plausibilität des Zeitpunktes der Erlösung durch Christus auf:

"Warum dies so spät geschah, warum die Menschen der vorausgehenden Jahrhunderttausende nicht gerettet wurden, bleibt natürlich unerfindlich."

Lapidar stellt er danach fest:

"Dagegen ist klar, dass Jesus Erlöser werden musste, kam man damit doch einem religiösen Bedürfnis der Massen entgegen, die allenthalben nach Heilanden, Rettern, Erlösern Ausschau hielten. Und wollte das Christentum entscheidenden Einfluss gewinnen, musste auch bei ihm die Nachfrage das Angebot bestimmen."

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Hubertus Halbfas über Paulus und (den biblischen) Jesus
Vom katholischen Religionspädagogen Hubertus Halbfas (*1932) erschien in Publik-Forum Nr. 6 · 2010 ein Beitrag mit dem Titel Zurück zum Ursprung – Jesus lehrte, mitmenschlich zu leben – doch die Christen entwickelten eine Lehre über Jesus – so wird es nicht bleiben. Darin, wie könnte es anders sein, musste auch Paulus vorkommen.

Bevor er sich mit Paulus befasst, öffnet er zunächst jedoch den Blick für wichtige Strömungen im frühen Christentum, die geprägt waren von unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der jüdischen Umwelt einerseits und der hellenistischen andererseits:

"Der Jude Jesus, der in jüdischer Weise glaubte und in der alltäglichen Welt ihre göttliche Bestimmung zur Sprache brachte, hat mit seiner Botschaft in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod nur in der palästinischen Welt überlebt. Die Dokumente, die davon zeugen, sind die Spruchquelle Q und das Thomasevangelium. Beide Schriften geben ausschließlich die Verkündigung Jesu weiter, kennen aber weder Wundererzählungen noch Passionsgeschichte und Osterbotschaft. Sie zeugen davon, dass in Palästina die Jesusbewegungen – ohne eigene Gemeindegründungen – das fortsetzten, was der Wanderlehrer Jesus seinerseits tat und seine Schülerinnen und Schüler zu tun lehrte.
Ganz anders die Entwicklung in den hellenistischen Städten. Hier fanden im Milieu des Diasporajudentums und des damit sympathisierenden Heidentums von Anfang an Gemeindegründungen statt. Aus ihnen ging ein Christuskult hervor, dessen zentrale Botschaft nicht mehr die Reich-Gottes-Programmatik Jesu war, sondern die Deutung des Todes Jesu und die Verkündigung seiner Auferstehung.
Während Jesus als sein Evangelium lehrte, wie in dieser Welt mitmenschlich gelebt werden kann (wenn dieses Leben ganz von Gott her verstanden wird), wurde dieser Inhalt nun ausgetauscht gegen die Botschaft von Jesus als dem Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Das zentrale Programm Jesu trat zurück hinter die Deutung seiner Person. Während Jesus keine Lehre verkündete, die zu glauben sei, sondern eine Existenzform praktizierte, die gelebt werden will, entwickelte sich im hellenistischen Milieu die metaphysische Vorstellung von einem präexistenten Gottessohn, den Gott gesandt habe, um die Menschheit durch seinen Tod am Kreuze wieder mit sich zu versöhnen."

Halbfas diagnostiziert eine "nicht zu überschätzende Differenz" in der Auffassung vom »Evangelium« (Frohe Botschaft) und bezieht sich insbesondere auf Paulus:

"Paulus zum Beispiel fordert nun »Glaubensgehorsam«. War Jesu Evangelium noch wirkliche Freudenbotschaft, zumal für die Bedrängten und gesellschaftlich Randständigen, so kommt nun ein drohender Unterton auf. Hinter der Hervorhebung, nur noch den Gekreuzigten und Auferstandenen kennen zu wollen, geht Jesu Reich-Gottes-Programmatik verloren. Die Reich-Gottes-Botschaft, das zentrale Programm Jesu, wird nicht mehr aufgegriffen. Paulus hat es nicht erkundet; er bezieht sich auf kein einziges Gleichnis Jesu, auch nicht auf jenen zentralen Kern, den wir unter dem Stichwort Bergpredigt kennen."

Die zitierten Gedanken von Hubertus Halbfas zeigen eine weitgehende Übereinstimmung in der Einschätzung der unterschiedlichen Glaubensmeinungen des Paulus und des biblischen Jesus zwischen ihm und Wilhelm Nestle (s. oben).

Ich war bei Karlheinz Deschner (1924-2014) schon vor längerer Zeit auf ein Wort des Theologen Franz Overbeck (1837-1905) gestoßen, das die von unterschiedlichen Autoren angestellten Betrachtungen der religiösen Fantasien des Paulus abrunden soll:

"Alle schönen Seiten des Christentums knüpfen sich an Jesus, alle unschönen an Paulus. Gerade dem Paulus war Jesus unbegreiflich."

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Linientreue und vorsichtig kritische Positionen zum »Sühnetod Christi«

Nach dem Ausflug in die Frühzeit des Christentums und die Entwicklung grundlegender religiöser Fantasien zum "Sühnetod Christi" durch Paulus folgt eine abenteuerliche Tour durch das Gestrüpp religiöser Anschauungen heutiger christlicher Theologen zum selben Thema. Selbst der spätantike religiöse Enthusiast Paulus würde wohl über die eine oder andere unüberbietbare Glaubensfantasie dieser modernen Fantasten staunen.

Ein evangelischer Theologe verstieg sich z. B. in Publik-Forum Nr. 19 · 2010 zu folgender absurder Formulierung:

"Für mich liegt etwas Heilvolles darin, dass sich Gott selbst in Jesus der Gewalt des Menschen und dem Tod ausgesetzt hat. Im Leiden kommt er uns nahe. Gott weiß, was Leiden bedeutet, er hat es in Jesus am eigenen Leib erlebt. Nicht nur die Kreuzigung, auch die Demütigung, die Beleidigungen, die Schamlosigkeit, den Verrat. Für mich ist diese Botschaft vom Kreuz etwas ganz kostbares: Gott identifiziert sich mit den Leidenden."

Was für einen Gott hat dieser Theologe sich denn da zurechtfantasiert? Ein allmächtiger und allwissender Gott musste Erfahrungen sammeln? Erst seit seiner Kreuzigung weiß er, "was Leiden bedeutet, er hat es in Jesus am eigenen Leib erlebt"? Absurder geht's wirklich nicht!

Immerhin hielt ihm ein anderer evangelischer Theologe nüchtern entgegen (Publik-Forum Nr. 20 · 2010, S. 32):

"Die These, dass Gott selbst am Kreuz gestorben sei, ist mit der Bibel nicht zu belegen. In der Passionsgeschichte der Bibel wird der Vater von Jesus immer unterschieden."

Diese Feststellung stammt übrigens vom ehemaligen Bonner Superintendenten der Evangelischen Kirche im Rheinland Burkhard Müller (*1939). Wie Publik-Forum in Nr. 20 · 2010 anmerkt, hatte Müller "mit kritischen Hörfunk-Ansprachen im WDR eine öffentliche Auseinandersetzung in der rheinischen Landeskirche über den Sinn und Unsinn der Kreuzestheologie ausgelöst." Er kommt allerdings, trotz seiner kritischen Haltung, über sein theologisch geprägtes Weltbild nicht hinaus. Für ihn ist der Tod Christi zwar kein "Sühneopfertod", sehr wohl aber ein "Opfertod":

"Ja. Jesus hat sich geopfert, ist um unseretwillen Mensch geworden und dann am Kreuz gestorben. Warum? Um uns die unbedingte Ernsthaftigkeit seines Glaubens an die unendliche Güte Gottes zu zeigen. Er hätte ja auch in den Norden, nach Galiläa, fliehen können. Aber das hat er nicht getan. Er hat sich geopfert. Jesu Tod war ein Opfertod. Aber kein Sühneopfertod."

Auch Müller schreibt den Etikettenschwindel der Theologen fort (s. oben) und offeriert uns seine persönliche Glaubensmeinung. Seiner Behauptung sei eine plausible nüchterne Feststellung der beiden katholischen Theologen Karlheinz Deschner (1924-2014) und Horst Herrmann (1940-2017) gegenübergestellt. In ihrem Buch Der Antikatechismus - 200 Gründe gegen die Kirchen und für die Welt sagen sie kurz und bündig:

"Die Behauptung, Jesus habe seinen Kreuzestod freiwillig auf sich genommen, ist absurd. Todessehnsucht ist dem jüdischen Denken ganz fremd."

Als Antwort auf die abweichende Position Burkhard Müllers und auf die von ihm ausgelöste kontroverse Debatte veröffentlichte die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) eine umfangreiche offizielle Sprachregelung. Sie erschien im Februar 2010 unter dem Titel AUS LEIDENSCHAFT FÜR UNS – Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu. Aus diesem Elaborat der EKiR hier nur eine kurze Kostprobe:

"4.3 War der Tod Jesu ein Sühnopfer?
Die Frage lässt sich einfach beantworten: Er war es nicht. […] Der Tod Jesu war keine religiöse Opferung, sondern die römische Todesstrafe für einen Unruhestifter. Eine Opferung ist – schon als Phänomen – ein völlig anderer Vorgang. Doch diese Auskunft ist banal."

Als ich das las, war ich verblüfft. Soviel Realitätssinn hatte ich nicht erwartet. Danach folgt die Erklärung, warum das "Sühnopfer" dennoch in die Bibel kam:

"Als seine Jüngerinnen und Jünger versucht haben, den Tod Jesu theologisch zu verstehen, haben sie aus der Tradition, in der sie selbst zu Hause waren, das Bild vom »Sühnopfer« aufgenommen."

Auch danach folgt etwas Nachvollziehbares:

"War die Vorstellung des Kreuzestodes Jesu als kultisches Opfer im Neuen Testament noch eine Deutung neben anderen, so wurde der »Sühnopfertod« im Verlauf der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte, in Poesie, Literatur und Musik immer mehr in das Zentrum gerückt."

Es folgen dann, mit Bezug auf "alttestamentliche Traditionen" der "Opferpraxis", Sätze, wie dieser:

"Im Ritus des Opfers wird die eigene Schuld anerkannt und Gottes Vergebung geradezu sinnlich vergegenwärtigt und gefeiert. Sühnopfer und freie Vergebung Gottes sind keine Gegensätze; die Opferhandlung ist Funktion und Medium der Vergebung."

Unvermittelt befindet man sich in der skurrilen Welt theologisch-kryptischer Interpretations- und Deutungskünste. Wer aber glaubt, es könne nicht noch skurriler werden, wird am Ende des zitierten Abschnitts eines Besseren belehrt:

"Der neutestamentliche Sühnopfergedanke ist darum ohne das Bekenntnis »Gott war in Christus« unbrauchbar. Gott fordert nicht ein Menschenopfer, er gibt sich selbst. Spätestens hier wird auch deutlich, dass das Blut Christi Symbol für den Tod ist. Es war nicht das physische Blut, das uns rettet, sondern sein Tod an unserer Stelle, das durch sein Blutvergießen symbolisiert wird. Um Gottes willen muss und soll kein Blut fließen."

Durch "das Bekenntnis »Gott war in Christus«" wird der "Sühnopfergedanke" also brauchbar, denn Gott "gibt sich selbst"? Das "Blut Christi" wird nur vergossen als "Symbol für den Tod", der "uns rettet"? Da Gott selbst stirbt, wird das Blut Christi schließlich nicht seinetwillen vergossen?!

Das, was die theologischen Geistesgrößen der EKiR sich da ausgedacht haben und ihren Schäfchen noch im 21. Jahrhundert zumuten, entspricht in etwa dem geistigen Niveau der unsäglichen spätantiken "Räubersynoden" des 4. und 5. Jahrhunderts. Es ist ganz offensichtlich jenes Niveau, über das die im "staatskirchenrechtlich geschützten Theotop" (Friedrich Wilhelm Graf) von der Gesellschaft ausgehaltenen Theologen und Kirchenfunktionäre bis heute nicht hinausgelangten. Dies halte ich für einen kaum zu überbietenden Skandal. – Wann wacht diese Gesellschaft endlich auf und schaut sich das Treiben ihrer Kostgänger einmal genauer an?

Der Theologe Klaus-Peter Jörns (*1939) hatte in seinem Buch Notwendige Abschiede in 2004 seinen Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier veröffentlicht. Für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) war dies wohl der wesentliche Auslöser, eine entsprechende "Stellungnahme" zu erarbeiten. Sie erschien im März 2008 unter dem Titel Stellungnahme des Leitenden Geistlichen Amtes zur umstrittenen Deutung des Todes Jesu als ein Gott versöhnendes Opfer. In der einleitenden Darstellung unterschiedlicher "Thesen zur Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer" steht am Ende des Jörns gewidmeten Abschnitts: "In Jörns Streitschrift spiegelt sich das verbreitete Unbehagen an der Rede vom Sühnopfer Christi, das auch viele in unserer Kirche erfasst hat."

Um einen Eindruck von dem, um es vorsichtig zu sagen, aus einem anachronistischen Weltbild gespeisten abstrusen Denken der verantwortlichen Theologen zu vermitteln, sei hier ein Abschnitt aus der "Stellungnahme" der EKHN zitiert:

"Bleibt noch zu klären, wie die kritischen Einwände gegen ein Verständnis des Todes Jesu zu beurteilen sind, wenn dieser Tod als stellvertretend »für uns« bzw. »für unsere Sünden« bezeichnet wird, wie dies z. B. in Jesaja 53,5 geschieht.
Wenn dieses »für« sich auf die Sünde bezieht, dann bedeutet es: Christus ist »wegen« der Sünde gestorben. Hinter dieser Auffassung steht die theologische Überzeugung, dass so wie der Tod durch die Sünde in die Welt kam, die Sünde wieder durch den Tod hindurch in ihrer lebensfeindlichen Wirkung aufgehoben werden kann.
Anders muss die Wendung verstanden werden wenn sich das »für« auf »uns« oder »die Welt« bezieht. Dann bekommt das »für« den Sinn von »zugunsten«. Im Tod Jesu - so meint dieses »für« - »geschieht etwas mit uns« (W. Härle, Dogmatik).
Im Sinne der klassischen Opferlogik des weisheitlichen Tun-Ergehens-Zusammenhangs ist das Verständnis des »für« im Sinne von »anstatt«, »an unserer Stelle« immerhin verständlich. Denn Christus bzw. Gott tritt ja »für uns« d. h. für die Folgen unserer Sünde an unsere Stelle. Denn wir Sünder sind es, die den Tod verdient haben. Dennoch kann die »Stellvertretung Jesu« nach den neutestamentlichen Texten nicht bedeuten, dass uns durch seinen Tod Leid und Sterben erspart bleiben würden. Wir bleiben endliche Lebewesen und seufzen mit der ganzen Schöpfung »in uns selbst und warten auf die … Erlösung unseres Leibes!« So hat Paulus diesen Sachverhalt formuliert (Röm 8,23). Auch nach Kreuz und Auferstehung Jesu bleiben wir »auf Hoffnung hin gerettet« (Röm 8,24).
Daher muss im Licht der nachösterlich veränderten Zeichensprache auch hier die klassische Opferlogik durchbrochen werden, auch wenn ihre Metaphorik erhalten bleibt."

Anmerkungen
- Hier wird u. a. die archaisch-infantile Vorstellung, dass "der Tod durch die Sünde in die Welt kam", ungeniert aufrechterhalten.

Immerhin zeigt sich die EKHN im Schlusskapitel ihrer Stellungnahme als ansatzweise "liberal". Eingangs zumindest, um dann doch sehr rasch in die alte Denke bzw. ins "christliche Wirklichkeitsverständnis" antik-hellenistischer Prägung zurückzufallen:

"Unser Fazit zur Beantwortung der Ausgangsfrage lautet also: Niemand muss die Heilsbedeutung des Todes Jesu mit Hilfe der Metaphorik des Sühnopfers auslegen (Ingolf U. Dalferth, Gerd Theissen). Aber man kann sie auch in der Moderne als theologische Zentralidee verwenden, weil sie in ganz besonderer Weise dem christlichen Wirklichkeitsverständnis und dem Gottesbild entspricht, das von dem Gott herkommt, der im Leben begegnet und dessen Willen mit Hilfe der biblischen Überlieferung gedeutet werden kann (Carl Heinz Ratschow, Gerd Theissen)."

Ich bin bei meinen Recherchen noch auf eine weitere Publikation gestoßen, die sich ebenfalls mit dem hier behandelten Thema befasste: Das vom Verband der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V. monatlich herausgegebene DEUTSCHE(S) PFARRERBLATT veröffentlichte im Frühjahr 2010 die "kontroversen Positionen" zweier Theologen zur "Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer". Die "Kontrahenten" waren Ulrich Eibach (*1942) und Klaus-Peter Jörns (*1939).

Der Beitrag des wohl eher konservativen Theologen Ulrich Eibach trug den Titel Versöhnung zwischen Gott und Mensch im stellvertretenden Tod Jesu Christi – Ein Theologumenon ohne Wirklichkeitsbezug? Hier ein kurzer Auszug:

"Die stellvertretende Lebenshingabe Jesu Christi, des Sohnes Gottes, für die Sünden der Welt ist die tiefste und endgültige Offenbarung der bedingungslosen Liebe Gottes zum Menschen. Sie ist darin zugleich das dem Menschen Heil, versöhntes und »ewiges Leben« in Gemeinschaft mit Gott schaffende Ereignis und insofern das Zentrum und das unverwechselbare Proprium des christlichen Glaubens, gerade im Vergleich mit anderen Religionen."

Anmerkung
- Über den von Eibach verwendeten Begriff Theologumenon steht im Duden: »(nicht zur eigentlichen Glaubenslehre gehörender) theologischer Lehrsatz«.

Eibach schmückt seine, zweifellos in einem fortgeschrittenen Stadium göttlicher Erleuchtung empfangene Vision von der "tiefsten und endgültigen Offenbarung der bedingungslosen Liebe Gottes zum Menschen" fantasievoll weiter aus und konkretisiert,

"dass nicht ein Mensch geopfert wird, sondern dass es Gott selbst ist (2. Kor. 5,19), der sich in seinem Sohn stellvertretend in der Sünder Hände ausliefert und für die Sünde der Welt stirbt (1. Joh. 2,2). Jesus Christus ist nicht nur an der und durch die Sünde der Menschen gestorben, sondern Gott hat diesen an sich sinnlosen Tod Jesu auf sich selbst genommen und ihn durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten von einem von Menschen verursachten sinnlosen Geschehen verwandelt in ein sinnhaftes, neues Leben in Gemeinschaft mit Gott eröffnendes Geschehen (1. Kor. 15,17), indem er die Sünde, die Feindschaft der Menschen gegen Gott (Röm. 5,8-10) und den Tod in der Gottverlassenheit als Folge der Sünde (Röm. 6,23) auf sich selbst nimmt und ihn so besiegt."

In seinen Überlegungen blitzt an einer Stelle eine richtige Erkenntnis auf. Dort nämlich, wo Eibach von dem "an sich sinnlosen Tod Jesu" spricht. Eine einfache und klare Beschreibung der brutalen Hinrichtung des Menschen Jesu. Für Theologen ist diese einfache und klare Erkenntnis wohl zu schlicht und viel zu transparent, um daraus das »Mysterium« der unverdienten Erlösung der sündigen Menschen durch einen sterbenden Gott zu fantasieren.

Der kurze Auszug aus Eibachs Überlegungen dokumentiert einmal mehr, dass Theologen, die verzweifelt versuchen, den im Neuen Testament versammelten antik-hellenistischen Denkfiguren irgendeinen Sinn zuzuschreiben, nur verquasten Unsinn produzieren können. Eibach gehört darüber hinaus zu jenen Bewohnern des theologischen Denk-Gettos, die u. a. noch unverdrossen daran glauben, dass der Tod durch den Sündenfall Adams in die Welt gekommen sei, und dann von Gott "besiegt" werden musste!

Der eher (vorsichtig) kritische Theologe Klaus-Peter Jörns vertrat seine Position unter der Überschrift Warum musste Jesus sterben? - Eine historische und eine theologische Antwort. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen gibt Jörns seine Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage:

"Meine Antwort hat zwei Teile. Der erste lautet: Jesus wurde als angeblicher Thronprätendent (»INRI«) diffamiert und hingerichtet, weil er – wie zu zeigen sein wird – mit seiner Gottes-Verkündigung in Wort und Tat in einen unüberbrückbaren Gegensatz zur offiziellen jüdischen Theologie und vor allem zu dem von ihr geprägten Kult geraten war. Außerdem hatte er die von einem teil seiner Anhänger auf ihn gerichtete nationalmessianischen Erwartungen zurückgewiesen. Der zweite Teil der Antwort lautet: Eine Notwendigkeit für sein Leiden und Sterben im Sinne eines – auf Gottes Willen weisenden – »Muss« hat es nicht gegeben, wenn ich die entsprechende Überlieferung aus heutiger Verantwortung und angesichts der Wirkungsgeschichte der Sühnetheologie und der sie bestimmenden Verbindung von Heil und tödlicher Gewalt theologisch beurteile. Gott hat mit Jesu Tod dadurch zu tun, dass er denen, die Jesus hingerichtet hatten, nicht das letzte Wort gelassen, sondern ihn Ostern als Licht der Welt erwiesen hat."

Der letzte Satz dieses Zitats zeigt sehr anschaulich, dass selbst der einigermaßen kritische Jörns nicht aus seiner theologisch gegerbten Haut kann, auch wenn er kurz darauf noch einmal nachlegt:

"Ein »Muss« für den Tod Jesu zu behaupten, um durch ihn Vergebung und Versöhnung mit Gott und damit auch eine Rechtfertigung zu erlangen, ist ein theologisches Konstrukt, das die Hinrichtung Jesu unbedingt als Heilsgeschehen deuten möchte."

Jörns zeigt mit dieser Bemerkung eine schon in seinem Buch Notwendige Abschiede formulierte Haltung. Dort schrieb er:

"Ich habe mir angewöhnt, nicht mehr die kirchliche Sprache zu benutzen, nicht mehr vom Kreuz Christi zu reden, sondern ausdrücklich von der Hinrichtung Jesu."

Er weist dann u. a. auf Einflüsse jüdischen Denkens auf die Entwicklung des frühen Christentums hin:

"Aus den jüdischen Freiheitskriegen kam die Märtyrertheologie hinzu, die sagte, dass Menschen, die für die Tora den Märtyrertod erlitten hatten, Sühne für Israel bewirkten. Vor allem, nachdem die Judenchristen nicht mehr am Tempelkult teilnehmen konnten, und noch mehr, als 70 n. Chr. der Tempel zerstört worden war und es keinen Versöhnungstag und keine anderen Sühneopfer mehr gab, konnte der als Opfer und Martyrium gedeutete Tod Jesu (vgl. Phil. 2,8) den Kult und die durch ihn bewirkte Sühne ersetzen. Als Metaphern traten außerdem das stellvertretende Leiden des Knechtes Jahwes (Jes. 53), das Bundesopfer (Ex. 24,8), Gedanken vom Loskauf, das Osterlamm und andere Symbole in den Deutungsprozess ein. Dadurch wurden Brücken zwischen dem jüdischen und hellenistischen kulturellen Gedächtnis einerseits und der Tragödie des Leidens und Sterbens Jesu andererseits geschaffen. Die Passion Jesu war zum Kultdrama geworden, die Messe zum Ort seiner Aufführung."

Und er zeigt auf, wie leichtfertig es ist, traditionelles Denken nicht zu hinterfragen:

"Ich verstehe, auch aus meiner eigenen Entwicklung, dass es uns eine Zeit lang beeindrucken kann, gesagt zu bekommen, wir seien Gott so wichtig, dass er seinen eigenen Sohn für uns ans Kreuz geschickt habe. Gerade in der Krankenhausseelsorge ist die Versuchung groß, einem leidenden Menschen dadurch helfen zu wollen. Aber bei genauerem Hinsehen steckt in diesem Trost doch die trostlose Botschaft, dass Gott nicht nur aus seiner Liebe heraus mit uns Menschen mitleidet, sondern nur auf dem Umweg über Jesu Tod; und diese trostlose Botschaft enthält eine weitere, die darin liegt, dass Gott Jesu Leiden instrumentalisiert hat, weil er so oder so Sühne will."

Jörns bezieht sich abschließend auf die "gegen mein Buch »Notwendige Abschiede« gerichtete Stellungnahme zur Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer" der EKHN (s. oben):

"Obwohl die EKHN ihrerseits im Sühnopfergedanken […] eine »theologische Zentralidee« auch für die Moderne erkennen will, ist die Erkenntnis richtig, dass eine auf Sühne bestehende Theologie nur eine im 1. Jh. n. Chr. weltweit geläufige Metapher gewesen ist und nicht den Anspruch erheben kann, das Geschehen auf Golgatha quasi objektiv zu benennen. Dass überall auf der Welt nach Sühne gerufen wird, ist wahr, aber dadurch wird die Welt nicht besser, sondern geschieht immer wieder neues Unrecht, geschehen immer neue Übergriffe auf das Leben anderer. Dass das Christentum dafür eine Mitverantwortung trägt, ist evident und bedarf theologischer Konsequenzen."

Der letzte Satz erscheint mir als sehr wichtig in der (stets) aktuellen Debatte über das Gewaltpotential in den Glaubensinhalten der Religionen, in der von geschichtsvergessenen Christen allzu häufig nur auf den Islam gezeigt wird.

Wie leicht festzustellen ist, vertreten die Kontrahenten unvereinbare Positionen zum »Sühnetod Christi«. Ein gewisser Wirklichkeitsbezug lässt sich allenfalls bei Jörns erkennen.

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Kritische Positionen zum »Sühnetod Christi«

Im vorausgehenden Abschnitt wurden nur in der jüngsten Vergangenheit publizierte theologische Positionen dargestellt. Hier kommt eingangs jemand zu Wort, dessen Wirken schon Jahrzehnte zurückliegt, der Arzt und Theologe Albert Schweitzer (1875-1965). Ich fand seine Äußerung zum Sühne- bzw. Opfertod Christi im Buch Der Glaube eines Ketzers des deutsch-amerikanischen Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980):

"Nach Schweitzer hat Jesus wie fast alle Juden seiner Zeit geglaubt, Gott könne aus freien Stücken einem reuigen Sünder vergeben, ohne dass der Opfertod Jesu oder sonst eine Vermittlung notwendig sei. Schweitzer gehört zu den Menschen, »die es mit ihrer Vorstellung von Gott nicht vereinen können, dass es eines Opfers bedurfte, um Sünden vergeben zu können«."

Es folgt der erneute Sprung in die jüngste Vergangenheit: In seinem 2004 erschienenen Buch Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche beginnt der Theologe Matthias Kroeger (*1935) den Abschnitt Kritik und Ende der Lehre von der strafleidenden Genugtuung Christi – … mit folgender Feststellung:

"Fragt man nämlich, auf welche Weise das Leben und Sterben des Jesus von Nazareth für uns von Bedeutung und er »für uns« gestorben sei, so lautet die letztlich noch immer verbreitete Antwort der klassischen Theologien im Protestantismus wie im Katholizismus, Christus habe durch sein Sterben, durch sein »Blut« als Opferlamm uns vom Banne des Zornes Gottes und von der Sünde erlöst, für uns die Strafe erlitten und uns so mit Gott versöhnt, uns das Heil erworben. In ungezählten Varianten – bis hinein in die Messopfertheorie der katholischen Kirche – wird diese Auskunft festgehalten, reihenweise auch in unserem evangelischen Gesangbuch und in unseren Dogmatiken. Ihr theologischer Zentralbegriff ist die »Genugtuung« (satisfactio), die Christus als Opfer am Kreuz mit seinem Blut für uns erbracht habe."

Einige Abschnitte später fasst Matthias Kroeger seine Position so zusammen:

"Noch die schönsten Weihnachtslieder und die tiefsten, unersetzlichsten Passionslieder sind von diesen inzwischen unwahr und kontraproduktiv gewordenen Absolutheits-, Genugtuungs-, Versöhnungs-, Präexistenz- und anderen Komplexen durchzogen und geraten daher – von Jahrfünft zu Jahrfünft – immer weiter ins Abseits. Es wird Zeit, dass den hier fälligen Revisionen Bewusstsein und Raum, kirchen-öffentlicher Raum für erklärte und legitime Freiheit gegenüber diesen Vorstellungen geschaffen wird."

Es wäre zu wünschen, dass zumindest protestantische Theologen in größerer Zahl Kroegers Auffassung unterstützten. Dasselbe wünschte ich der Position des slowakischen evangelischen Theologen Karol Nandrásky (1927-2016), der in Publik-Forum Nr. 8 · 2008 u. a. Folgendes sagte:

"Ähnliche Fragen stellen sich bei den kirchlichen Aussagen über Erlösung und Heil. Demnach will Gott die Erbsünde auslöschen, indem er »seinen eigenen Sohn nicht verschonte, sondern für uns alle dahingegeben hat«, damit er »versöhnte die Welt mit sich selber«. Hinter dieser Interpretation des Todes Jesu durch Paulus steht die Vorstellung eines unbeugsamen, erbarmungslosen Gottes, die größte Zweifel an der Göttlichkeit eines solchen Gottes entstehen lässt.
Einige Theologen – so Dietrich Bonhoeffer – behaupten, dass Gott zusammen mit seinen Geschöpfen leidet. Da taucht freilich die Frage auf: Was hat der Leidende davon, wenn es Gott gleichermaßen schlecht geht wie ihm selbst? Die Idee von Gottes Mitleid ist zwar menschlicher als die Ansicht, dass Leiden eine »Strafe« sei. Doch die »Verdoppelung des Leidens« verschärft nur das Problem des Leidens. Welch ein Gott sollte das sein, der in voller Freiheit ein solches Weltall erfand, in dem sowohl die Geschöpfe als auch er selbst leiden?"

Ähnlich überzeugende Gedanken, wie bei den eben zitierten Autoren fand ich auch bei der katholischen Theologin Uta Ranke-Heinemann (*1927). In Ihrem Buch Nein und Amen – mein Abschied vom traditionellen Christentum äußert sie sich prägnant, stellenweise satirisch zugespitzt, über die "Bedeutung des Blutes für die Erlösung":

"Evangelische und katholische Christen, in vielem uneins, sind in der Bedeutung des Blutes für die Erlösung in unerbittlicher Blutsbrüderschaft verbündet. Auf diese Hinrichtung legen sie Wert, auf sie wollen sie nicht verzichten. Erlösung der Menschen ohne Blut ist nach ihnen nicht möglich. Aber was wäre denn eigentlich geschehen, wenn das Römische Reich damals unter Kaiser Tiberius schon so human gewesen wäre wie die Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl oder Gerhard Schröder und wenn Pontius Pilatus keine Todesstrafe hätte verhängen können? Wenn Jesus an Altersschwäche oder Fischvergiftung gestorben wäre? Wäre dann die Erlösung der Menschheit an der Humanität der Menschen gescheitert? […]
In dem Bemühen, dem Tod Jesu einen Sinn zu geben, kann man nur Un-Sinn hervorbringen, weil man eine Tötung rechtfertigen will, die nicht zu rechtfertigen ist, da überhaupt keine Tötung je zu rechtfertigen ist und sein wird. Die Berufung auf Gott und Gottes Willen kann menschliche Verbrechen nicht gerade biegen.
Die Christen sollten nicht einen Galgen verherrlichen, sondern sie sollten sich sensibilisieren für den Terror der Todesstrafe, der Kriege, der Gewalt, der Folter, der militärischen Vergeltungsschläge. Sie sollten, nachdem sie schon die Tötung Christi nicht mehr verhindern können, ihr wenigstens nicht noch nachträglich zustimmen. Und sie sollten, nicht zuletzt um des Todes Christi willen, keines Menschen gewaltsamem Tod in der Welt zustimmen, sondern jeden Tod, was an ihnen liegt, verhindern."

Uta Ranke-Heinemann kritisiert die von evangelischen und katholischen Christen in seltener Übereinstimmung beschworene "Bedeutung des Blutes für die Erlösung". Die von ihr angesprochenen Christen taten und tun dies jedoch nicht ganz unbegründet. Gibt es doch in dem pseudepigraphen (Gerd Theißen) Brief an die Hebräer ein Wort, das ihnen Wegweiser war und möglicherweise immer noch ist. Im Kapitel 9, das im Bibeltext der revidierten Fassung von 1984 die Überschrift Das einmalige Opfer Christi trägt, steht im Vers 22 unmissverständlich:

»22 [...], und ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung.«

Ich vermag nicht einzuschätzen, von wieviel heutigen Christen dieses biblische "Unwort" tatsächlich noch ernst genommen wird. In der blutgetränkten Geschichte des Christentums hat es mit Sicherheit eine unheilvolle Rolle gespielt.

Darüber hinaus leiteten Theologen wohl bis in die Gegenwart u. a. aus der vom unbekannten Verfasser in Hebr 9 verewigten Glaubensmeinung die Überzeugung ab, »das einmalige Opfer Christi« sei auch das letzte Opfer gewesen, das dem «Vatergott» darzubringen war. Mit diesem letzten Opfer sei der »Neue Bund« zwischen «Ihm» und den Christen besiegelt worden, so dass es künftig keiner weiteren Opfer bedurfte. Damit habe das Christentum die von der jüdischen Religion - im »Alten Bund« - ausgeübte Opferpraxis endgültig überwunden. Der Theologe Klaus-Peter Jörns (*1939) und andere halten diese Überzeugung für "anachronistisch". Tatsache ist, dass das Christentum den tradierten jüdischen Opferritus weder überwinden musste noch zu seiner Überwindung beigetragen hat: Er endete abrupt mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70. Im Übrigen hatte sich nach Gerd Theißen (*1943) schon im Judentum "neben dem Jerusalemer Opferkult ein reiner Wortgottesdienst in den Synagogen entwickelt". Bleibt nachzutragen, dass die Entstehung des Hebräerbriefes nicht sicher datiert werden kann. Wahrscheinlich wurde er im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts verfasst.

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Zusammenhang zwischen Opfertheologie und christlicher Gewalt

Sehr wichtig scheint mir, dass ein weiteres Mitglied der nach wie vor kleinen Gruppe der kritischen Theologen, der ehemalige Superintendent des Kirchenkreises Wolfsburg, Herbert Koch (*1942), in seinem 2009 erschienenen Buch Der geopferte Jesus und die christliche Gewalt den Zusammenhang zwischen der "Gewaltgeschichte" der (christlichen) Welt und ihren Wurzeln im christlichen Mythos herstellt. Es würde sich lohnen, diesen bisher viel zu selten thematisierten Zusammenhang ausführlicher zu beleuchten. Dies sprengte jedoch leider den vorliegenden Rahmen. Hier dennoch zwei Zitate aus diesem lesenswerten Buch:

"John Shelby Spong, ehemals anglikanischer Bischof und Lehrbeauftragter an der Harvard-Universität, sieht Gott mit der Sühnopferlehre »in einen grausamen Akt göttlichen Kindesmissbrauchs verwickelt … Sie malt das Bild eines sadistischen Gottes, dem masochistische Kinder dienen«.
[…]
Die Geschichte der Gewalt im Christentum reicht, wie das amerikanische Beispiel zeigt, bis in die Gegenwart. Nach neuen Erkenntnissen steht diese Gewaltgeschichte in engem Zusammenhang mit der kirchlichen Deutung der Hinrichtung Jesu. Ihr zufolge vollbringt der Gottessohn am Kreuz das gottgewollte Sühnopfer zum Heil des sündigen Menschen.
Dieser christlichen Erlösungsvorstellung entspricht ein Gottes- und Menschenbild, das negative Auswirkungen hat. Sie sind nicht nur greifbar in historischen Gewaltexzessen bis zu Abu Ghraib und Guantanamo, sondern ebenso in Krieg überhöhenden Theologien. Die christliche Erziehungstradition bildet einen Teil dieser Gewaltgeschichte."

Herbert Koch zitiert in seinem Buch eine bemerkenswerte Äußerung der Lübecker Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter (*1943), mit der sie eine Frage "nach der Lehre über das Sühnopfer Jesu" beantwortete:

»Der traditionelle Sühnopfergedanke – die Satisfaktionslehre – impliziert, dass die Versöhnung Gottes Gewalt erfordere. Das kann ich theologisch nicht mehr nachsprechen angesichts der brandaktuellen Gefahr, dass Menschen von daher die Ausübung von Gewalt ›im Namen Gottes‹ legitimieren. Ich verstehe, dass Gott, wie Jesus ihn verkündet, auf alle Gewalt verzichtet.«

Auch der Theologe Klaus-Peter Jörns bezieht in einem oben verwendeten Zitat Stellung zum Thema Christentum und Gewalt, wenn er in der "Verbindung von Heil und Gewalt" den bestimmenden Faktor für die "Wirkungsgeschichte der Sühnetheologie" sieht. Und weil für ihn das Christentum "Mitverantwortung trägt" dafür, dass aufgrund der Wirksamkeit des Sühnegedankens "immer neue Übergriffe auf das Leben anderer" geschehen, fordert er "theologische Konsequenzen" – m. E. längst überfällige Konsequenzen.

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Schlussbemerkungen

Während meiner Recherchen, insbesondere nach dem Lesen der oben zitierten Papiere aus der jüngsten Vergangenheit, festigte sich bei mir der Eindruck, dass viele Theologen immer verzweifelter geistige Verrenkungen in Kauf nehmen, um einen ganz klaren Sachverhalt – Hinrichtung eines vermeintlichen oder tatsächlichen Aufrührers am Kreuz nach gängiger römischer Praxis – in ein Erlösungs- bzw. Heilsgeschehen für die "sündigen" Menschen umzudeuten. Oder genauer: Diese Theologen unternehmen nichts, um diese schon im erfundenen neutestamentlichen Christus-Mythos vollzogene Umdeutung zu revidieren.

Wie kann es sein, noch im 21. Jahrhundert ganz und gar unkritisch die Heilsbedeutung der göttlichen Kunstfigur Christus zu predigen, Menschen dazu zu bewegen an diese zu glauben, ja sogar zu ihr zu beten?

Bei keinem anderen Thema habe ich die Kluft zwischen dem Bemühen um Rationalität und der Beibehaltung naiver Mythengläubigkeit so intensiv empfunden wie hier. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die linientreuen – oder sich linientreu gebenden – Theologen etwa jenen zuzurechnen sind, die die Kunst der "Doppelzüngigkeit" (Walter Kaufmann) pflegen. Jene Kunst, die es ermöglicht, persönlich etwas ganz anderes zu glauben, die Gläubigen aber in ihrem "falschen, aber buchstabengetreuen Glauben" zu bestätigen, solange bei ihnen »das kritische Bewusstsein unentwickelt oder die natürliche Leichtgläubigkeit ungebrochen ist« (Paul Tillich). Oder wie der Theologe Heinz-Werner Kubitza es ausdrückte: 

"Es verhält sich in übertragenem Sinne so, als wüssten die Theologen längst, dass die Erde eine Kugel ist, lobten dennoch den Glaubenseifer derjenigen, die sie nach wie vor für eine Scheibe halten."

Es ist vielleicht auch nicht auszuschließen, dass die linientreuen Theologen und ihre Kirchenführer zu jenen Vertretern des Christentums gehören, wie sie etwa der Philosoph und "abtrünnige" protestantische Theologe Helmut Groos (1900-1996) erlebte, und die bei ihm immer wieder die Frage auslösten, 

"wie es sachkundigen Theologen, darunter hochbegabte Köpfe, gelehrt, scharfsinnig, ja geistvoll, möglich ist, sich in voller Kenntnis der Probleme nach wie vor eine Position zu eigen zu machen und für sie einzusetzen, die sich mir in ständig erneuter Prüfung als völlig unhaltbar erwiesen hat."

Ich habe den Eindruck, dass die linientreuen Theologen und Kirchenführer ihre Klientel längst falsch einschätzen: Entsprechen doch immer weniger ihrer Schäfchen dem Bild, das Paul Tillich von ihnen zeichnete. Mir scheint, dass die Verzweiflung über den sich beschleunigenden Niedergang ihres Christentums sie inzwischen in geistige Schockstarre versetzte.

Wer sich intensiver mit dem "Sühnetod Christi" und mit den einschlägigen theologischen Aussagen dazu befasst hat und für archaisch-infantile Versöhnungs-, Heils- und Erlösungsfantasien nicht oder nicht mehr empfänglich ist, dem muss das alte Sprichwort »viele Worte und nichts dahinter« als sehr plausibel erscheinen.

Mir kommt ganz unwillkürlich ein Wort des Theologen Franz Overbeck (1837-1905) in den Sinn. Er hatte es zwar mit Blick auf den alttestamentlichen jüdischen Stammesgott formuliert, doch es lässt sich m. E. ganz unverändert auf »Christus«, den neuen Gott des Christentums übertragen:

"Diese Geschichte hat dieser Gott, wie alle seinesgleichen die ihrige, nur in den Köpfen seiner Verehrer erlebt."

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