Sühnetod Christi
– Versöhnung mit Gott, Erlösung der
Gläubigen?
Inhalt
Vorbemerkungen
Nach
verschiedenen Anläufen ist die ursprüngliche
Motivation, mich mit dem sog. »Sühnetod
Christi« ausführlicher zu befassen, merklich
geschwunden: Je länger ich mich mit ihm auseinandersetze,
desto absurder erscheint er mir. Es kommt hinzu, dass bei diesem
zentralen Bestandteil christlichen Glaubens übernatürliche
Ereignisse, wie die »Inkarnation« (Fleisch- bzw.
Menschwerdung) «Gottes» in Christus, die
»Auferstehung« bzw.
»Auferweckung« Christi von den Toten und die
»Himmelfahrt« Christi stets mitgedacht werden
müssen. Im Übrigen kann ich das in christlichen
Gottesdiensten gefeierte »Abendmahl« nur noch als
das sehen, was es trotz aller theologischer
Schönfärberei in Wirklichkeit immer war und heute
noch ist: ein archaisches Opfermahl.
Um zu verstehen, was heute niemand
mehr verstehen kann, wäre es unumgänglich, sich in
die Bewusstseinsstruktur und in die Denkgewohnheiten
spätantiker Menschen hineinversetzen zu können
– das gilt natürlich ebenso für andere
Teilaspekte der christlichen Mythologie.
Wie an anderer Stelle schon
dargelegt, gibt es keine absolute Sicherheit, bestenfalls eine
höhere Wahrscheinlichkeit, dass der "historische" Jesus
wirklich gelebt hat. Diese Relativierung gilt dann natürlich
auch für seine im NT geschilderte Hinrichtung am Kreuz und
für andere Elemente seiner neutestamentlichen
›Biografie‹. Die Zweifel an der geschichtlichen
Wahrheit dieses Geschehens werden zusätzlich genährt
durch die Tatsache, dass der Kreuzestod z. B. auch dem
römischen Gott Mithras
widerfuhr.
Die ersten Verfasser der im Neuen
Testament überlieferten Schriften, die Jesus nicht
persönlich kennengelernt hatten, waren am Menschen
Jesus nicht interessiert, dazu war die Faktenlage einfach zu
dürftig. Sie konstruierten und beschrieben stattdessen von
Anfang an eine mythische Gestalt: die "Kunstfigur" Christus.
Was lag diesen Verfassern näher, als sich an diversen
Göttern spätantiker Mysterien-Kulte zu orientieren
und sie als Vorlage für das Design ihres neuen
Gottes zu nutzen.
Und selbst im 21. Jahrhundert
scheuen sich die Theologen dies klarzustellen. Kaum verwunderlich, denn
sie gingen damit ein zweifaches Risiko ein: Erstens drohte der Einsturz
ihres aus irrationalen Glaubensmeinungen bzw. Illusionen hoch
aufgetürmten religiösen Ideengebäudes, und
zweitens sägten sie damit an dem komfortablen Ast, auf dem sie
es sich so urgemütlich eingerichtet haben.
Und noch etwas muss hier erneut
klargestellt werden: Die vor einigen Jahren in verschiedenen
protestantischen Landeskirchen aufgeflammte und derzeit noch anhaltende
Diskussion des hier behandelten Themas wird von diversen Theologen mit
Formulierungen wie »Kreuzestod Jesu«,
»Sühnetod Jesu«, »Opfertod
Jesu«, die »umstrittene Deutung des Todes Jesu als
ein Gott versöhnendes Opfer« oder »Jesus
von Nazareth starb am Kreuz den Sühnetod für unsere
Sünden« umschrieben – ein seit fast
zweitausend Jahren praktizierter Etikettenschwindel.
Der Name eines weitestgehend unbekannten Menschen
jüdischer Herkunft wurde und wird skrupellos missbraucht
– ob aufgrund einer längst erstarrten Tradition oder
aus schlichter Gedankenlosigkeit ist dabei völlig belanglos.
Nur im rein hypothetischen Fall, dass jemand in diesem Zusammenhang auf
den Namen Jesus nicht verzichten und
intellektuell redlich bleiben wollte, wäre die Verwendung von
Wortkombinationen wie »der erfundene
Jesus« (Gerd Lüdemann), »der
biblische Jesus« oder »der
überlieferte Jesus« einigermaßen
akzeptabel.
Mit Paulus fing alles an
Wenn es um den Sühnetod
Christi geht, kommt man an Paulus
(† um 65) nicht vorbei. Er hat in seinen Briefen
theologische Grundaussagen dazu formuliert, die den meisten Theologen
auch heute noch wichtigste Orientierungshilfe sind. Da das Weltbild des
Juden Paulus von der alttestamentlichen Mythologie geprägt
war, ist es kaum verwunderlich, dass er Querverbindungen zwischen den
im Alten Testament überlieferten Mythen und eigenen Gedanken
über seinen neuen »Herrn« Christus
konstruierte. Hierbei spielte in seinem Denken u. a. der
»Sündenfall« Adams eine entscheidende
Rolle (Röm 5,12f/s. unten).
Anmerkung
Auf den »Sündenfall«
gründet sich bekanntlich auch die Lehre von der
»Erbsünde«. Augustinus (354-430)
beglückte das Christentum mit diesem grotesken theologischen
Konstrukt, und die Kirche hat es in der Folgezeit, neben anderen
Instrumenten, ausgiebig zu psychoterroristischen Zwecken genutzt.
Im Folgenden lasse ich drei Autoren
zu Wort kommen, die sich intensiv mit der paulinischen Theologie
befasst haben. Zum Verständnis der bei Wilhelm Nestle
(1865-1959), Karlheinz
Deschner (1924-2014) und Hubertus
Halbfas (*1932) ausgewählten Zitate
hier einige exemplarische Stellen aus dem Paulusbrief an die
Römer (Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984):
Röm 1,5
»5 Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in
seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden,
…«
Röm 3,24f
»24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch
die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
25 Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne
in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, …«
Röm 4,25
»25 welcher ist um unserer Sünden
willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt.«
Röm 5,8-12,18
»8 Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus
für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
9 Um wieviel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn,
nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind!
10 Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod
seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wieviel mehr werden wir
selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.
11 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes
durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die
Versöhnung empfangen haben.
Adam und
Christus
»12 Deshalb, wie durch einen
Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch
die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen,
weil sie alle gesündigt haben.
[…]
18 Wie nun durch die Sünde des Einen die
Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch
die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die
Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt.«
Röm 8,32
»32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern
hat ihn für uns alle dahingegeben - …«
Wilhelm
Nestle über die Theologie des Paulus
In seinem Buch Die Krisis des Christentums,
im Kapitel Das Evangelium des Paulus, beleuchtet
der Altphilologe und Philosoph Wilhelm
Nestle (1865-1959) u. a. die Wurzeln der paulinischen
Weltanschauung. Danach entwickelte Paulus "seine C h r i s t u s m y s
t i k und seine Theologie" aus der Kenntnis "jüdischer Apokalypsen".
Die von Paulus fantasierte "Mystik besteht in dem Sterben und
Auferstehen mit Christus". Nach Nestle unterscheiden sich "Mystik" und
"Theologie" des Paulus hinsichtlich ihrer Wirkungsmächtigkeit
deutlich:
"Von ungleich
größerer geschichtlicher Wirkung war die paulinische
T h e o l o g i e, in der das Evangelium Jesu zu einem E r l ö
s u n g s m y t h u s umgeschaffen wurde. Denn in dieser Theologie wird
der Christus nur dazu Mensch, um die Menschen von der ganzen
gegenwärtigen Welt durch seinen Tod und seine Auferstehung zu
erlösen und sie ewigem Leben in einem neuen Aeon
zuzuführen. Deshalb bildet Christus, der aus dem
jüdischen Messias zum Weltheiland wird, den Wendepunkt der
Heilsgeschichte und seine Wiederkunft das Ende der Welt und den Anbruch
des Gottesreichs."
Für Paulus hatte "mit dem
Erscheinen Christi" das in der jüdischen Religion streng zu
befolgende "mosaische Gesetz" seine
Gültigkeit verloren. Die für die Ausbreitung des
Christentums folgenreiche Konsequenz, die er daraus zog, beschreibt
Nestle so:
"Paulus aber setzte nun an die
Stelle des Gehorsams gegen das Gesetz den »G l a u b e n s g
e h o r s a m«. Dieser
bezog sich vor allem auf den Glauben an den stellvertretenden O p f e r
t o d C h r i s t i,
durch den er den Zorn Gottes beschwichtigt und den Menschen, Juden wie
Heiden, die ihnen mangelnde Gerechtigkeit vor Gott erwarb und sie so
vor der Verurteilung zu ewiger Verdammnis im Endgericht
schützte."
Hätte sich Paulus damit
nicht gegen die (jüdisch-christliche)
Urgemeinde durchgesetzt, "wäre das Christentum eine
jüdische Sekte geblieben und niemals eine Weltreligion
geworden."
Anmerkungen
- Hervorhebung
im Nestle-Zitat stammt vom Autor der Site.
- Nestle bezieht sich hier auf Röm 1,5 und 3,24f.
- Im Zusammenhang mit dem paulinischen "Erlösungsmythus"
verweist Nestle auf ein Thema, das eine weitergehende Betrachtung
verdiente, die an dieser Stelle aber nicht möglich ist:
"Die Erlösung der
Menschheit durch Christus erfährt nun aber bei Paulus eine
starke Einschränkung durch die Lehre von der P r ä d
e s t i n a t i o n (Vorherbestimmung). Sie gilt nämlich nur
den von Gott »Auserwählten«, und zwar
gehören diese, genau besehen, ihrerseits wieder nur der
letzten vor dem Anbruch des messianischen Reiches lebenden Generation
an."
Nestles Ausführungen
basieren insbesondere auf Römer 8,28f:
»28 Wir
wissen aber, dass denen, die Gott lieben alle Dinge zum Besten dienen,
denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.
29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch
vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes,
damit dieser der Erstgeborene ist unter vielen
Brüdern.«
Mit Bezug auf den Propheten
Jesaja (10,22) fährt Nestle fort:
"Dieser hat auch schon
vorausgesehen, dass von Israel nur ein kleiner Rest werde gerettet
werden. Diese letztere Bemerkung verrät uns auch die Quelle
dieser furchtbaren Lehre: Es ist die durch die alttestamentlichen
Propheten vorbereitete spätjüdische Eschatologie."
Immer wieder zeigt Nestle auf, dass
Paulus "noch tief im jüdischen Denken" steckt, auch wenn er
"das unbestreitbare Verdienst hat, das Christentum vom Judentum
losgelöst zu haben":
"Er kommt nicht los von dem
zornigen Judengott, der »versöhnt« werden
und dem ein Opfer fallen muss, wenn er Sünde vergeben soll,
und wäre es das Blut seines eigenen Sohnes. Jüdisch
ist auch sein ethischer Pessimismus, der in seiner Lehre von der
Sünde zum Ausdruck kommt und der ihn im Tod nicht einen
Naturvorgang, sondern der »Sünde Sold«
erblicken lässt." (s. auch hier)
Auf dem Hintergrund der oben
skizzierten paulinischen Glaubensmeinungen analysiert Wilhelm Nestle
das "Verhältnis von Jesus zu Paulus". Dabei ist aber leider
nicht erkennbar, mit welchem Jesus er Paulus
vergleicht. Es wird auch nicht deutlich, ob Nestle mit den Ergebnissen
der historisch-kritischen Schriftforschung vertraut war und die
Unterscheidung zwischen echten und unechten
Jesusworten kannte. Daher unterstelle ich, dass er seinen Vergleich auf
jene Jesus-Gestalt und die ihr zugeschriebenen Glaubensaussagen
stützte, die in den Jahrzehnte nach Paulus Tod verfassten
neutestamentlichen Schriften, vornehmlich in den vier Evangelien,
beschrieben werden.
Auch wenn ich dem von Nestle und
den folgenden Autoren angestellten Vergleich allenfalls den Wert einer
akademischen Übung zubilligen kann, finde ich ihn insoweit
interessant, als er exemplarisch die vielen Widersprüche in
den überlieferten neutestamentlichen Schriften aufzeigt:
"Fragt man nach dem V e r h
ä l t n i s v o n J e s u s z u
P a u l u s, so kann man es kaum besser formulieren als mit
den Worten: »Paulus dient seinem Herrn Jesus Christus zwar
mit größtem Eifer, aber nicht in Jesu
Sinn«. Paulus beruft sich nie auf die Autorität des
geschichtlichen Jesus. […] Zwar ist auch nach Paulus
»die Liebe des Gesetzes Erfüllung« und
niemand hat die Liebe höher und schöner gepriesen als
er in dem berühmten Hymnus des ersten Korintherbriefs.
[…] Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass
nach Paulus das Beherrschende im christlichen Bewusstsein nicht die
Liebe, sondern der G l a u b e (Pistis) ist. Die Liebe ist also nichts
Unmittelbares, wie bei Jesus, sondern etwas Mittelbares als eine F r u
c h t d e s G l a u b e n s, wie alle anderen
christlichen Tugenden auch." […] Bei den Worten Jesu
befindet man sich fast immer in der Sphäre eines
natürlichen, unverbildeten, rein menschlichen Denkens; das
Herz sagt ja dazu und der Verstand spricht nicht dagegen. Bei Paulus
dagegen herrscht ein verkünsteltes, von fantastischen
Voraussetzungen und besonders von einer ganz absurden Gottesvorstellung
[…] ausgehendes Denken, das sich nicht selten in Rabulistik
verliert. Jesus war ein religiöser Genius, Paulus ist der
erste christliche Theologe; ja man wird ihn vielleicht noch richtiger
einen Theosophen nennen. Ihn zu einem großen Denker machen zu
wollen, ist verlorene Liebesmühe. Nicht im Denken, sondern im
Willen und in der Glut der Leidenschaft liegt seine Stärke.
P a u l u s i s t a l s o n i c h t
d e r F o r t s e t z e r d e s
E v a n g e l i u m s J e s u, s o n d e
r n e r h a t e i n a n d e r e
s E v a n g e l i u m, d a s E v a n g e
l i u m v o n J e s u s, das er unmittelbar von
Gott empfangen zu haben vermeint, a n d e s s e n S
t e l l e g e s e t z t […]. Den Inhalt dieses
Evangeliums bildet der Glaube an die Erlösung durch Tod und
Auferstehung Jesu Christi, des Sohnes Gottes."
Anmerkungen
- Zu Beginn des eben eingefügten
Textabschnittes zitiert Nestle seinen Freund, den Theologen und
Philosophen Christoph Schrempf
(1860-1944).
- Den von Nestle erwähnten "Hymnus" - »Das hohe Lied
der Liebe« - findet man im 1. Korintherbrief, im 13. Kapitel.
Karlheinz
Deschner über die "Erlösungslehre" des Paulus
In seinem 1988 erschienenen Buch Der gefälschte Glaube
beschreibt Karlheinz Deschner
(1924-2014) u. a. den Einfluss des Paulus auf den Prozess der Vergottung
des Menschen Jesus zum Gott Christus. Diesem neuen
Gott wurde dann die Rolle des ersehnten
»Erlösers« für alle Menschen, die
an ihn glaubten, auf den Leib geschrieben. – Der
Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, was ich in
diesem Zusammenhang ebenfalls bei Karlheinz Deschner fand: Paulus hat
Christus nie mit Gott gleichgesetzt. Er war darin ein Vertreter der "subordinatianischen Christologie".
Die »Wesensgleichheit« des Sohnes mit dem Vater war
ihm daher fremd. Diese wurde erst etwa zweihundertsiebzig Jahre
später in Nicäa
(325) beschlossen(!).
Die nachfolgend zitierten Abschnitte
hat Karlheinz Deschner aus seiner schon 1962 erstmals
veröffentlichten "kritischen Kirchengeschichte" Abermals krähte der Hahn
entlehnt:
"Nach allem, was von Jesus
überliefert wird, lag seinem Denken die paulinische
Erlösungslehre völlig fern. Verkündet er
doch den »Vater«, der nicht erst durch
sühnende Mittlerschaft dem bereuenden Sünder vergibt,
sondern jedem, der selbst zur Vergebung und Umkehr bereit ist; der den
Sünder, wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, sogar sucht.
Jesus macht Sündenvergebung nicht abhängig von seinem
Tod, sondern, wie er im Vaterunser und an anderen Stellen lehrt, einzig
vom vergebenden Verhalten des Menschen gegenüber seinem
Mitmenschen. Wäre sein Tod von ihm als notwendig für
Erlösung und Sündenvergebung erachtet worden,
hätte er sagen können, der Kelch möge an ihm
vorübergehen; und »Deine Sünden sind dir
vergeben«? Die Erlösungstheorie entstand erst, als
das überraschende Ärgernis des Kreuzestodes
– »in Wahrheit ein Unglücksfall und nichts
weiter« – die Christen zu einer Umdeutung zwang.
Damit aber wurde die ursprüngliche Lehre nicht nur gewandelt,
sondern entwertet."
In seiner Antwort auf die Frage
"Woher also bezog Paulus die Erlösungstheorie?" legt Karlheinz
Deschner dar, aus welchen Quellen Paulus in seiner
spätantik-hellenistischen Umwelt schöpfen konnte:
"Schon den Primitiven war die
Abwaschung der Sünde durch einen Blutbrauch bekannt. Uralt ist
aber auch der Glaube an die Erlösung der Menschheit durch den
»Sohn«. So wurde in der altbabylonischen Religion Marduk
von seinem Vater Ea zu den Menschen gesandt, um sie zu retten Auch Herakles
und Dionysos waren solche auf die Erde
herabgekommene Erlösungsgötter. Im Mithraskult
wusch das auf den Gläubigen träufelnde Blut eines
getöteten Stieres die Sünde ab. Im Sanskrit bedeutet
das Wort für »religiös verehren«
(aradh) eigentlich »versöhnen«,
»Zorn stillen«.
Altbekannt war in der Antike auch die Vorstellung vom König,
der für sein Volk leidet und stirbt. […] Um 200
schreibt Kirchenvater Tertullian:
»Der Diana der Skythen, dem Merkur der Gallier und dem Saturn
der Afrikaner war es in der Heidenwelt vergönnt, sich durch
Menschenopfer versöhnen zu lassen; dem lateinischen Jupiter
zu Ehren wird noch heute mitten in Rom Menschenblut
vergossen.« Um die Mitte des 3. Jahrhunderts bezieht sich
auch Origines klar auf jenen typisch
antiken Gedanken vom König und Gerechten, der für die
Vergehen seines Volkes leidet und stirbt, wenn er von den
»vielen Erzählungen der Griechen und
Barbaren« spricht, »die davon handeln, dass einige
für das allgemeine Wohl gestorben sind, um ihre
Städte und Völker von den Übeln zu befreien,
die sie bedrückten«. Manchmal tötete man
bei solchen Versöhnungsakten auch Verbrecher, wie noch
später im griechischen Rhodos
und in Massilia. […]
Derartige Bräuche waren Paulus bekannt, der selbst einmal
darauf anspielt und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen umso
leichter aufgreifen konnte, als man auch Jesus als Verbrecher
hingerichtet hatte. Und wie das Blut all der vor ihm geopferten
Menschen sühnende Kraft besaß, so auch das seine.
Immer wieder predigt Paulus von Versöhnung
(katallagé) und Erlösung (apolýtrosis),
von dem Sühnemittel »in seinem Blute«, der
Erlösung »durch sein Blut«, der
Friedensstiftung »durch sein am Kreuz vergossenes
Blut«. Der Gedanke, Gott könnte vielleicht auch ohne
»offizielle« Satisfaktion eine Schuld vergeben,
kommt ihm offenbar gar nicht."
Deschner ergänzt, Paulus
seien "selbstverständlich auch die Sühnegedanken des
Alten Testaments […] vertraut" gewesen. Er betont, dass die
diversen Sühnetraditionen damals "so geläufig
gewesen" seien, "dass die Evangelien für Jesu
Sühnetod überhaupt keine weitere Erklärung
geben …." Deschner wirft dann, mit Blick auf die
Menschheitsgeschichte, die berechtigte Frage nach der
Plausibilität des Zeitpunktes der Erlösung durch
Christus auf:
"Warum dies so spät
geschah, warum die Menschen der vorausgehenden Jahrhunderttausende
nicht gerettet wurden, bleibt natürlich unerfindlich."
Lapidar stellt er danach fest:
"Dagegen ist klar, dass Jesus
Erlöser werden musste, kam man damit doch einem
religiösen Bedürfnis der Massen entgegen, die
allenthalben nach Heilanden, Rettern, Erlösern Ausschau
hielten. Und wollte das Christentum entscheidenden Einfluss gewinnen,
musste auch bei ihm die Nachfrage das Angebot bestimmen."
Hubertus
Halbfas über Paulus und (den biblischen)
Jesus
Vom katholischen Religionspädagogen Hubertus
Halbfas (*1932) erschien in Publik-Forum Nr. 6
· 2010 ein Beitrag mit dem Titel Zurück
zum Ursprung – Jesus lehrte,
mitmenschlich zu leben – doch die Christen entwickelten eine
Lehre über Jesus – so wird es nicht bleiben.
Darin, wie könnte es anders sein, musste auch Paulus vorkommen.
Bevor er sich mit Paulus befasst,
öffnet er zunächst jedoch den Blick für
wichtige Strömungen im frühen Christentum, die
geprägt waren von unterschiedlichen gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen in der jüdischen Umwelt einerseits und der
hellenistischen andererseits:
"Der Jude Jesus, der in
jüdischer Weise glaubte und in der alltäglichen Welt
ihre göttliche Bestimmung zur Sprache brachte, hat mit seiner
Botschaft in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod nur in der
palästinischen Welt überlebt. Die Dokumente, die
davon zeugen, sind die Spruchquelle Q und das Thomasevangelium. Beide Schriften
geben ausschließlich die Verkündigung Jesu weiter,
kennen aber weder Wundererzählungen noch Passionsgeschichte
und Osterbotschaft. Sie zeugen davon, dass in Palästina die
Jesusbewegungen – ohne eigene Gemeindegründungen
– das fortsetzten, was der Wanderlehrer Jesus seinerseits tat
und seine Schülerinnen und Schüler zu tun lehrte.
Ganz anders die Entwicklung in den hellenistischen Städten.
Hier fanden im Milieu des Diasporajudentums und des damit
sympathisierenden Heidentums von Anfang an Gemeindegründungen
statt. Aus ihnen ging ein Christuskult hervor, dessen zentrale
Botschaft nicht mehr die Reich-Gottes-Programmatik Jesu war, sondern
die Deutung des Todes Jesu und die Verkündigung seiner
Auferstehung.
Während Jesus als sein Evangelium lehrte, wie in dieser Welt
mitmenschlich gelebt werden kann (wenn dieses Leben ganz von Gott her
verstanden wird), wurde dieser Inhalt nun ausgetauscht gegen die
Botschaft von Jesus als dem Christus, dem Gekreuzigten und
Auferstandenen. Das zentrale Programm Jesu trat zurück hinter
die Deutung seiner Person. Während Jesus keine Lehre
verkündete, die zu glauben sei, sondern eine Existenzform
praktizierte, die gelebt werden will, entwickelte sich im
hellenistischen Milieu die metaphysische Vorstellung von einem
präexistenten Gottessohn, den Gott gesandt habe, um die
Menschheit durch seinen Tod am Kreuze wieder mit sich zu
versöhnen."
Halbfas diagnostiziert eine "nicht
zu überschätzende Differenz" in der Auffassung vom
»Evangelium« (Frohe Botschaft) und bezieht sich
insbesondere auf Paulus:
"Paulus zum Beispiel fordert nun
»Glaubensgehorsam«. War Jesu Evangelium noch
wirkliche Freudenbotschaft, zumal für die Bedrängten
und gesellschaftlich Randständigen, so kommt nun ein drohender
Unterton auf. Hinter der Hervorhebung, nur noch den Gekreuzigten und
Auferstandenen kennen zu wollen, geht Jesu Reich-Gottes-Programmatik
verloren. Die Reich-Gottes-Botschaft, das zentrale Programm Jesu, wird
nicht mehr aufgegriffen. Paulus hat es nicht erkundet; er bezieht sich
auf kein einziges Gleichnis Jesu, auch nicht auf jenen zentralen Kern,
den wir unter dem Stichwort Bergpredigt kennen."
Die zitierten Gedanken von Hubertus
Halbfas zeigen eine weitgehende Übereinstimmung in der
Einschätzung der unterschiedlichen Glaubensmeinungen des
Paulus und des biblischen Jesus zwischen ihm und Wilhelm Nestle (s.
oben).
Ich war bei Karlheinz Deschner (1924-2014) schon
vor längerer Zeit auf ein Wort des Theologen Franz
Overbeck (1837-1905) gestoßen, das die
von unterschiedlichen Autoren angestellten Betrachtungen der
religiösen Fantasien des Paulus abrunden soll:
"Alle schönen Seiten des
Christentums knüpfen sich an Jesus, alle unschönen an
Paulus. Gerade dem Paulus war Jesus unbegreiflich."
Linientreue und vorsichtig kritische Positionen zum »Sühnetod
Christi«
Nach dem Ausflug in die
Frühzeit des Christentums und die Entwicklung grundlegender
religiöser Fantasien zum "Sühnetod Christi" durch
Paulus folgt eine abenteuerliche Tour durch das Gestrüpp
religiöser Anschauungen heutiger christlicher Theologen zum
selben Thema. Selbst der spätantike religiöse
Enthusiast Paulus würde wohl über die eine oder
andere unüberbietbare Glaubensfantasie dieser modernen
Fantasten staunen.
Ein evangelischer Theologe verstieg
sich z. B. in Publik-Forum Nr. 19 · 2010 zu folgender
absurder Formulierung:
"Für mich liegt etwas
Heilvolles darin, dass sich Gott selbst in Jesus der Gewalt des
Menschen und dem Tod ausgesetzt hat. Im Leiden kommt er uns nahe. Gott
weiß, was Leiden bedeutet, er hat es in Jesus am eigenen Leib
erlebt. Nicht nur die Kreuzigung, auch die Demütigung, die
Beleidigungen, die Schamlosigkeit, den Verrat. Für mich ist
diese Botschaft vom Kreuz etwas ganz kostbares: Gott identifiziert sich
mit den Leidenden."
Was für einen Gott hat
dieser Theologe sich denn da zurechtfantasiert? Ein
allmächtiger und allwissender Gott musste Erfahrungen sammeln?
Erst seit seiner Kreuzigung weiß er, "was Leiden bedeutet, er
hat es in Jesus am eigenen Leib erlebt"? Absurder geht's wirklich nicht!
Immerhin hielt ihm ein anderer
evangelischer Theologe nüchtern entgegen (Publik-Forum Nr. 20
· 2010, S. 32):
"Die These, dass Gott selbst am
Kreuz gestorben sei, ist mit der Bibel nicht zu belegen. In der
Passionsgeschichte der Bibel wird der Vater von Jesus immer
unterschieden."
Diese Feststellung stammt
übrigens vom ehemaligen Bonner Superintendenten der
Evangelischen Kirche im Rheinland Burkhard
Müller (*1939). Wie Publik-Forum in Nr. 20
· 2010 anmerkt, hatte Müller "mit kritischen
Hörfunk-Ansprachen im WDR eine öffentliche
Auseinandersetzung in der rheinischen Landeskirche über den
Sinn und Unsinn der Kreuzestheologie ausgelöst." Er kommt
allerdings, trotz seiner kritischen Haltung, über sein
theologisch geprägtes Weltbild nicht hinaus. Für ihn
ist der Tod Christi zwar kein "Sühneopfertod", sehr wohl aber
ein "Opfertod":
"Ja. Jesus hat sich geopfert, ist
um unseretwillen Mensch geworden und dann am Kreuz gestorben. Warum? Um
uns die unbedingte Ernsthaftigkeit seines Glaubens an die unendliche
Güte Gottes zu zeigen. Er hätte ja auch in den
Norden, nach Galiläa, fliehen können. Aber das hat er
nicht getan. Er hat sich geopfert. Jesu Tod war ein Opfertod. Aber kein
Sühneopfertod."
Auch Müller schreibt den
Etikettenschwindel der Theologen fort (s. oben)
und offeriert uns seine persönliche Glaubensmeinung. Seiner
Behauptung sei eine plausible nüchterne Feststellung der
beiden katholischen Theologen Karlheinz Deschner (1924-2014) und Horst Herrmann (1940-2017)
gegenübergestellt. In ihrem Buch Der Antikatechismus - 200
Gründe gegen die Kirchen und für die Welt sagen
sie kurz und bündig:
"Die Behauptung, Jesus habe seinen
Kreuzestod freiwillig auf sich genommen, ist absurd. Todessehnsucht ist
dem jüdischen Denken ganz fremd."
Als Antwort auf die abweichende
Position Burkhard
Müllers und auf die von ihm ausgelöste
kontroverse Debatte veröffentlichte die Evangelische Kirche im
Rheinland (EKiR) eine umfangreiche offizielle
Sprachregelung. Sie erschien im Februar 2010 unter dem Titel AUS
LEIDENSCHAFT FÜR UNS – Zum Verständnis des
Kreuzestodes Jesu. Aus diesem Elaborat der EKiR hier nur
eine kurze Kostprobe:
"4.3 War
der Tod Jesu ein Sühnopfer?
Die Frage lässt sich einfach
beantworten: Er war es nicht. […] Der Tod Jesu war keine
religiöse Opferung, sondern die römische Todesstrafe
für einen Unruhestifter. Eine Opferung ist – schon
als Phänomen – ein völlig anderer Vorgang.
Doch diese Auskunft ist banal."
Als ich das las, war ich
verblüfft. Soviel Realitätssinn hatte ich nicht
erwartet. Danach folgt die Erklärung, warum das
"Sühnopfer" dennoch in die Bibel kam:
"Als seine Jüngerinnen
und Jünger versucht haben, den Tod Jesu theologisch zu
verstehen, haben sie aus der Tradition, in der sie selbst zu Hause
waren, das Bild vom »Sühnopfer«
aufgenommen."
Auch danach folgt etwas
Nachvollziehbares:
"War die Vorstellung des
Kreuzestodes Jesu als kultisches Opfer im Neuen Testament noch eine
Deutung neben anderen, so wurde der
»Sühnopfertod« im Verlauf der Theologie-
und Frömmigkeitsgeschichte, in Poesie, Literatur und Musik
immer mehr in das Zentrum gerückt."
Es folgen dann, mit Bezug auf
"alttestamentliche Traditionen" der "Opferpraxis", Sätze, wie
dieser:
"Im Ritus des Opfers wird die
eigene Schuld anerkannt und Gottes Vergebung geradezu sinnlich
vergegenwärtigt und gefeiert. Sühnopfer und freie
Vergebung Gottes sind keine Gegensätze; die Opferhandlung ist
Funktion und Medium der Vergebung."
Unvermittelt befindet man sich in
der skurrilen Welt theologisch-kryptischer Interpretations- und
Deutungskünste. Wer aber glaubt, es könne nicht noch
skurriler werden, wird am Ende des zitierten Abschnitts eines Besseren
belehrt:
"Der neutestamentliche
Sühnopfergedanke ist darum ohne das Bekenntnis »Gott
war in Christus« unbrauchbar. Gott fordert nicht ein
Menschenopfer, er gibt sich selbst. Spätestens hier wird auch
deutlich, dass das Blut Christi Symbol für den Tod ist. Es war
nicht das physische Blut, das uns rettet, sondern sein Tod an unserer
Stelle, das durch sein Blutvergießen symbolisiert wird. Um
Gottes willen muss und soll kein Blut fließen."
Durch "das Bekenntnis
»Gott war in Christus«" wird der
"Sühnopfergedanke" also brauchbar, denn
Gott "gibt sich selbst"? Das "Blut Christi" wird nur vergossen als
"Symbol für den Tod", der "uns rettet"?
Da Gott selbst stirbt, wird das Blut Christi schließlich
nicht seinetwillen vergossen?!
Das, was die theologischen
Geistesgrößen der EKiR sich da ausgedacht haben und
ihren Schäfchen noch im 21. Jahrhundert zumuten, entspricht in
etwa dem geistigen Niveau der unsäglichen spätantiken
"Räubersynoden" des 4. und 5. Jahrhunderts. Es ist ganz
offensichtlich jenes Niveau, über das die im
"staatskirchenrechtlich geschützten Theotop" (Friedrich Wilhelm Graf)
von der Gesellschaft ausgehaltenen Theologen und
Kirchenfunktionäre bis heute nicht hinausgelangten. Dies halte
ich für einen kaum zu überbietenden Skandal.
– Wann wacht diese Gesellschaft endlich auf und schaut sich
das Treiben ihrer Kostgänger einmal genauer an?
Der Theologe Klaus-Peter Jörns
(*1939) hatte in seinem Buch Notwendige
Abschiede in 2004 seinen Abschied vom
Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und
von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier
veröffentlicht. Für die Evangelische Kirche in Hessen
und Nassau (EKHN)
war dies wohl der wesentliche Auslöser, eine entsprechende
"Stellungnahme" zu erarbeiten. Sie erschien im März 2008 unter
dem Titel Stellungnahme des Leitenden Geistlichen Amtes zur
umstrittenen Deutung des Todes Jesu als ein Gott versöhnendes
Opfer. In der einleitenden Darstellung unterschiedlicher
"Thesen zur Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer" steht am
Ende des Jörns gewidmeten Abschnitts: "In Jörns
Streitschrift spiegelt sich das verbreitete Unbehagen an der Rede vom
Sühnopfer Christi, das auch viele in unserer Kirche erfasst
hat."
Um einen Eindruck von dem, um es
vorsichtig zu sagen, aus einem anachronistischen Weltbild gespeisten
abstrusen Denken der verantwortlichen Theologen zu vermitteln, sei hier
ein Abschnitt aus der "Stellungnahme" der EKHN zitiert:
"Bleibt noch zu klären,
wie die kritischen Einwände gegen ein Verständnis des
Todes Jesu zu beurteilen sind, wenn dieser Tod als stellvertretend
»für uns« bzw. »für
unsere Sünden« bezeichnet wird, wie dies z. B. in
Jesaja 53,5 geschieht.
Wenn dieses »für« sich auf die
Sünde bezieht, dann bedeutet es: Christus ist
»wegen« der Sünde gestorben. Hinter dieser
Auffassung steht die theologische Überzeugung, dass so wie der
Tod durch die Sünde in die Welt kam, die Sünde wieder
durch den Tod hindurch in ihrer lebensfeindlichen Wirkung aufgehoben
werden kann.
Anders muss die Wendung verstanden werden wenn sich das
»für« auf »uns« oder
»die Welt« bezieht. Dann bekommt das
»für« den Sinn von
»zugunsten«. Im Tod Jesu - so meint dieses
»für« - »geschieht etwas mit
uns« (W. Härle, Dogmatik).
Im Sinne der klassischen Opferlogik des weisheitlichen
Tun-Ergehens-Zusammenhangs ist das Verständnis des
»für« im Sinne von
»anstatt«, »an unserer Stelle«
immerhin verständlich. Denn Christus bzw. Gott tritt ja
»für uns« d. h. für die Folgen
unserer Sünde an unsere Stelle. Denn wir Sünder sind
es, die den Tod verdient haben. Dennoch kann die
»Stellvertretung Jesu« nach den neutestamentlichen
Texten nicht bedeuten, dass uns durch seinen Tod Leid und Sterben
erspart bleiben würden. Wir bleiben endliche Lebewesen und
seufzen mit der ganzen Schöpfung »in uns selbst und
warten auf die … Erlösung unseres
Leibes!« So hat Paulus diesen Sachverhalt formuliert
(Röm 8,23). Auch nach Kreuz und Auferstehung Jesu bleiben wir
»auf Hoffnung hin gerettet« (Röm 8,24).
Daher muss im Licht der nachösterlich veränderten
Zeichensprache auch hier die klassische Opferlogik durchbrochen werden,
auch wenn ihre Metaphorik erhalten bleibt."
Anmerkungen
- Hier wird u. a. die archaisch-infantile
Vorstellung, dass "der Tod durch die Sünde in die Welt kam",
ungeniert aufrechterhalten.
Immerhin zeigt sich die EKHN
im Schlusskapitel ihrer Stellungnahme als ansatzweise "liberal".
Eingangs zumindest, um dann doch sehr rasch in die alte Denke bzw. ins
"christliche Wirklichkeitsverständnis" antik-hellenistischer
Prägung zurückzufallen:
"Unser Fazit zur Beantwortung der
Ausgangsfrage lautet also: Niemand muss die Heilsbedeutung des Todes
Jesu mit Hilfe der Metaphorik des Sühnopfers auslegen (Ingolf
U. Dalferth, Gerd Theissen). Aber man kann sie auch in der Moderne als
theologische Zentralidee verwenden, weil sie in ganz besonderer Weise
dem christlichen Wirklichkeitsverständnis und dem Gottesbild
entspricht, das von dem Gott herkommt, der im Leben begegnet und dessen
Willen mit Hilfe der biblischen Überlieferung gedeutet werden
kann (Carl Heinz Ratschow, Gerd Theissen)."
Ich bin bei meinen Recherchen noch
auf eine weitere Publikation gestoßen, die sich ebenfalls mit
dem hier behandelten Thema befasste: Das vom Verband der Vereine
evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V. monatlich
herausgegebene DEUTSCHE(S) PFARRERBLATT
veröffentlichte im Frühjahr 2010 die "kontroversen
Positionen" zweier Theologen zur "Deutung des Todes Jesu als
Sühnopfer". Die "Kontrahenten" waren Ulrich Eibach
(*1942) und Klaus-Peter Jörns
(*1939).
Der Beitrag des wohl eher
konservativen Theologen Ulrich
Eibach trug den Titel Versöhnung
zwischen Gott und Mensch im stellvertretenden Tod Jesu Christi
– Ein Theologumenon ohne Wirklichkeitsbezug? Hier
ein kurzer Auszug:
"Die stellvertretende
Lebenshingabe Jesu Christi, des Sohnes Gottes, für die
Sünden der Welt ist die tiefste und endgültige
Offenbarung der bedingungslosen Liebe Gottes zum Menschen. Sie ist
darin zugleich das dem Menschen Heil, versöhntes und
»ewiges Leben« in Gemeinschaft mit Gott schaffende
Ereignis und insofern das Zentrum und das unverwechselbare Proprium des
christlichen Glaubens, gerade im Vergleich mit anderen Religionen."
Anmerkung
- Über den von Eibach verwendeten Begriff Theologumenon
steht im Duden: »(nicht zur eigentlichen Glaubenslehre
gehörender) theologischer Lehrsatz«.
Eibach schmückt seine,
zweifellos in einem fortgeschrittenen Stadium göttlicher
Erleuchtung empfangene Vision von der "tiefsten und
endgültigen Offenbarung der bedingungslosen Liebe Gottes zum
Menschen" fantasievoll weiter aus und konkretisiert,
"dass nicht ein Mensch geopfert
wird, sondern dass es Gott selbst ist (2. Kor. 5,19), der sich in
seinem Sohn stellvertretend in der Sünder
Hände ausliefert und für die Sünde der Welt
stirbt (1. Joh. 2,2). Jesus Christus ist nicht nur an
der und durch die Sünde der Menschen
gestorben, sondern Gott hat diesen an sich sinnlosen Tod Jesu auf sich
selbst genommen und ihn durch die Auferweckung Jesu Christi von den
Toten von einem von Menschen verursachten sinnlosen Geschehen
verwandelt in ein sinnhaftes, neues Leben in Gemeinschaft mit Gott
eröffnendes Geschehen (1. Kor. 15,17), indem er die
Sünde, die Feindschaft der Menschen gegen Gott (Röm.
5,8-10) und den Tod in der Gottverlassenheit als Folge der
Sünde (Röm. 6,23) auf sich selbst nimmt und ihn so
besiegt."
In seinen Überlegungen
blitzt an einer Stelle eine richtige Erkenntnis auf. Dort
nämlich, wo Eibach von dem "an sich sinnlosen Tod Jesu"
spricht. Eine einfache und klare Beschreibung der brutalen Hinrichtung
des Menschen Jesu. Für Theologen ist diese einfache und klare
Erkenntnis wohl zu schlicht und viel zu transparent, um daraus das
»Mysterium« der unverdienten Erlösung der
sündigen Menschen durch einen sterbenden Gott zu fantasieren.
Der kurze Auszug aus Eibachs
Überlegungen dokumentiert einmal mehr, dass Theologen, die
verzweifelt versuchen, den im Neuen Testament versammelten
antik-hellenistischen Denkfiguren irgendeinen Sinn zuzuschreiben, nur
verquasten Unsinn produzieren können.
Eibach gehört darüber hinaus zu jenen Bewohnern des
theologischen Denk-Gettos, die u. a. noch unverdrossen daran glauben,
dass der Tod durch den Sündenfall Adams in die Welt gekommen
sei, und dann von Gott "besiegt" werden musste!
Der eher (vorsichtig)
kritische Theologe Klaus-Peter
Jörns vertrat seine Position unter der
Überschrift Warum musste Jesus sterben? - Eine
historische und eine theologische Antwort. Gleich zu Beginn
seiner Ausführungen gibt Jörns seine Antwort auf die
in der Überschrift gestellte Frage:
"Meine Antwort hat zwei Teile. Der
erste lautet: Jesus wurde als angeblicher
Thronprätendent (»INRI«) diffamiert und
hingerichtet, weil er – wie zu zeigen sein wird –
mit seiner Gottes-Verkündigung in Wort und Tat in einen
unüberbrückbaren Gegensatz zur offiziellen
jüdischen Theologie und vor allem zu dem von ihr
geprägten Kult geraten war. Außerdem hatte er die
von einem teil seiner Anhänger auf ihn gerichtete
nationalmessianischen Erwartungen zurückgewiesen. Der zweite
Teil der Antwort lautet: Eine Notwendigkeit für sein Leiden
und Sterben im Sinne eines – auf Gottes Willen weisenden
– »Muss« hat es nicht gegeben, wenn ich
die entsprechende Überlieferung aus heutiger
Verantwortung und angesichts der Wirkungsgeschichte der
Sühnetheologie und der sie bestimmenden Verbindung von Heil
und tödlicher Gewalt theologisch beurteile. Gott hat mit Jesu
Tod dadurch zu tun, dass er denen, die Jesus hingerichtet hatten, nicht
das letzte Wort gelassen, sondern ihn Ostern als Licht der Welt
erwiesen hat."
Der letzte Satz dieses Zitats zeigt
sehr anschaulich, dass selbst der einigermaßen kritische
Jörns nicht aus seiner theologisch gegerbten Haut kann, auch
wenn er kurz darauf noch einmal nachlegt:
"Ein »Muss«
für den Tod Jesu zu behaupten, um durch ihn Vergebung und
Versöhnung mit Gott und damit auch eine Rechtfertigung zu
erlangen, ist ein theologisches Konstrukt, das die Hinrichtung Jesu
unbedingt als Heilsgeschehen deuten möchte."
Jörns zeigt mit dieser
Bemerkung eine schon in seinem Buch Notwendige Abschiede
formulierte Haltung. Dort schrieb er:
"Ich habe mir angewöhnt,
nicht mehr die kirchliche Sprache zu benutzen, nicht mehr vom Kreuz
Christi zu reden, sondern ausdrücklich von der Hinrichtung
Jesu."
Er weist dann u. a. auf
Einflüsse jüdischen Denkens auf die Entwicklung des
frühen Christentums hin:
"Aus den jüdischen
Freiheitskriegen kam die Märtyrertheologie hinzu, die sagte,
dass Menschen, die für die Tora
den Märtyrertod erlitten hatten, Sühne für
Israel bewirkten. Vor allem, nachdem die Judenchristen nicht mehr am
Tempelkult teilnehmen konnten, und noch mehr, als 70 n. Chr. der Tempel zerstört
worden war und es keinen Versöhnungstag und keine anderen
Sühneopfer mehr gab, konnte der als Opfer und Martyrium
gedeutete Tod Jesu (vgl. Phil. 2,8) den Kult und die durch ihn bewirkte
Sühne ersetzen. Als Metaphern traten außerdem das
stellvertretende Leiden des Knechtes Jahwes
(Jes. 53), das Bundesopfer (Ex. 24,8), Gedanken vom Loskauf, das
Osterlamm und andere Symbole in den Deutungsprozess ein. Dadurch wurden
Brücken zwischen dem jüdischen und hellenistischen
kulturellen Gedächtnis einerseits und der Tragödie
des Leidens und Sterbens Jesu andererseits geschaffen. Die Passion Jesu
war zum Kultdrama geworden, die Messe zum Ort seiner
Aufführung."
Und er zeigt auf, wie leichtfertig
es ist, traditionelles Denken nicht zu hinterfragen:
"Ich verstehe, auch aus meiner
eigenen Entwicklung, dass es uns eine Zeit lang beeindrucken kann,
gesagt zu bekommen, wir seien Gott so wichtig, dass er seinen eigenen
Sohn für uns ans Kreuz geschickt habe. Gerade in der
Krankenhausseelsorge ist die Versuchung groß, einem leidenden
Menschen dadurch helfen zu wollen. Aber bei genauerem Hinsehen steckt
in diesem Trost doch die trostlose Botschaft, dass Gott nicht nur aus
seiner Liebe heraus mit uns Menschen mitleidet, sondern nur auf dem
Umweg über Jesu Tod; und diese trostlose Botschaft
enthält eine weitere, die darin liegt, dass Gott Jesu Leiden
instrumentalisiert hat, weil er so oder so Sühne
will."
Jörns bezieht sich
abschließend auf die "gegen mein Buch »Notwendige Abschiede«
gerichtete Stellungnahme zur Deutung des Todes Jesu als
Sühnopfer" der EKHN (s. oben):
"Obwohl die EKHN ihrerseits im
Sühnopfergedanken […] eine »theologische
Zentralidee« auch für die Moderne erkennen will, ist
die Erkenntnis richtig, dass eine auf Sühne bestehende
Theologie nur eine im 1. Jh. n. Chr. weltweit geläufige Metapher
gewesen ist und nicht den Anspruch erheben kann, das Geschehen auf
Golgatha quasi objektiv zu benennen. Dass überall auf der Welt
nach Sühne gerufen wird, ist wahr, aber dadurch wird die Welt
nicht besser, sondern geschieht immer wieder neues Unrecht, geschehen
immer neue Übergriffe auf das Leben anderer. Dass das
Christentum dafür eine Mitverantwortung trägt, ist
evident und bedarf theologischer Konsequenzen."
Der letzte Satz erscheint mir als
sehr wichtig in der (stets) aktuellen Debatte über das
Gewaltpotential in den Glaubensinhalten der Religionen, in der von
geschichtsvergessenen Christen allzu häufig nur
auf den Islam gezeigt wird.
Wie leicht festzustellen ist,
vertreten die Kontrahenten unvereinbare Positionen zum
»Sühnetod Christi«. Ein gewisser
Wirklichkeitsbezug lässt sich allenfalls bei Jörns
erkennen.
Kritische
Positionen zum »Sühnetod Christi«
Im vorausgehenden Abschnitt wurden
nur in der jüngsten Vergangenheit publizierte theologische
Positionen dargestellt. Hier kommt eingangs jemand zu Wort, dessen
Wirken schon Jahrzehnte zurückliegt, der Arzt und Theologe Albert Schweitzer
(1875-1965). Ich fand seine Äußerung zum
Sühne- bzw. Opfertod Christi im Buch Der Glaube eines Ketzers
des deutsch-amerikanischen Philosophen Walter Kaufmann
(1921-1980):
"Nach Schweitzer hat Jesus wie
fast alle Juden seiner Zeit geglaubt, Gott könne aus freien
Stücken einem reuigen Sünder vergeben, ohne dass der
Opfertod Jesu oder sonst eine Vermittlung notwendig sei. Schweitzer
gehört zu den Menschen, »die es mit ihrer
Vorstellung von Gott nicht vereinen können, dass es eines
Opfers bedurfte, um Sünden vergeben zu
können«."
Es folgt der erneute Sprung in die
jüngste Vergangenheit: In seinem 2004 erschienenen Buch Im religiösen
Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der
Kirche beginnt der Theologe Matthias Kroeger
(*1935) den Abschnitt Kritik und Ende der Lehre von der
strafleidenden Genugtuung Christi – …
mit folgender Feststellung:
"Fragt man nämlich, auf
welche Weise das Leben und Sterben des Jesus von Nazareth für
uns von Bedeutung und er »für uns«
gestorben sei, so lautet die letztlich noch immer verbreitete Antwort
der klassischen Theologien im Protestantismus wie im Katholizismus,
Christus habe durch sein Sterben, durch sein »Blut«
als Opferlamm uns vom Banne des Zornes Gottes und von der
Sünde erlöst, für uns die Strafe erlitten
und uns so mit Gott versöhnt, uns das Heil erworben. In
ungezählten Varianten – bis hinein in die
Messopfertheorie der katholischen Kirche – wird diese
Auskunft festgehalten, reihenweise auch in unserem evangelischen
Gesangbuch und in unseren Dogmatiken. Ihr theologischer Zentralbegriff
ist die »Genugtuung« (satisfactio), die Christus
als Opfer am Kreuz mit seinem Blut für uns erbracht habe."
Einige Abschnitte später
fasst Matthias Kroeger seine Position so zusammen:
"Noch die schönsten
Weihnachtslieder und die tiefsten, unersetzlichsten Passionslieder sind
von diesen inzwischen unwahr und kontraproduktiv gewordenen
Absolutheits-, Genugtuungs-, Versöhnungs-,
Präexistenz- und anderen Komplexen durchzogen und geraten
daher – von Jahrfünft zu Jahrfünft
– immer weiter ins Abseits. Es wird Zeit, dass den hier
fälligen Revisionen Bewusstsein und Raum,
kirchen-öffentlicher Raum für erklärte und
legitime Freiheit gegenüber diesen Vorstellungen geschaffen
wird."
Es wäre zu
wünschen, dass zumindest protestantische Theologen in
größerer Zahl Kroegers Auffassung
unterstützten. Dasselbe wünschte ich der Position des
slowakischen evangelischen Theologen Karol Nandrásky
(1927-2016), der in Publik-Forum Nr. 8 · 2008 u. a. Folgendes
sagte:
"Ähnliche Fragen stellen
sich bei den kirchlichen Aussagen über Erlösung und
Heil. Demnach will Gott die Erbsünde auslöschen,
indem er »seinen eigenen Sohn nicht verschonte, sondern
für uns alle dahingegeben hat«, damit er
»versöhnte die Welt mit sich selber«.
Hinter dieser Interpretation des Todes Jesu durch Paulus steht die
Vorstellung eines unbeugsamen, erbarmungslosen Gottes, die
größte Zweifel an der Göttlichkeit eines
solchen Gottes entstehen lässt.
Einige Theologen – so Dietrich Bonhoeffer –
behaupten, dass Gott zusammen mit seinen Geschöpfen leidet. Da
taucht freilich die Frage auf: Was hat der Leidende davon, wenn es Gott
gleichermaßen schlecht geht wie ihm selbst? Die Idee von
Gottes Mitleid ist zwar menschlicher als die Ansicht, dass Leiden eine
»Strafe« sei. Doch die »Verdoppelung des
Leidens« verschärft nur das Problem des Leidens.
Welch ein Gott sollte das sein, der in voller Freiheit ein solches
Weltall erfand, in dem sowohl die Geschöpfe als auch er selbst
leiden?"
Ähnlich
überzeugende Gedanken, wie bei den eben zitierten Autoren fand
ich auch bei der katholischen Theologin Uta Ranke-Heinemann
(*1927). In Ihrem Buch Nein
und Amen – mein Abschied vom traditionellen Christentum
äußert sie sich prägnant, stellenweise
satirisch zugespitzt, über die "Bedeutung des Blutes
für die Erlösung":
"Evangelische und katholische
Christen, in vielem uneins, sind in der Bedeutung des Blutes
für die Erlösung in unerbittlicher
Blutsbrüderschaft verbündet. Auf diese Hinrichtung
legen sie Wert, auf sie wollen sie nicht verzichten. Erlösung
der Menschen ohne Blut ist nach ihnen nicht möglich. Aber was
wäre denn eigentlich geschehen, wenn das Römische
Reich damals unter Kaiser Tiberius schon so human gewesen wäre
wie die Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl oder Gerhard
Schröder und wenn Pontius Pilatus keine Todesstrafe
hätte verhängen können? Wenn Jesus an
Altersschwäche oder Fischvergiftung gestorben wäre?
Wäre dann die Erlösung der Menschheit an der
Humanität der Menschen gescheitert? […]
In dem Bemühen, dem Tod Jesu einen Sinn zu geben, kann man nur
Un-Sinn hervorbringen, weil man eine Tötung rechtfertigen
will, die nicht zu rechtfertigen ist, da überhaupt keine
Tötung je zu rechtfertigen ist und sein wird. Die Berufung auf
Gott und Gottes Willen kann menschliche Verbrechen nicht gerade biegen.
Die Christen sollten nicht einen Galgen verherrlichen, sondern sie
sollten sich sensibilisieren für den Terror der Todesstrafe,
der Kriege, der Gewalt, der Folter, der militärischen
Vergeltungsschläge. Sie sollten, nachdem sie schon die
Tötung Christi nicht mehr verhindern können, ihr
wenigstens nicht noch nachträglich zustimmen. Und sie sollten,
nicht zuletzt um des Todes Christi willen, keines Menschen gewaltsamem
Tod in der Welt zustimmen, sondern jeden Tod, was an ihnen liegt,
verhindern."
Uta
Ranke-Heinemann kritisiert die von evangelischen und
katholischen Christen in seltener Übereinstimmung beschworene
"Bedeutung des Blutes für die Erlösung". Die von ihr
angesprochenen Christen taten und tun dies jedoch nicht ganz
unbegründet. Gibt es doch in dem pseudepigraphen
(Gerd Theißen) Brief an
die Hebräer ein Wort, das ihnen Wegweiser war und
möglicherweise immer noch ist. Im Kapitel 9, das im Bibeltext
der revidierten Fassung von 1984 die Überschrift Das
einmalige Opfer Christi trägt, steht im Vers 22
unmissverständlich:
»22 [...], und
ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung.«
Ich vermag nicht
einzuschätzen, von wieviel heutigen Christen dieses biblische
"Unwort" tatsächlich noch ernst genommen wird. In der
blutgetränkten Geschichte des Christentums hat es mit
Sicherheit eine unheilvolle Rolle gespielt.
Darüber hinaus leiteten
Theologen wohl bis in die Gegenwart u. a. aus der vom unbekannten
Verfasser in Hebr 9 verewigten Glaubensmeinung die Überzeugung
ab, »das einmalige Opfer Christi« sei auch das
letzte Opfer gewesen, das dem «Vatergott»
darzubringen war. Mit diesem letzten Opfer sei der »Neue
Bund« zwischen «Ihm»
und den Christen besiegelt worden, so dass es künftig keiner
weiteren Opfer bedurfte. Damit habe das Christentum die von der
jüdischen Religion - im »Alten
Bund« - ausgeübte Opferpraxis
endgültig überwunden. Der Theologe Klaus-Peter
Jörns (*1939) und andere halten diese
Überzeugung für "anachronistisch". Tatsache ist, dass
das Christentum den tradierten jüdischen Opferritus weder
überwinden musste noch zu seiner Überwindung
beigetragen hat: Er endete abrupt mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die
Römer im Jahre 70. Im Übrigen hatte sich nach Gerd
Theißen (*1943) schon im Judentum "neben dem
Jerusalemer Opferkult ein reiner Wortgottesdienst in den Synagogen
entwickelt". Bleibt nachzutragen, dass die Entstehung des Hebräerbriefes
nicht sicher datiert werden kann. Wahrscheinlich wurde er im letzten
Drittel des 1. Jahrhunderts verfasst.
Zusammenhang
zwischen Opfertheologie und christlicher Gewalt
Sehr wichtig scheint mir, dass ein
weiteres Mitglied der nach wie vor kleinen Gruppe der kritischen
Theologen, der ehemalige Superintendent des Kirchenkreises Wolfsburg, Herbert Koch
(*1942), in seinem 2009 erschienenen Buch Der geopferte Jesus und die christliche
Gewalt den Zusammenhang zwischen der
"Gewaltgeschichte" der (christlichen) Welt und ihren Wurzeln im
christlichen Mythos herstellt. Es würde sich lohnen, diesen
bisher viel zu selten thematisierten Zusammenhang
ausführlicher zu beleuchten. Dies sprengte jedoch leider den
vorliegenden Rahmen. Hier dennoch zwei Zitate aus diesem lesenswerten
Buch:
"John Shelby Spong,
ehemals anglikanischer Bischof und Lehrbeauftragter an der
Harvard-Universität, sieht Gott mit der
Sühnopferlehre »in einen grausamen Akt
göttlichen Kindesmissbrauchs verwickelt … Sie malt
das Bild eines sadistischen Gottes, dem masochistische Kinder
dienen«.
[…]
Die Geschichte der Gewalt im Christentum reicht, wie das amerikanische
Beispiel zeigt, bis in die Gegenwart. Nach neuen Erkenntnissen steht
diese Gewaltgeschichte in engem Zusammenhang mit der kirchlichen
Deutung der Hinrichtung Jesu. Ihr zufolge vollbringt der Gottessohn am
Kreuz das gottgewollte Sühnopfer zum Heil des
sündigen Menschen.
Dieser christlichen Erlösungsvorstellung entspricht ein
Gottes- und Menschenbild, das negative Auswirkungen hat. Sie sind nicht
nur greifbar in historischen Gewaltexzessen bis zu Abu Ghraib und
Guantanamo, sondern ebenso in Krieg überhöhenden
Theologien. Die christliche Erziehungstradition bildet einen Teil
dieser Gewaltgeschichte."
Herbert Koch zitiert in seinem Buch
eine bemerkenswerte Äußerung der Lübecker
Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter
(*1943), mit der sie eine Frage "nach der Lehre über das
Sühnopfer Jesu" beantwortete:
»Der traditionelle
Sühnopfergedanke – die Satisfaktionslehre –
impliziert, dass die Versöhnung Gottes Gewalt erfordere. Das
kann ich theologisch nicht mehr nachsprechen angesichts der
brandaktuellen Gefahr, dass Menschen von daher die Ausübung
von Gewalt ›im Namen Gottes‹ legitimieren. Ich
verstehe, dass Gott, wie Jesus ihn verkündet, auf alle Gewalt
verzichtet.«
Auch der Theologe Klaus-Peter Jörns
bezieht in einem oben verwendeten Zitat Stellung zum Thema Christentum
und Gewalt, wenn er in der "Verbindung von Heil und Gewalt" den
bestimmenden Faktor für die "Wirkungsgeschichte der
Sühnetheologie" sieht. Und weil für ihn das
Christentum "Mitverantwortung trägt" dafür, dass
aufgrund der Wirksamkeit des Sühnegedankens "immer neue
Übergriffe auf das Leben anderer" geschehen, fordert er
"theologische Konsequenzen" – m. E. längst überfällige
Konsequenzen.
Schlussbemerkungen
Während meiner Recherchen,
insbesondere nach dem Lesen der oben zitierten Papiere aus der
jüngsten Vergangenheit, festigte sich bei mir der Eindruck,
dass viele Theologen immer verzweifelter geistige Verrenkungen in Kauf
nehmen, um einen ganz klaren Sachverhalt – Hinrichtung eines
vermeintlichen oder tatsächlichen Aufrührers am Kreuz
nach gängiger römischer Praxis – in ein
Erlösungs- bzw. Heilsgeschehen für die
"sündigen" Menschen umzudeuten. Oder genauer: Diese Theologen
unternehmen nichts, um diese schon im erfundenen neutestamentlichen
Christus-Mythos vollzogene Umdeutung zu revidieren.
Wie kann es sein, noch im 21.
Jahrhundert ganz und gar unkritisch die Heilsbedeutung der
göttlichen Kunstfigur Christus zu predigen, Menschen dazu zu
bewegen an diese zu glauben, ja sogar zu ihr zu beten?
Bei keinem anderen Thema habe ich
die Kluft zwischen dem Bemühen um Rationalität und
der Beibehaltung naiver Mythengläubigkeit so intensiv
empfunden wie hier. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die
linientreuen – oder sich linientreu gebenden –
Theologen etwa jenen zuzurechnen sind, die die Kunst der
"Doppelzüngigkeit" (Walter Kaufmann) pflegen. Jene Kunst, die
es ermöglicht, persönlich etwas ganz anderes zu
glauben, die Gläubigen aber in ihrem "falschen, aber
buchstabengetreuen Glauben" zu bestätigen, solange bei ihnen
»das kritische Bewusstsein unentwickelt oder die
natürliche Leichtgläubigkeit ungebrochen
ist« (Paul Tillich). Oder wie der
Theologe Heinz-Werner Kubitza
es ausdrückte:
"Es verhält sich in
übertragenem Sinne so, als wüssten die Theologen
längst, dass die Erde eine Kugel ist, lobten dennoch den
Glaubenseifer derjenigen, die sie nach wie vor für eine
Scheibe halten."
Es ist vielleicht auch nicht
auszuschließen, dass die linientreuen Theologen und ihre
Kirchenführer zu jenen Vertretern des Christentums
gehören, wie sie etwa der Philosoph und "abtrünnige" protestantische Theologe Helmut
Groos (1900-1996) erlebte, und die bei ihm immer wieder die Frage
auslösten,
"wie es sachkundigen Theologen, darunter
hochbegabte Köpfe, gelehrt, scharfsinnig, ja geistvoll,
möglich ist, sich in voller Kenntnis der Probleme nach wie vor
eine Position zu eigen zu machen und für sie einzusetzen, die
sich mir in ständig erneuter Prüfung als
völlig unhaltbar erwiesen hat."
Ich habe den Eindruck, dass die
linientreuen Theologen und Kirchenführer ihre Klientel
längst falsch einschätzen: Entsprechen doch immer
weniger ihrer Schäfchen dem Bild, das Paul Tillich von ihnen
zeichnete. Mir scheint, dass die Verzweiflung über den sich
beschleunigenden Niedergang ihres Christentums
sie inzwischen in geistige Schockstarre versetzte.
Wer sich intensiver mit dem
"Sühnetod Christi" und mit den einschlägigen
theologischen Aussagen dazu befasst hat und für
archaisch-infantile Versöhnungs-, Heils- und
Erlösungsfantasien nicht oder nicht mehr
empfänglich ist, dem muss das alte Sprichwort »viele
Worte und nichts dahinter« als sehr plausibel
erscheinen.
Mir kommt ganz
unwillkürlich ein Wort des Theologen Franz Overbeck
(1837-1905) in den Sinn. Er hatte es zwar mit Blick auf den
alttestamentlichen jüdischen Stammesgott formuliert, doch es
lässt sich m. E. ganz unverändert auf
»Christus«, den neuen Gott
des Christentums übertragen:
"Diese Geschichte hat dieser Gott,
wie alle seinesgleichen die ihrige, nur in den Köpfen seiner
Verehrer erlebt."
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